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Hier in meiner kleinen Geborgenheit

Die Luft um mich herum ist mehr als nur verschmutzt. Der aufgewirbelte Staub, der mittlerweile genauso zu Tschetschenien gehört wie die russischen Panzer, die ihn verursachen, scheint sich, kaum, dass man atmet, in den Lungen abzusetzen.

Meine Augen brennen, und ich halte die Hände fest in meinen Koffer und meine in etwa gleich große Tochter verhakt. Sie ist erst drei Jahre alt. Ich versuche nicht in Panik zu verfallen, als man uns wieder einmal drinnen im Flughafen aufhält, bloß um mitzuteilen, dass mein Gepäck das Gewichtsmaß überschreitet und ich draufzahlen muss. Daran sind die Bücher schuld, die ich, wie eine von allen Sinnen Verlassene, in meiner kleinen Wohnung in Grosny herumirrend, zusammengestopft habe.

Meine Tochter mag diese Verzögerung nicht. Sie benimmt sich anständig, das schon, aber die Art, wie sie die Augen und den Mund zusammenzieht, als müsste sie in die Sonne starren, und dass sie nicht weiß, wohin sie ihre Hände wandern lassen soll, verraten mir, dass ihr alles allmählich zu bunt wird. Mir auch.

Ich denke an unseren letzten Flug. Sie hatte sich damals lautstark geweigert, ins Flugzeug zu steigen. »Sie schmeißen Bomben!«, hatte sie immer wieder geschrien. Sie wusste einfach nicht, dass es Flugzeuge auch zum Transport gibt, nicht nur zum Bombenwerfen. Das, was sie zu gut wusste, was sie täglich umgeben hatte, war der unbeschreibliche Lärm, den viele Kriegsfilme zu kopieren versuchen, die es aber niemals schaffen werden, die gleichen Gefühle hervorzurufen, die meine Tochter schon mit drei Jahren kannte, als sie lernte, in jedem Flugzeug ein Monster und in jedem Piloten einen Mörder zu sehen. Wir waren eingepfercht in eine winzige Mulde und drohten wie Ameisen zerdrückt zu werden. Ein Kollateralschaden waren wir, nicht mehr. Lärm, Krach, aufschrecken, in Panik geraten, sich beruhigen, bangen, hoffen, verzweifeln, wieder und wieder der Lärm der Bomben, die zynischen Grimassen der Soldaten.

Noch eine halbe Stunde. Ich flüchte nach draußen in die kühle Novemberluft, die Tochter gedankenlos mitzerrend. Sie ist verwundert, beschäftigt sich aber sofort wieder mit der Welt um sie herum. Ich kann das nicht. Ich darf nicht laut schluchzen und nicht meine Kiefer gegeneinander malmen. Das Kind späht seelenruhig in ein Gebüsch. Ihre hellblonden Stirnfransen sollten wieder nachgeschnitten werden. Sie ist eine Meisterin des Selbstbeschäftigens, an allem findet sie Interesse und Gefallen. An Steinen, Gebüschen, Wasserhähnen und ganz besonders an Fragen, die sie wie auf Kommando abrufen kann. Woher nimmt sie ihr Interesse? Ich will, dass sie die Welt entdeckt und ihre Neugier niemals verliert. Gleichzeitig krampft sich mir das Herz zusammen. Dieser Tag, dieser Flughafen, das Einsteigen ins Flugzeug werden ihr Leben für immer prägen. Was werde ich antworten, wenn sie irgendwann nach dem Warum fragt?

Ich fühle mich nicht leer und mutterseelenallein, nachdem wir in München in dieser fremden Wohnung zurückgelassen worden sind. Neben mir sitzt nämlich ein kleiner Mensch, der sich mit großen Augen umsieht. Die sterilen Gegenstände, die fremden Sachen, die minimalistische Einrichtung lösen ein seltsames Gefühl aus, keine Angst, aber doch etwas Mulmiges, Unfassbares, als hätte ich hier nur für eine Nacht Zuflucht gefunden, weil es zu spät war fürs Weiterreisen, oder weil die nächtliche Ausgangssperre begonnen hat, und ich an die erstbeste Haustür geklopft und um Quartier gebeten habe. Mit dem Eintreten der Dunkelheit ist das Reisen verboten, die Soldaten sind berechtigt auf jeden, der versucht, nach 18 Uhr die Kontrollposten zu passieren, ohne Vorwarnung zu schießen.

Nichts erinnert hier an meine mit allen möglichen Möbeln zusammengestückelte Wohnung, in der ich mich wie in einer Falle hingekauert habe – in den kurzen Nächten, in denen ich dort war, denn tagsüber zu Hause zu sein war nicht ratsam. Es war gefährlich. Und stets laut vom Klopfen der Besucher, die alle wollten, dass ich über ihre verschleppten, getöteten, spurlos verschwundenen Verwandten berichte.

Doch an diesem Abend sitze ich zusammengesunken, erschöpft auf dem Sofa in der Münchner Wohnung. Meine Tochter hockt neben mir. Im gedimmten Licht lässt sie abwechselnd die Beine baumeln, hat ihren Mund weit offen und streift, wenn ihr das Schweigen dann doch zu langweilig wird, Muster in den Teppich. Ich bekomme Gänsehaut und bitte sie, damit aufzuhören. Sie schmollt nicht einmal, springt ungeschickt auf und stapft zum Fenster, kommt aber nicht rauf. Ich folge ihr stillschweigend mit den Augen. Ich streiche mir mit der Hand über meine von einem dünnen Schweißfilm überzogene Stirn. Ich sollte meine Familie benachrichtigen. Doch das geht nicht. Es gibt keine Möglichkeit, mit ihnen zu telefonieren. Das wievielte Mal brach ich meiner Mutter das Herz? Wie viele ihrer Gedanken kreisten um mich? Wie viele Gebete hat sie meinetwillen über die Lippen gebracht?

Ich bin zwar sehr müde, nun, da der Stress abgefallen ist, und bin auch benommen, doch wenigstens in Sicherheit. Sie dagegen steckt noch immer dort, hat nur sich, niemand anderes schaut nach ihr. Ich bin es, die für sie beten sollte, dabei bangt sie um mich. Womit verdienen die Menschen ihre Schicksale? Gibt es überhaupt so etwas wie Schicksal? Oder ist das alles bloß eine Reihe willkürlich aufeinanderprallender Zufälle? Es dreht mir den Magen um – vor Angst, vor Schuldgefühlen, vor Ungewissheit. Vielleicht auch wegen dieser unerträglichen Stille um mich herum. Ich schlucke die Magensäure hinunter. Mir ist übel.

Plötzlich habe ich das Gefühl, wieder klarer denken zu können, als meine Tochter an mich herantapst und mir einen dicken Kuss auf die Wange schmatzt. Sie fängt an, sich mit Klatschen zu beschäftigen, und brabbelt russische Reime aus dem Kindergarten in Grosny vor sich hin. Sie hat nicht so genau verstanden, wohin wir gereist sind, wie weit es von zu Hause ist und für wie lange wir weg sein werden. Deutschland oder »Girmani«, wie sie sagt, ist nur ein Wort, ein Ortsname, wie ein Nachbardorf, in dem man zu Besuch ist. Sie hat aber die Unruhe gespürt, die diese Reise begleitet hat, und sich irgendwie an sie angepasst. In der Stille der Wohnung, in der Nacht, die mir so vorkam, als würde sie nie enden, wurde mir erstmals klar – ohne meine Tochter hätte ich keine Kraft, das Ganze durchzumachen, keine Kraft und keinen Willen weiterzugehen, mich voranzutreiben, mich selbst aufzumuntern. Sie hat sich auf mich verlassen. Ich muss diesem Vertrauen gerecht werden.

Die Vorstellung, hier, an diesem fremden Ort, an dem niemand meine Sprache spricht, ohne erkennbare Perspektiven für ein Kleinkind sorgen zu müssen, überwältigt mich. Der Angstschweiß bricht aus. Nur schwer kann ich mich zurückhalten loszuweinen. Das ist deine Entscheidung, nicht ihre, sage ich mir wieder und wieder, du hast sie getroffen, du hast es ihr eingebrockt, du darfst ihr nichts aufbürden.

Muss so mein Leben in Zukunft ausschauen? Würde ich immer damit kämpfen müssen, mein Leben einem Fremden zu schulden, der so erbarmungsvoll war, mich doch nicht zu erschießen? Muss ich immer an sein Gesicht denken?

Gedankenverloren streichen meine Finger weiter mein Gesicht entlang, und dann gebe ich mir einen Ruck, stehe auf. Einfach so. Fürs Erste. Bleibe unschlüssig im Zimmer stehen, während meine Tochter mich zuerst beobachtet und dann anfängt draufloszuquasseln: »Warum ist es draußen schon so dunkel? Ist die Sonne böse mit uns?« Und dann kommt es. Ob die Wolken der Sonne eine Nachricht bringen würden, fragt sie mich. Verdutzt schaue ich sie an und erhalte daraufhin die Antwort: »Du hast doch im Flugzeug gesagt, die Wolken können von uns schöne Grüße nach Tschetschenien ausrichten! Glaubst du, das würden sie auch bei der Sonne tun? Ich mag keine Dunkelheit.«

Ich muss loslachen. Sie schaut mich triumphierend an, und wir lachen zusammen, während ich sie in meinen Armen wiege. »Warum nicht? Wenn du sie höflich fragst, werden sie schon die Sonne überreden.« Sie ist erleichtert und macht mich nach: »Warum nicht? Warum nicht?« Ich schaue in die Küche und frage sie, die ihre höflichste Miene aufgesetzt hat, um Wolken anzusprechen, ob wir was essen wollen. Ich lotse sie in die Küche, und wir essen gemeinsam. Ich sitze hier nicht alleine. Meine Tochter ist bei mir. Wir sind in Sicherheit.

Mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, bringen wir einen Auszug aus einer Erzählung von Maynat Kurbanova, erschienen in der Anthologie »Zuflucht in Deutschland«, die Beiträge von Autorinnen und Autoren des Writers-in-Exile-Programms des deutschen PEN-Zentrums versammelt. Maynat Kurbanova wird im Rahmen der Leipziger Buchmesse am 24. März 2017 mit Johano Strasser, NG|FH, und Josef Haslinger, Präsident des PEN, über Literatur im Exil sprechen. »Zuflucht in Deutschland. Texte verfolgter Autoren« erscheint am 16. März 2017 im Fischer Taschenbuch Verlag.

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