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China, Indien und das Bollywood-Kino Hindi Chini Bhai Bhai? *

[* Der Titel bezieht sich auf die alte politische Tradition des Hindi Chini Bhai Bhai – »Indien und China sind Brüder«. Diese Tradition endete mit dem Indisch-Chinesischen Grenzkrieg von 1962, in dem China Indien besiegte. Aufgrund der Öffnung der Märkte nähern sich die ehemaligen Freunde jetzt erneut an.]

Das Bollywood-Kino, Indiens Mainstreamkino, in Bombay auf Hindi produziert, hat Einfluss auf die indische Gesellschaft und spiegelt sie gleichermaßen. Die Filme, die nach der klassischen »Masala-Formel« aus Romantik, Action, sechs Songs und einem Happy End gestrickt sind, also die klassischen indischen Filme, zielen in erster Linie auf das riesige indische Publikum. Allein im Land selbst leben rund 1,2 Milliarden Menschen, dazu kommen viele Exilinder/innen in der ganzen Welt. Einen Markt dieser Größe findet man selten.

Einige Fakten: Bollywood produziert die meisten Filme der Welt. 2017 wurden in Indien 1.986 Spielfilme hergestellt. Frankreich etwa produzierte in demselben Zeitraum nur 177 Filme und Großbritannien nur 130 (wenn man von Koproduktionen mit Hollywood absieht) – nicht einmal ein Zehntel der indischen Produktion. Indien ist zudem das einzige Land, in dem Filme in 43 verschiedenen Sprachen und Dialekten gedreht werden (Stand 2017), z. B. auf Hindi, Tamil, Telugu, Malayalam, Bengali, Marathi. Und während Hollywood das regionale Kino weltweit zerstört, spielt es im indischen Filmmarkt nur eine sehr kleine Rolle. Die Filme aus Kalifornien haben hier einen Marktanteil von nur knapp 10 %. Und das obwohl das amerikanische Kino seit 100 Jahren versucht, den indischen Markt zu erschließen und seine teuren Produktionen auf Englisch, Hindi, Tamil und Telugu veröffentlicht.

Natürlich sind Gesang und Tanz die Alleinstellungsmerkmale des indischen Kinos und Bollywoods, so wie die Martial Arts das Kino Hongkongs definieren. In der Darstellung von Gesang und Tanz steckt eine unglaubliche Kunstfertigkeit: Der oder die Filmschaffende muss songtexten, komponieren, choreografieren, die Kamera führen und den Film schneiden können. Ich fordere jede/n Regisseur/in dazu auf, es einmal zu versuchen, einen Song wie »Chhaiya Chhaiya« aus der spektakulären Eröffnungsszene von Mani Ratnams Dil Se mit derselben Intensität und Ausdruckskraft zu inszenieren – mit Tänzerensembles auf einem fahrenden Zug.

Der Einfluss Bollywoods auf die indische Gesellschaft hat viele Facetten. Viele Verbrechen in der echten Welt, bis hin zu Raubüberfällen, Morden und Sexualdelikten werden von den Filmen beeinflusst. Im Film verschwimmen die traditionellen Rollen von Held und Anti-Held, der Gute in der Geschichte ist häufig auch gleichzeitig der Böse. Einige der Filmstars sind schon im realen Leben kriminell geworden, wurden aber weiterhin leidenschaftlich von ihren Fans verteidigt. Bei einigen gelten gar andere Maßstäbe. So wurde der Schauspieler Salman Khan fast immer freigesprochen oder kam mit verhältnismäßig geringen Strafen davon, wenn man einmal die Vorwürfe gegen ihn betrachtet: Er wurde zwar z. B. zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er 2002 mit seinem Auto in Mumbai fünf schlafende Obdachlose überfahren haben soll, von denen einer starb und vier schwer verletzt wurden; Khan verbrachte aber nur 18 Tage im Gefängnis, bevor er freigesprochen wurde. In einem anderen Fall wurde er von einem Gericht in Jodhpur zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er 1998 zwei vom Aussterben bedrohte Hirschziegenantilopen getötet haben soll. Er verbrachte davon aber letztlich auch nur zwei Nächte im Gefängnis. Die öffentliche Sympathie für diesen »Man-Boy« ist so groß, dass sich sogar das Recht beugt. Der beliebte Bollywood-Star und Frauenheld Sanjay Dutt, berühmt für seine Alkohol-, Kokain- und Heroinsucht, saß bis 2016 fünf Jahre im Gefängnis wegen illegalen Besitzes eines Sturmgewehrs AK-56, das er von den Terroristen gekauft haben soll, die bei dem Bombenattentat 1993 in Mumbai 257 Menschen getötet hatten. Sein Leben wird nun im Bollywood-Film Sanju glorifiziert, in dem Dutt von einem anderen Bollywood-Star, Ranbir Kapoor, verkörpert wird. Der Film soll noch 2018 erscheinen. Gleichzeitig wurden im südindischen Staat Tamil Nadu eine Reihe von Filmstars und Drehbuchautoren zu Ministern gemacht, unter anderem M. G. Ramachandran (»MGR«), J. Jayalalithaa und Mutuvel Karunanidhi.

Indische Filme haben immer die Wünsche und Hoffnungen des Publikums angeregt. Das ist vor allem in letzter Zeit der Fall, da sich die traditionellen Genres »Indie« und »Mainstream« immer mehr vermischen und daraus ein neues Genre entsteht, das ich »Mindie-Film« nenne. Diese Filme sind meist mit Bollywood-Stars besetzt, enthalten auch Gesang und Tanz, aber befassen sich mit realistischen Themen. Aufgrund ihres Realismus erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer engeren Verbindung mit ihrem Publikum. Ein Beispiel hierfür ist der Film Kapoor & Sons von 2016, der zwar auch Lieder und Tanzsequenzen enthält, sich aber mit den Themen Homosexualität und Ehebruch auseinandersetzt. Oder aber Vikas Bahls Queen, ein feministischer Film über eine Frau, die alleine eine Hochzeitsreise nach Paris unternimmt. Oder auch Sanjay Leela Bhansalis Bajirao Mastani, der eine historische Liebesbeziehung zwischen dem verheirateten, aus dem mittelindischen Maharashtra stammenden, Hindu Peshwa Bajirao-I und Mastani, einer halb-muslimischen Kriegerprinzessin, erzählt. Neben den Liedern und Tänzen ragt hierbei die vorzügliche Kameraarbeit heraus, beachtenswert ist aber auch der politische Mut, in Zeiten von rechtem Nationalismus und indischem Kommunalismus, eine säkulare Beziehung zu erzählen.

Natürlich gibt es im indischen Kino aber auch eine lange Tradition des realistischen Independent-Films. Zu den kürzlich erschienenen Indie-Filmen auf Hindi gehört beispielsweise Anurag Kashyaps Raman Raghav 2.0 (der 2016 auch beim Filmfestival in Cannes lief), ein brutaler Thriller über einen historischen Serienmörder, der in den 60er Jahren in Mumbai lebte. In Neeraj Ghaywans Masaan (der unter dem Titel Fly Away Solo 2015 in Cannes gezeigt wurde) sprengen Jugendliche im ländlichen Indien die Ketten der Tradition und des Kastensystems. Chaitanya Tamhanes Court (feierte 2014 bei den Filmfestspielen von Venedig Premiere) ist ein massiver Angriff auf das Kastensystem und die Trägheit der Justiz, in dem ein Sänger und Aktivist unter dem irrwitzigen Vorwurf verhaftet wird, einer seiner Songs sei verantwortlich für den Selbstmord eines Kanalarbeiters. Hansal Mehtas Shahid von 2013 befasst sich mit dem wahren Leben des muslimischen Anwalts Shahid Azmi, der vielen zu Unrecht im Gefängnis sitzenden Muslimen wieder zur Freiheit verhalf und dann von Rechtsradikalen erschossen wurde.

Die 1991 beginnende Liberalisierung und Globalisierung der indischen Wirtschaft und die damit einhergehende Arbeitsmigration führten dazu, dass Großfamilien zerbrachen und sich Unabhängigkeit als zentraler Wert etablierte. Das wiederum trug in vielen Fällen zu mehr Eigenständigkeit der Frauen bei. Während der Feminismus im Independent-Film bereits eine lange Tradition hatte, ermutigte diese neue Entwicklung weitere Regisseurinnen dazu, Drehbücher mit starken weiblichen Rollen zu verfilmen. In vielen dieser Filme agieren Frauen jetzt nicht mehr nur als ein romantisches Gegenüber des Hauptdarstellers. Sie verfolgen ihr eigenes Leben, ihre eigene Karriere und folgen ihren Wünschen. Zu diesen talentierten Filmemacherinnen gehören Farah Khan (Om Shanti Om, 2007), Zoya Akhtar (Luck by Chance, 2009), Nandita Das (Firaaq, 2008), Konkona Sen Sharma (A Death in the Gunj, 2016), Anjali Menon (Lucky Red Seeds, 2012) sowie Sumitra Bhave und Sunil Sukthankar (So Be It, 2015).

Bollywood ist zweifelsohne auch ein Mittel der sanften Diplomatie, welches das Ansehen Indiens in der Welt zu verbessern hilft, vom Golf von Suez bis nach Singapur, in Deutschland, Ägypten, Marokko, den Arabischen Emiraten, von Russland bis nach China und sogar in offiziell verfeindeten Staaten wie Pakistan.

Apropos Indien und China: Mit 1,3 bzw. 1,4 Milliarden Menschen umfassen diese beiden Nachbarstaaten zwei der größten Märkte der Welt. Indiens Beziehung zu China ist durch ein ständiges Auf und Ab gekennzeichnet und die sich verändernden politischen Realitäten bildeten sich auch immer im indischen Kino ab. Im frühen 20. Jahrhundert, speziell in den 30er Jahren hatten Indien und China viel Empathie für den jeweiligen Unabhängigkeitskampf des anderen gegen die Kolonialmächte. In den 50er Jahren wurde dann die Vorstellung von »Hindi Chini Bhai Bhai« (Indien und China sind Brüder) in Indien sehr populär. Einer der ersten wichtigen indischen Filme, der sich mit China auseinandersetzt, ist V. Shantarams Dr. Kotnis ki Amar Kahani (The Immortal Story of Dr. Kotnis, 1946), basierend auf der wahren Geschichte des Arztes Dr. Dwarkanath Kotnis, der dem Ruf von Premierminister Jawaharlal Nehru folgte und 1938 nach China ging, um den Widerstand gegen die japanischen Invasoren zu unterstützen. Er heiratete eine chinesische Krankenschwester, Guo Quinglan, und starb 1942 im Feld an einem epileptischen Anfall. In China wird das Gedenken an ihn aufgrund seines Opfers in Ehren gehalten.

Etwas später führte Bimal Roy bei dem Film Pehla Aadmi (First Man, 1950) Regie, der sich mit Subhash Chandra Bose befasst. Bose lehnte den vom Indischen Nationalkongress eingeschlagenen und auf Mahatma Gandhi zurückgehenden gewaltfreien Weg zur Unabhängigkeit vom Britischen Empire ab. Er formierte die Indian National Army (INA) in Singapur, führte sie von 1942–1945 an und kollaborierte mit den Japanern, um Indien mit Waffengewalt vom britischen Kolonialismus zu befreien. Mrinal Sen drehte außerdem den Film Neel Akasher Neechey (Under the Blue Sky, 1959). Er erzählt die Geschichte eines ehrbaren Chinesen, der in Kalkutta Seide verkauft, Indiens Kampf um Unabhängigkeit unterstützt und später nach Hause zurückkehrt, um der chinesischen Resistance gegen Japan beizutreten. Der wachsende Grenzkonflikt zwischen Indien und China führte aber schließlich zum Indisch-Chinesischen Grenzkrieg von 1962, in dem Indien von China besiegt wurde. Neel Akasher Neechey wurde aufgrund seiner Chinafreundlichkeit kurzfristig verboten. Der Bollywood-Film Haqeeqat (Reality, 1964) von Chetan Anand hingegen wurde von der indischen Regierung unterstützt; er stellte China als Schurkenstaat dar und pries die mutigen indischen Soldaten, die sich dem Nachbarn entgegenstellten.

Im 21. Jahrhundert hat der Zwang, die Märkte zu öffnen, zu einer zaghaften Rückkehr des Hindi Chini Bhai Bhai geführt. China importierte 2012 nur 34 internationale Filme. Hollywood, Bollywood und andere brennen darauf, in den notorisch regulierten Markt einzusteigen. In einer Hollywood-Bollywood Koproduktion erschuf Warner Bros. 2009 Nikkhil Advanis Chandni Chowk to China. Der Film ist eine Actionkomödie, die in beiden Ländern spielt und von einem schlechten indischen Koch handelt, der fälschlicherweise für die Reinkarnation eines chinesischen Kriegers gehalten wird. Kabir Khans Tubelight von 2017, besetzt mit Salman Khan und der chinesischen Schauspielerin Zhu Zhu, war ein weiterer Schritt zur Verbesserung der indisch-chinesischen Freundschaft: Während des Indisch-Chinesischen Grenzkriegs verteidigt der Protagonist die chinesische Bevölkerung gegen indische Nationalisten. AR Murugadoss führte außerdem Regie bei 7aum Arivu (Seventh Sense) von 2011, einer tamilischen Version der Legende von Bodhidharma: Ein indischer, buddhistischer Mönch reist nach China und begründet dort die Zen-Strömung des Mahayana-Buddhismus im 6. Jahrhundert. Aamir Khans Dangal erzählt die Geschichte eines strengen Vaters, der seine Töchter dazu treibt, Profiwrestlerinnen zu werden: Schätzungen zufolge hatte der Film ein Budget von 900 Millionen Rupien und spielte weltweit 19,3 Milliarden Rupien ein, davon 11 Milliarden Rupien in 9.000 Kinos in China und etwas mehr als 5 Milliarden Rupien in Indien: Der Umsatz an den chinesischen Kinokassen war also doppelt so hoch wie der in Indien. Khans Secret Superstar über eine indisch-muslimische Teenagerin, die Sängerin werden möchte, spielte in China mehr Geld ein als Star Wars: The Last Jedi.

Fieberhaft versucht Indien, Koproduktionen mit China an Land zu ziehen. Bald erscheinen indisch-chinesische Produktionen von Bollywood-Gigant Eros International, unter anderem Anands Love in Beijing, eine multikulturelle, romantische Komödie, und Kabir Khans The Zookeeper über einen indischen Zoowärter, der nach China reist, um einen Panda zu finden, der seinen Zoo retten soll.

Natürlich gibt es aber auch chinesische Filme, die in Indien spielen. Darunter sind Musicals, einige grauenhafte Komödien und diverse Adaptionen von Die Reise nach Westen, ein Buch von Wu Cheng’en aus dem 16. Jahrhundert, in dem die Geschichte des chinesischen Buddhisten-Mönchs Xuanzang erzählt wird. Der Mönch reiste im 7. Jahrhundert nach Indien, um buddhistische Schriften aus dem Sanskrit ins Chinesische zu übersetzen und den Buddhismus in China weiterzuverbreiten. Unter den Adaptionen ist Huo Jianqis Xuanzhang zu finden, welche die 17-jährige Reise des Mönchs durch Indien erzählt. Außerdem der Film Journey to the West: The Demons Strike Back des aus Hongkong stammenden Regisseurs Tsui Hark. Ebenfalls aus Hongkong stammt der Regisseur Peter Chan, der mit Perhaps Love (2005) ein romantisches Musical vorgelegt hat, in dem die Choreografien von Bollywood-Regisseur Farah Khan stammen. Jackie Chan produzierte die China-Hongkong Koproduktion The Myth (2005) mit einer Besetzung aus Chan selbst (Hongkong), Hee-seon Kim (Südkorea), Shao Bing (China) und Mallika Sherawat (Indien). Der komplizierte Plot besteht aus Klischees und enthält eine irrwitzige Szene, in der ein klebriges Beförderungsband dazu führt, dass die Protagonisten nahezu nackt zu sehen sind. Regisseur Tong hat, ebenfalls mit Jackie Chan in der Hauptrolle, mit Kung Fu Yoga (2017) alle chinesischen und indischen Klischees in einen Mixer geworfen und anschließend mit Eiswürfeln und Minze serviert. Außerdem ist noch Buddies in India (2017) des chinesischen Regisseurs Wang Baoqiang zu erwähnen. Hier werden die schlimmsten Filmtraditionen beider Länder miteinander vermischt. Da die Märkte stark reguliert werden, bieten Koproduktionen die Möglichkeit, einige Restriktionen zu umgehen.

(Übersetzung aus dem Englischen: Julian Heidenreich)

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