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Hip-Hop als identitätsübergreifende Identität

Vereinfacht zusammengefasst entstand die Hip-Hop-Bewegung als Zusammenschluss verschiedener künstlerischer Elemente einer urbanen Subkultur in den späten 60er Jahren in New York. Als offizieller »Geburtstag« dessen, was wir heute mit Graffiti, Breaking, Rapmusik, der DJ-Kultur und einer entsprechenden Geisteshaltung als soziokulturelles Konstrukt Hip-Hop verstehen, gilt der 11. August 1973 – mit der ersten Hip-Hop-Blockparty von DJ Kool Herc.

Es ist wichtig, sich mit der Entstehung und dem Gründungsmythos auseinanderzusetzen, um zu verstehen, was Hip-Hop mit Identität, respektive Identitäten oder Identitätspolitik(en) in Verbindung bringt. Gerade in Zeiten, in denen die Identitätsbewahrung in nationalistischem Kontext immer gefährlichere Ausmaße annimmt und Identitätspolitik wie so vieles zum Instrument der rechtspopulistischen Kräfte wird. Hier muss allerdings die Annahme vorausgesetzt werden, dass so etwas wie eine kulturelle, gemeinsame Identität überhaupt ein gesellschaftlich konsensfähiger Begriff ist. Unumstritten ist dies sicher nicht. Wenn wir uns die durch Identitätspolitik(en) maßgeblich dominierten Diskussionen in den sozialen Medien anschauen, ist zurzeit auf jeden Fall eine bestimmte gruppenbezogene Identität – oder die irrationale Angst davor, diese zu verlieren – das große Thema für viele Menschen. Hip-Hop könnte hier eigentlich recht exemplarisch für die Dialektik stehen, die sich daraus ergeben kann, und liefert auch Lösungsansätze.

Als emanzipatorische Bewegung einer marginalisierten Bevölkerungsgruppe wirkte Hip-Hop anfangs sowohl repräsentativ für die unterschiedlichen Identitäten der aktiven Protagonist/innen, als auch identitätsstiftend – insbesondere als sie größer, international und vor allem einflussreicher wurde. Insofern ist Hip-Hop selbst in gewisser Weise als identitätspolitische Bewegung im ursprünglichen Sinne zu verstehen – deutlich ganzheitlich revolutionärer als es bis dahin bei Subkulturen der Fall war. Die Musik, der Tanz und mit Graffiti auch die Straßenkunst waren in erster Linie eine Selbstermächtigung, ein stärkendes, absolut glaubwürdig machtkritisches Werkzeug, vor allem für Menschen, die in der Mehrheitsgesellschaft bislang keine Repräsentanz erfahren haben. Dies ist insbesondere wichtig, um zu sehen, dass die Hip-Hop-Kultur, bzw. die Bewegung zu der sie wurde, keine Identität vorgibt, wie wir es beispielsweise bei nationalistischen Strömungen erleben. Hip-Hop bietet einen Hafen für diverse Identitäten, die durch verschiedenste Lebensrealitäten entstehen, und gibt dem Ganzen eine Art »Dach-Identität« durch den kulturellen Rahmen, der einen dynamisch gewachsenen Konsens aufweist.

Laut Duden steht der Begriff Identität u. a. für die Echtheit einer Person, was im Zusammenhang mit Hip-Hop spannend ist, da die Formel »keep it real« – was hier sinngemäß mit »sich treu und echt bleiben« zu übersetzen ist – zu einem Leitspruch im Hip-Hop wurde. Die Autorin Gabriele Klein stellt in ihrem Buch Is this real? fest, dass sich Hip-Hop als Kultur immer wieder selbst hinterfragt und an der einfachen Frage misst: Is this real? Die Echtheit definiert sich über die Glaubwürdigkeit dieser prägenden Kultur. Die Quintessenz dieser Aussage ist eigentlich beinahe der wichtigste (da in der Identitätspolitik meist gar keine Rolle spielende) Aspekt, wenn es um Identität geht: Identität ist kein starres Korsett, was uns angelegt wird. Die Identität kann unter Umständen ein Entwicklungsprozess und Veränderungen unterworfen sein. Wenn die entsprechenden (gesellschaftlichen) Privilegien vorhanden sind, um sich ändern zu können.

Zu einem Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt, wird die Identität, wie der bekannte US-amerikanische Rapper Jay Z es formulierte, vor allem für Bevölkerungsgruppen, denen sie aus einer Machtposition heraus aufgedrückt wird: »Identity is a prison you can never escape, but the way to redeem your past is not to run from it, but to try to understand it, and use it as a foundation to grow.« Sie kann aber auch Quelle sein für ein Wachstum der eigenen Persönlichkeit. Die unflexible Zuschreibung von Identitäten von außen ist für reaktionäre Kräfte die einfachste Methode, Freund- und Feindbilder zu erzeugen. Diese in der Mehrheitsgesellschaft zu etablieren, gelingt leider sehr gut und reicht aus der Kolonialzeit bis in den modernen Rassismus.

Eine sehr starke Identifikationsmöglichkeit bietet Hip-Hop als Kultur marginalisierten Gruppen – insbesondere für schwarze Menschen und People of Colour kann Hip-Hop als Teil der eigenen Identität eine sehr stark empowernde Wirkung entfalten. Deshalb darf Hip-Hop nie, wie es aktuell leider des Öfteren geschieht, aus dem Kontext der Entstehung gerissen werden. Hip-Hop ist vor allem eine Bewegung dieser marginalisierten Gruppen. In erster Linie waren das die schwarzen und hispanischen Communities der USA, bzw. New Yorks. Hip-Hop ist aber bei Weitem keine homogene Bewegung mit einer festgelegten für alle Aktiven geltenden Identität und bietet eben die Möglichkeiten, sich mit dem Bewusstsein über Identitäten eine Basis zu schaffen, um darüber hinauszuwachsen.

Dadurch diente Hip-Hop sogar in der ehemaligen DDR in den 80er Jahren einer, durch das System im globalen Kontext benachteiligten, hauptsächlich weißen Bevölkerungsschicht als befreiende Identifikationsmöglichkeit. So fühlten und fühlen sich die Menschen innerhalb der Szene dieser auch zugehörig und machen es zum Teil der persönlichen Identität. Es gibt zwar einen gewissen abgesteckten Rahmen, sowohl in der egalitären Gesellschaftsvorstellung, als auch in den Kunstformen der Hip-Hop-Kultur, allerdings ist innerhalb dieser Grenzen beinahe alles erlaubt – inklusive gewisser Widersprüche, die dies mit sich bringen kann. Wie sonst kann die Ambivalenz erklärt werden, dass Rap-Videos voller patriarchalischer Klischees und emanzipierte, feministische Künstler/innen mit demselben Selbstverständnis Teil derselben Hip-Hop-Szene sind – abgesehen von der musikalischen und kulturschaffenden Bandbreite, die sich unter der Dachmarke Hip-Hop vereint. Eine weitere Erklärung, die diese These stützt, kann hier ein wichtiges Schlüsselelement von Hip-Hop liefern: der kreative Wettstreit. Dieser ist ein wichtiger Aspekt zur Identitätsbildung innerhalb der Szene. Gerade wenn wir romantisierend von einem egalitären Gesellschaftsbild innerhalb derselben sprechen.

Sich als »Hip-Hop-Head« zu bezeichnen, ist eine persönliche Entscheidung. Respektierter und glaubwürdiger Teil der Szene zu werden, erfordert Talent, Aktivismus oder beides und muss immer wieder durch das ungeschriebene Gesetz einer quasi unsichtbaren Instanz »der Echtheit« bestätigt werden. D. h. alle Hip-Hop-Heads, egal ob im Breaking, Rap, DJing oder im Writing, können Teil der Bewegung sein – auch wenn sie Nischen besetzen, die eventuell keine der Elemente bedienen, wie zum Beispiel die Herausgabe von Fan-Magazinen oder das Betreiben von Hip-Hop-Blogs im Internet. Solange die Frage nach der Echtheit im Sinne der Szene positiv beantwortet werden kann. Es gibt also eine gruppendynamische Ebene, die zeigt, dass das Ganze mehr als die Summe der Teile sein kann. Dabei ist der Kernpunkt hier, dass ausschließlich die Tätigkeit eine Rolle spielt, nicht die Person, die sie ausführt. Herkunft, Aussehen, Geschlecht, Sexualität, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen sind in der Theorie irrelevant, wenn »Skills« vorhanden sind und sich die Grundwerte mit dem eigenen Menschen- bzw. Weltbild vereinen lassen. Dies gibt gerade Menschen im Hip-Hop die Möglichkeit, sich der Kultur auf ganz unterschiedlichen Wegen zu nähern, sich damit zu identifizieren, und über das erwähnte »Identitätsgefängnis« hinauswachsen zu können.

Es ist völlig absurd, dass gerade eine völkisch, rassistische Bewegung wie die »Identitäre Bewegung« in Deutschland das Medium Rap missbraucht, um Propaganda zu betreiben und eine nationale Identität damit festigen zu wollen. Dabei ist es anders als bei den sogenannten Schulhof-CDs der rechtsextremen NPD, die auch schon Rapmusik für rassistische Parolen benutzte. Hip-Hop ist mittlerweile so sehr zu einem Teil der modernen Alltagskultur geworden, dass die anfangs beschriebenen Werte und Grundsätze verwaschen wirken können und Anhänger/innen rechtsextremer Ideologien, die nichts mit der Hip-Hop-Kultur gemein haben, sich als Rapper/innen verstehen. Eine sehr große, internationale, heterogene Gruppe an Menschen, die inzwischen auch zum Teil deutlich älter als 50 Jahre ist, und Hip-Hop als Teil der eigenen Identität begreift, wird hier zu Recht kein Verständnis aufbringen können. Dabei muss erwähnt werden, dass der besonders in Deutschland gebräuchliche Begriff der »Jugendkultur« durch Alltagskultur ersetzt werden sollte.

Innovativität, eine ausgeprägte Individualität und dennoch ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, sind im Hip-Hop absolut identitätsbildend und daher ein extremer Gegensatz zu einer homogenen nationalen oder gar nationalistischen Identität. Die zum politischen Kampfbegriff verkommene multikulturelle Gesellschaft, ist definitiv gelebte Realität und somit auch Teil der Identität der Hip-Hop-Szene. Zu den marginalisierten, eher sozial benachteiligten und oft durch Rassismuserfahrungen geprägten Gruppen stießen bei der weltweiten Ausbreitung der Hip-Hop-Kultur auch Teile der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Wir haben also mit Hip-Hop eine Klassen- und in jeder Hinsicht herkunftsübergreifende Identität geschaffen, die sich selbst stetig hinterfragt und erneuert.

Bereits seit den Anfängen, also seit DJs wie Grandmaster Flash oder Bands wie Public Enemy die Pioniere der neuen Bewegung waren, ist Politik ein Bestandteil von Hip-Hop, seit 2017 gibt es mit »Die Urbane« die erste Hip-Hop-Partei, die direkt aus der Szene gegründet wurde. Eigentlich eine logische Konsequenz. Die zentrale Frage im politischen Kontext lautet nämlich: Kann in dem festgefahrenen System eine Politik Platz finden, die das Konstrukt der, zumindest gruppenbezogenen, Identität infrage stellt?

 

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