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Hermann Heller für Europa!

Die Würfel sind gefallen. Die Europäische Kommission tritt ihr Mandat an. Die neuen Kommissarinnen und Kommissare werden im November ihre Brüsseler Büros beziehen und von dort aus die Geschicke der Union maßgeblich prägen. In ihren Büros wird die ein oder andere Lektüre auf sie warten. Gewiss die EU-Verträge und Kürschners Handbuch Europäisches Parlament, vielleicht auch die letzte Ausgabe des Europäischen Gesetzblatts. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird sich aber kein Schriftstück von Hermann Heller unter der Lektüre der neuen Kommissarinnen und Kommissare finden. Und das ist misslich, denn: Hellers Ideen zu einem sozialen Rechtsstaat sind für die Europäische Union von höchster Aktualität.

Wer aber war Hermann Heller? Er gehörte zu den bekanntesten Staatsrechtlern der Weimarer Republik. Heute ist sein Name selbst in der Fachöffentlichkeit wenig bekannt. Hans Kelsen oder Carl Schmitt sind für diese Phase der Rechtswissenschaft eher in Erinnerung geblieben.

Hermann Heller wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert im damals habsburgischen Ort Teschen an der Olsa geboren. Er stammte aus einer jüdischen Anwaltsfamilie und studierte u. a. in Wien und Kiel Rechts- und Staatswissenschaften. Als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg erkrankte er an der russischen Front an einem Herzleiden, welches ihn zeitlebens begleitete und zu seinem frühen Tod beitrug.

Er verortete sich klar in der sozialdemokratischen Bewegung, allerdings mit deutlicher Skepsis dem Marxismus und auch dem Internationalismus der Partei gegenüber. Ferdinand Lassalle, einer der charismatischen Gründer der Partei, faszinierte ihn, nicht zuletzt wegen seiner Auffassung des Staates. Heller sah in Lassalle jemanden, der Hegels Idee des Staates aufgriff, mit welcher er wesentlich mehr anfangen konnte als mit der marxistischen Analyse, dass der Staat nur Instrument der jeweils herrschenden Klasse sei. Heller betrachtete – im Anschluss an Lassalle – den Staat als den entscheidenden Hebel, um das Zusammenleben der Menschen zu regeln.

In der Staatslehre Hellers ging es entsprechend immer um die reale Wirkung des Staates. Er zeichnete sich so in den 20er Jahren durch ein innovatives Zusammendenken von Staatsrechtslehre, Soziologie und Politikwissenschaft aus, das heute noch inspirierend ist. Es ging Heller keineswegs nur um Staatstheorie am grünen Tisch, sondern immer auch um die reale gesellschaftliche Wirkung des Staates, um seine Dynamik und sein Funktionieren, mithin um eine enge Verbindung von Theorie und Praxis.

Heller gehörte zu den wenigen Verteidigern der Weimarer Republik. Während des Kapp-Putsches 1920 – einem konservativ-monarchischen Versuch, die junge Demokratie zu Fall zu bringen – war Heller zusammen mit Gustav Radbruch daran beteiligt, den Widerstand der Arbeiter zu organisieren. Sein Todesurteil war bereits unterzeichnet, nur das Scheitern des Putsches rettete ihm das Leben. Später setzte er sich leidenschaftlich mit Carl Schmitt auseinander, der einer der rechtspolitischen Steigbügelhalter der Nationalsozialisten wurde.

1933 ging er unmittelbar nach einer Vortragsreise in London und Oxford ins spanische Exil. In Madrid konnte er noch kurze Zeit als Gastprofessor wirken, bevor er am 5. November 1933 starb. Seine Staatslehre, an der er bis zuletzt arbeitete, blieb unvollendet.

Keine Demokratie ohne soziale Homogenität

Ein verdientes Leben, gewiss. Aber was hat Heller mit Europa zu tun? Zwei seiner miteinander zusammenhängenden Gedanken sind für die europapolitische Debatte der Gegenwart besonders spannend: die Vorstellung sozialer Homogenität und die des sozialen Rechtsstaats.

Ein Mindestmaß an sozialer Homogenität ist nach Heller entscheidend für funktionierende Demokratien. Gerade als Beobachter der realen Verhältnisse innerhalb eines Staates kam er zu dem Schluss, dass nur auf der Basis einer gerechten Chancen- und Güterverteilung ein fairer Willensbildungsprozess gelingen kann. Im Staat geht es immer darum, die unterschiedlichen Interessen in der Gesellschaft in einem Konsens zusammenzuführen und so staatliche Einheit herzustellen. In Staaten bzw. Gesellschaften aber, in denen eklatante soziale Unterschiede bestehen, sind nicht für alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Chancen gegeben, ihre Interessen einzubringen. Wer real gleiche Chancen für alle Interessen erreichen will, der muss die wirtschaftliche Übermacht Einzelner aufheben und jedem die Möglichkeit zu einer Entwicklung entsprechend seiner persönlichen Fähigkeiten und nicht entsprechend seiner ökonomischen Situation geben. Kurzum: Ohne soziale Homogenität bleibt die Demokratie nur formal, nicht real. Dabei kommt es Heller nicht auf eine gesellschaftliche Verteilung an, die alle Unterschiede einebnet. Im Gegenteil betont er, dass es nicht um absolute Gleichheit geht, sondern nur um »relative, immer nur in gewissen Beziehungen vorhandene, verhältnismäßige Gleichheit«. Aber: Ohne diese relative Gleichheit könne es keine tatsächlich gleichberechtigte Verhandlung unterschiedlicher Interessen geben. Demokratie hat nach Heller also nicht nur eine formale, sondern auch eine materielle Komponente.

Aus diesen Überlegungen leitet sich die Idee eines sozialen Rechtsstaats ab. Heller argumentierte, dass der bürgerliche oder liberale Rechtsstaat in einen sozialen Rechtsstaat weiterentwickelt werden müsse und die »Ausdehnung des materiellen Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeits- und Güterordnung« erfolgen müsse. Soziale Ansprüche sollten nach Hellers Vorstellung mit einem Rechtsanspruch verbunden sein. Soziale Sicherheit kann von jedem nicht nur erbeten, sondern eingefordert und – wenn es sein muss – sogar eingeklagt werden. Der »reine Rechtsstaat (würde so) zum demokratisch-sozialen Wohlfahrtsstaat«. Nur auf dieser Grundlage könne eine echte, gleichberechtigte Willensbildung erfolgen und somit staatliche Einheit hergestellt werden.

Heller starb zu früh, um eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern um sich herum zu bilden, die seine Ideen hätten weitertragen können. Während des Dritten Reichs wurden seine Überlegungen bewusst ausgeblendet. Umso erstaunlicher ist es, dass er in der Nachkriegsphase dennoch nicht vergessen wurde. Im deutschen Grundgesetz ist das Sozialstaatsprinzip in Artikel 20 unter anderem von Heller inspiriert. Moderne Theorien Sozialer Demokratie beziehen sich auf ihn. Und zumindest bis in die 80er Jahre hinein gab es immer wieder Sammelbände, Monografien und Aufsätze, die sich mit ihm befassten. Inzwischen ist es allerdings still um ihn geworden. Zu Unrecht, denn seine Ideen zum sozialen Rechtsstaat und zu sozialer Homogenität sind hoch aktuell, nicht zuletzt für die europäische Integration.

»Ach, Europa«

Der Zustand der europäischen Einigung ist bescheiden. Krisen scheint es allenthalben zu geben: die Eurokrise, die Finanzkrise, wachsende Zweifel an der liberalen Demokratie, die Unfähigkeit, sich in wichtigen Fragen der Migration oder der Steuergestaltung zu einigen. Über allem – und oft damit verbunden – schwebt eine gravierende soziale Spaltung des Kontinents. Sowohl innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten, als auch zwischen den Ländern gibt es – trotz geringer Verbesserungen in den letzten Jahren – erhebliche soziale Unterschiede. Dabei ist vor allem ein deutliches Nord-Süd- und West-Ost-Gefälle sichtbar. Während das Nettoeinkommen in Dänemark durchschnittlich bei über 2.900 Euro liegt, beträgt es in Bulgarien weniger als 500 Euro. Eine gleichberechtigte demokratische Aushandlung von Interessen innerhalb der EU ist vor dem Hintergrund dieser deutlichen ökonomischen Ungleichgewichte nur schwer vorstellbar.

Zugleich sind die Instrumente der EU, sozialen Ausgleich herzustellen, vergleichsweise schwach ausgeprägt. Von Anfang an als Projekt der ökonomischen Integration angelegt, standen historisch immer marktschaffende Integrationsschritte im Vordergrund. Fritz W. Scharpf hat in diesem Zusammenhang von »negativer Integration« gesprochen. Neue (auch soziale) Standards aufbauende Integrationsschritte – also positive Integration – waren demgegenüber häufig nachgelagert und weniger verbindlich. In den vergangenen Jahren wurde dieses Defizit häufiger thematisiert und mit verschiedenen Maßnahmen zumindest angegangen. Doch auch die neu entwickelten Instrumente wie etwa die Europäische Säule sozialer Rechte bleiben vor allem eins: unverbindlich. Zwar werden mit ihr eine ganze Reihe sozialer Ziele definiert. Bei Nichterreichen oder Nichteinhalten der Ziele sind aber keinerlei Sanktionen vorgesehen.

Vor diesem Hintergrund gewinnen die Überlegungen Hellers neue Aktualität und zugleich große Bedeutung für die Europäische Union. Seinem Argument folgend wird sich keine tatsächlich gleichberechtigte Demokratie in Europa herausbilden können und keine europäische Einheit entstehen, wenn nicht mittels der EU mehr sozialer Ausgleich erreicht wird. Konkret würde das bedeuten, einklagbare soziale Rechte in weit größerem Umfang als bisher auch auf europäischer Ebene zu verankern, den Anwendungsbereich des Europarechts weit mehr als bisher auf die soziale Dimension zu beziehen und Europa zu einer »Europäischen Sozialunion« (Frank Vandenbroucke) weiterzuentwickeln.

Es kommt darauf an, Hellers Ideen sozialer Homogenität und sozialer Rechtsstaatlichkeit zeitgemäß fortzuschreiben und auf die EU zu beziehen. Dabei ist klar, dass eine Eins-zu-eins-Übertragung der für die Weimarer Republik entwickelten Ideen auf die EU nicht haltbar wäre. Zunächst weist die EU zwar Züge von Staatlichkeit auf, sie ist aber kein Staat im klassischen Sinn. Darüber hinaus sind die Strukturen dieses Mehrebenengeflechts komplexer als nationalstaatliche Strukturen und die verfassungsrechtlichen und -praktischen Traditionen machen die Etablierung stärkerer sozialer Rechte auf europäischer Ebene schwierig. Aber: Wer will, dass die EU zu einer tatsächlichen Einheit wird, dass sich eine tatsächliche Demokratie auf europäischer Ebene entwickelt und dass sich ein fairer Willensbildungsprozess auch auf europäischer Ebene entfalten kann, der muss das Denken Hellers auf die EU beziehen. Also gilt: Hermann Heller für Europa!

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