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Herausforderungen an die Sozialdemokratie

Uli Schöler, Jurist und habilitierter Politikwissenschaftler mit zeithistorischem Schwerpunkt, hat Aufsätze, Rezensionen und Vorträge aus über drei Jahrzehnten in einem Sammelband unter dem Titel Herausforderungen an die Sozialdemokratie neu publiziert. Die Beiträge sind um die Frage zentriert, was eine theoretisch reflektierte und zugleich gewissermaßen lebensnahe sozialdemokratisch-sozialistische Position im 20. Jahrhundert ausgemacht hat und heute ausmachen könnte.

Der Autor ist der Meinung, dass man die aktuellen Probleme der Sozialdemokratie bzw. der Gesamtlinken nicht ohne intensive und allseits kritische (auch selbstkritische) Beschäftigung mit der Geschichte der betreffenden Partei(en) bzw. der sozialen Bewegungen, namentlich der Arbeiterbewegung, sinnvoll diskutierten kann. Natürlich besteht die Hauptaufgabe einer politischen Formation nicht darin, sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen, aber gerade die Sozialdemokratie ist ohne ihre »durchaus widersprüchliche« Historie schlechterdings nicht zu verstehen. Beim 150. Parteijubiläum 2013 sei indessen, so kritisiert Schöler, »nur selten der Versuch spürbar« gewesen, diese »im Sinne eines inhaltlichen oder gar programmatischen Auftrages zu interpretieren. Sie wurde gewissermaßen als abgeschlossene präsentiert, wobei sich aus der bloßen und sicher stolzen Fortexistenz über eineinhalb Jahrhunderte bis heute bereits der Anspruch auf aktuelle gesellschaftliche Mitgestaltung (sprich Mitregierung) zu legitimieren schien«.

Vor allem Schölers ausführlichere Texte gehören aus meiner (auch fachwissenschaftlichen) Sicht zu dem Besten, was diesbezüglich an Analysen und Reflexionen vorliegt; das gilt auch für die vor längerer Zeit verfassten Arbeiten, die naturgemäß nur den jeweils gegebenen Forschungsstand einbeziehen konnten. Überholt oder verstaubt wirkt hier so gut wie nichts. Selbst wenn man einen Teil der Beiträge früher schon einmal zur Kenntnis genommen hat, liest man sie im Ensemble gerne neu. Als angemessen und sympathisch sei besonders die Art und Weise der Auseinandersetzung mit Standpunkten – sei es von Akteuren des Sozialismus, sei es von anderen Verfassern – hervorgehoben, die der Autor nicht teilt oder gar vehement ablehnt: streng sachlich, weitgehend ohne Polemik, erklärend, wie dieses und jenes zustande gekommen ist oder sein könnte, nötigenfalls auch einmal scharf kritisierend, nicht zuletzt überaus kenntnisreich (und auch für den interessierten Laien verständlich) informierend, wo ansonsten oft Klischees und simple Pauschalurteile vorherrschen. Und er interessiert sich für reale, lebendige – und das heißt notwendigerweise: nicht perfekte – Menschen, wobei es ihm vor allem die eigenständigen, oft mit den großen Parteiapparaten in Konflikt geratenen Denker und Akteure angetan haben.

Nach der inhaltlichen Einleitung geht es in den folgenden Texten um theoretische bzw. konzeptionelle Grundfragen: im Anschluss an Karl Marx und Vertreter des »Marxismus« (ein Ausdruck, den Schöler eigentlich am liebsten eliminieren würde, weil er die Unfertigkeit und teilweise innere Widersprüchlichkeit des Marx’schen Werks und allemal dessen unterschiedliche bis diametral entgegengesetzte Lesarten vergessen macht und eine nicht vorhandene Hermetik suggeriert). Wer wissen will, was es im Ursprung mit der Formel der »Diktatur des Proletariats« im Verhältnis zur Demokratie bei Karl Marx und Friedrich Engels einerseits, Wladimir Iljitsch Lenin andererseits auf sich hat, wird auf knappem Raum gut informiert. Neben der anregenden Konfrontation der Marx’schen Zentralkategorie der »kapitalistischen Produktionsweise« mit der Analyse der Entwicklung des Kapitalismus aus den Marktbeziehungen seit dem Spätmittelalter durch den französischen Historiker Fernand Braudel enthält das zweite Kapitel auch einen aufschlussreichen Vortrag aus dem Jahr 2000 über die Aktualität und Zukunft des Marx’schen Denkens.

Das Fazit lautet, »dass Marx und Engels eine in großen Teilen immer noch zutreffende Analyse kapitalistischer Produktionsabläufe liefern, aus denen allerdings – vor dem Hintergrund der Erfahrungen unseres Jahrhunderts – keine tragfähigen Transformationsvorstellungen entwickelt werden«. Damit widerspricht Schöler auch entschieden Vorstellungen, der Zusammenbruch des sogenannten »realen Sozialismus« im Osten Europas würde diejenigen an Marx orientierten sozialistischen Strömungen unberührt lassen, die sich unabhängig vom Sowjetkommunismus und Maoismus gehalten oder diesen oppositionell gegenübergestanden haben und meinen, allein die »richtigen«, »gereinigten« Deutungen der »Klassiker«-Schriften würden den Weg weisen.

Im Anschluss thematisiert der Autor das große Schisma der sozialistischen Arbeiterbewegung, namentlich unter dem Gesichtspunkt der Folgen der Oktoberrevolution für die Sozialdemokratie, wobei einer der Aufsätze dem Berliner Exil der 1917 in Russland unterlegenen, weiterhin kluge Analysen der dortigen Entwicklung liefernden Menschewiki gewidmet ist, von denen dann einige eine wichtige Rolle in der SPD spielten. Es lohnt sich eben auch, die Verlierer der Geschichte in den Blick zu nehmen. Den roten Faden des Kapitels bildet das Verhältnis von Sozialismus und Demokratie und unter diesem Aspekt die zu wenig bekannte Tradition sozialistisch-marxistischer Kritik am bolschewistischen Weg.

Die Beiträge des vierten Kapitels behandeln an mehreren Beispielen das Phänomen eines weder dem Parteikommunismus noch der sozialdemokratischen Mehrheitsströmung zuzurechnenden spezifischen deutschen Linkssozialismus vor 1933 und nach 1945, der schon im vorangegangenen Kapitel zur Geltung kommt. Auch die im folgenden Kapitel versammelten biografischen Miniaturen sind – von Rosa Luxemburg bis Peter von Oertzen – diesem breiten Spektrum zuzuordnen.

Im weiteren Verlauf des Buches geht es in unmittelbar politischer Absicht um Herkunft und Zukunft der Sozialdemokratie, beginnend mit einem Aufsatz von 1988 über die politische Relevanz von Organisationsfragen – nicht nur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als sich die russische Sozialdemokratie darüber spaltete. Im Hinblick auf die SPD der späten 80er Jahre wird vor allem der Satellitenstatus des Parteivorstands gegenüber der Bundestagsfraktion (und man darf hinzufügen: den sozialdemokratisch geführten Bundesministerien und Länderregierungen) kritisiert – eine überaus aktuelle Problemstellung. Den das Buch abschließenden Artikel von 2003 über die »Politik und das Elend der Demoskopie« wünscht man sich übrigens als Pflichtlektüre für alle wichtigen parteipolitischen Entscheidungsträger (nicht nur die der SPD).

Neben klug abwägenden Artikeln über das Internet und über die Herausforderung durch den Islam (aus Anlass der Kontroverse über die Mohammed-Karikaturen einer dänischen Zeitung im September 2005) finden sich zwei Beiträge, die auf die politische Orientierung der Sozialdemokratie im frühen 21. Jahrhundert zielen. Einer von ihnen umreißt sieben Felder der vom Finanzmarkt getriebenen, technologisch ermöglichten Globalisierung und benennt die politische Verantwortung und die Notwendigkeit der solidarischen Gestaltung. Der andere skizziert die »Zähmung« des Kapitalismus als derzeit einzig realistische Perspektive sozialdemokratisch-sozialistischer Politik (wobei die Perspektive einer qualitativ veränderten solidarischen Gesellschaft der Freien und Gleichen = Sozialismus nicht aufgegeben wird). Angesichts der andauernden dramatischen Wandlungsprozesse in fast allen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Bereichen könne seriös derzeit kein kompletter alternativer Gesellschaftsentwurf vorgelegt werden. Umso wichtiger seien »Leitbilder mittlerer Reichweite«, so etwa das einer solaren »Effizienzrevolution«, eines umlagefinanzierten Sozialstaats und eines demokratischen und sozialen Europa.

Der vorliegende Sammelband ist ein durchaus gelungenes Unterfangen.

Uli Schöler: Herausforderungen an die Sozialdemokratie. Klartext, Essen 2016, 440 S., 29,95 €.

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