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Geschichte, Kernprobleme und heutige Bedeutung Historischer Materialismus

Wer vor 1990 in der DDR (oder einem anderen Land des sogenannten Ostblocks) lebte, lernte den »Historischen Materialismus« als Ableitung des philosophisch-naturwissenschaftlichen »Dialektischen Materialismus« (Diamat) kennen. Dieser war Bestandteil der von Josef Stalin – später modifiziert und differenziert, aber nicht revidiert – zum überwissenschaftlichen Dogma erhobenen »marxistisch-leninistischen Weltanschauung«. Diese funktionierte faktisch als Herrschaftsideologie der zentralbürokratischen Elite im System des zuletzt »realer Sozialismus« genannten Staatskollektivismus.

Dass in diesem früher gezimmerten Rahmen im Osten Deutschlands über vier Jahrzehnte zunehmend fachwissenschaftlich, auch methodisch wertvolle, breit anerkannte Untersuchungen und Darstellungen geschaffen wurden, sei ausdrücklich betont. Ohnehin war, bezogen auf konkrete Geschichtsforschung und -schreibung, die Bindung an das von den Historikern aller Richtungen als verpflichtend anerkannte Vorgehen – die (möglichst umfassende) Verarbeitung der Originalquellen durch methodisch ausgefeilte, kritische Interpretation – unaufhebbar. Sich dieser »handwerklichen« Methode zu unterwerfen, bedeutet anzuerkennen, dass vielfach unterschiedliche, aber eben nicht beliebige Deutungen möglich sind.

Versuche der kompletten Abweisung und Widerlegung des Historischen Materialismus, ursprünglich als »materialistische Geschichtsauffassung« bezeichnet, beziehungsweise des Marxismus, so vom Verfechter des »kritischen Rationalismus« Karl Popper, beziehen sich meist auf vulgäre oder dogmatisierte Lesarten. Über deren früheste Vertreter äußerte sich bereits Friedrich Engels 1890, sieben Jahre nach dem Tod von Marx, in einem Brief an Conrad Schmidt abfällig: Bei »vielen jüngeren Schriftstellern« vom Typ »des sozialistisch angehauchten deutschen Studiosus« diene »die Phrase des historischen Materialismus« allein dazu, »ihre eignen relativ dürftigen historischen Kenntnisse (...) schleunigst systematisch zurechtzukonstruieren, und sich dann sehr gewaltig vorzukommen«.

Allerdings waren Marx und besonders Engels an diesen Simplifizierungen nicht ganz unschuldig. Gerade letzterer hatte es als seine Aufgabe empfunden, die gemeinsamen Ansichten in Zeitungsartikeln und populären Broschüren, die eine ganze Generation von Vorkämpfern der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Europas »bekehrten« – so die »Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« (zuerst 1880) – polemisch und vereinfachend zu verbreiten. Auch um Marx Zeit und Ruhe für sein politökonomisches Hauptwerk Das Kapital zu schaffen. Bei genauerer Lektüre der engelsschen Schriften konnte der Leser durchaus erkennen, dass es ihm nicht um ein starres, abgeschlossenes Ablaufschema geht, vielmehr um eine komplexe Betrachtungsweise natürlicher, ökonomischer, sozialer und kultureller Lebenszusammenhänge.

Gegenüber der frühen einseitigen Konzentration auf die ökonomische Sphäre bei Marx und ihm selbst betont Engels in seinen späten Äußerungen stärker die »Wechselwirkung« zwischen »politischen, rechtlichen, philosophischen, religiösen, literarischen, künstlerischen etc.« Verhältnissen einerseits und den »in letzter Instanz (…) entscheidenden«, sich als Resultante unterschiedlicher beziehungsweise gegenläufiger Bestrebungen und Abläufe durchsetzenden ökonomischen Verhältnissen andererseits.

Beim modifizierten Primat des Ökonomischen handelt es sich also nicht um eine kurzschlüssige und direkte, dabei abstrakte Rückführung von allem und jedem auf wirtschaftliche Zwänge und Interessen, nicht um die Reduktion des geistig Bewussten auf einen ökonomischen, materiellen »Faktor«, sondern, wie der Philosoph Helmut Fleischer Marx erläutert hat, »um die Aufhebung jener Separation und Isolation, die mit der Bewusstseins- und Ideenabstraktion verfügt ist, oder positiv: um eine integrative Zusammenschau von Bewusstsein und Leben (= bewusster Lebensfähigkeit)«. Alles Gesellschaftliche, auch der Staat, kreist demzufolge um die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens.

Das marxsche (und engelssche) beziehungsweise marxistische Geschichtsverständnis hat kritisch an die Aufklärungsphilosophie und -historiografie, die klassische deutsche Philosophie, namentlich die hegelsche Dialektik, und an den »idealistischen« Historismus angeknüpft. Die Begründer der materialistischen Geschichtsauffassung grenzten ihren Ansatz von der spekulativen Philosophie und von einem mechanischen Materialismus ab.

Sie verstanden ihre Analysen vor allem als Schlüssel zum Verständnis des bürgerlichen Zeitalters und als Teil einer politischen Praxis, in der dieses Zeitalter überwunden werden sollte. Die wissenschaftliche Kritik der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer inneren Widersprüche diente der Erkenntnis derjenigen Bedingungen, unter denen eine neue solidarische, egalitäre und freie Gesellschaftsordnung (»Sozialismus« beziehungsweise »Kommunismus«) errichtet werden könnte, wobei der eigentliche Sinn in der Emanzipation des Individuums lag – allerdings über die Befreiung des Kollektivs.

Ausgehend von der »Arbeit« als der zentralen Kategorie zum Verständnis menschlicher Gesellschaften wird der historische Prozess in der marxschen Theorie vom Widerspruch zwischen Produktivkräften (menschlicher Arbeitskraft und materiellen Produktionsmitteln) und Produktionsverhältnissen (sozialen Organisations- und Herrschaftsformen, Rechts- und Eigentumsverhältnissen) bestimmt, wobei es zu gesellschaftlichen Krisen und zu politisch-sozialen Umwälzungen kommt, wenn Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse miteinander in Kollision geraten.

Dass die sozialökonomische »Basis« in der gegebenen konkreten Gesellschaftsformation (gekennzeichnet durch die Vorherrschaft einer bestimmten Produktionsweise) »in letzter Instanz« den mit ihr in dialektischer Wechselbeziehung verbundenen rechtlich-politisch-kulturellen »Überbau« dominiert, bedeutet nicht, dass die historische Entwicklung im Selbstlauf vonstattengeht. Dies geschieht vielmehr durch das Handeln lebendiger menschlicher Kräfte, namentlich der als »Klassen« bezeichneten, gemäß der Stellung im Produktionsprozess unterschiedenen sozialen Großgruppen, auf deren unterschiedliche beziehungsweise gegensätzliche Interessen und deren Ringen letztlich das Handeln der historischen Akteure zurückzuführen ist. Die Menschen machen »ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«

Soziale Herrschaft beruht seit der Entstehung von Klassengesellschaften auf der Einziehung des im Hinblick auf die Versorgung der Produzenten von diesen erzeugten Überschusses, des gesellschaftlichen Mehrprodukts, durch die Oberklasse. Die immanenten Entwicklungstendenzen des auf der Aneignung des von der Masse der besitzlosen Arbeiter hervorgebrachten »Mehrwerts« durch die Kapitaleigner (Akkumulationszwang und Krisenhaftigkeit, soziale Polarisierung und Kapitalkonzentration, tendenzieller Fall der Profitrate) wirken späterhin in Richtung der Ablösung des Kapitalismus und bereiten diese vor; vollzogen werden könne sie aber nur durch die politische Aktion der Klasse der Lohnarbeiter.

Obwohl sich Marx und Engels – entsprechend dem Forschungsstand der damaligen Zeit – intensiv mit geschichtlichen Themen von der Urgeschichte bis zur Gegenwart beschäftigten und in ihrer Lehre nachdrücklich die Historizität der menschlichen Praxis betonten, ging es ihnen im Grunde stets um Kapitalismuskritik und den proletarischen Emanzipationskampf. Wissenschaftliche Objektivität bestand für sie im Bemühen, den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung und deren »Gesetze« zu erkennen und die Analyse unter Vernachlässigung aller persönlichen Sympathie, sine ira et studio, durchzuführen.

Natürlich wirft diese äußerst knappe Skizze viele, sogar prinzipielle Fragen auf, auch und gerade für Historiker und Gesellschaftswissenschaftler, die sich in der Tradition des historischen Materialismus sehen oder zumindest davon stark beeinflusst worden sind – wie es zum Beispiel in gewisser Weise für Jürgen Kocka, einen der international führenden Sozialhistoriker, gilt, in den späteren Arbeiten weniger greifbar auch bei dem Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas.

Sicher ist heute, dass die von Stalin und in seinem Gefolge vorgenommene dogmatische Kodifizierung des »Histomat«, in angeblich untrennbarer Verbindung mit einem »Diamat«, zu einer vermeintlich naturgeschichtlichen Legitimationswissenschaft zum Ruhme eines menschenvernichtenden Herrschaftssystems, eine Verballhornung der Theorien von Marx und Engels ist.

Zur Diskussion stehen nicht nur Fragen, die das materialistische Geschichtsverständnis grundsätzlich berühren: die nach der Abfolge der Gesellschaftsformationen, darin eingeschlossen die nach der »asiatischen Produktionsweise«, nach dem bürokratischen oder Staatskollektivismus als eine neue – vom Marxismus nicht vorausgesehene – Art von Klassengesellschaft, nach seinem sozialen Wesen und Untergang; das Verständnis des Kapitalismus nach 1945 (mit historisch einmaliger Prosperität und Wohlstandszuwachs in den Metropolen) sowie dessen »neoliberaler« Umgestaltung in den letzten Jahrzehnten.

Ein zentraler Diskussions- (und für die ehedem marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft der DDR empirischer und theoretischer Forschungs-)gegenstand ist stets die Rolle der Revolution in der Weltgeschichte und das Wechselverhältnis von Revolution und Evolution gewesen. All das ist sowohl konzeptionell-theoretisch als auch für progressive politische Praxis unmittelbar relevant. Hier kann es nur angedeutet werden.

Diesbezüglich spielt die Analyse der Herausbildung und Entwicklung eines kapitalistischen Weltsystems seit 1450 durch Immanuel Wallerstein eine beträchtliche Rolle, wo interdisziplinär und neben Marx beziehungsweise dem Marxismus die – ihrerseits davon jeweils mitbeeinflusste – französische Annales-Schule und die Dependenztheorie aufgegriffen werden. Auf Kritik von Vertretern des Historischen Materialismus stößt vor allem Wallersteins »Kommerzialisierungsmodell«, in dem das Spezifische der (industrie-)kapitalistischen Produktionsweise aus dem Blick gerate.

Ein durchgehender Streitpunkt unter Anhängern des Historischen Materialismus mit der Herausbildung entsprechender wissenschaftlicher Schulen war und ist das Verhältnis von Struktur und geschichtlichem Handeln. Antonio Gramsci verstand jenen in seinen »Gefängnisheften« in Auseinandersetzung mit Nikolai Bucharin als »Philosophie der Tat (Praxis)«. Der Akzent müsse auf das Adjektiv »historisch« gelegt werden. Seit den frühen 60er Jahren verfocht der inoffizielle Parteiphilosoph der französischen KP, Louis Althusser, einen strikten, später modifizierten Strukturalismus in Abgrenzung von der Vorstellung eines geschichtlichen Kontinuums, wogegen sich professionelle marxistische Historiker wandten, am vehementesten Edward P. Thompson, einer der Begründer der Neuen Linken in Großbritannien.

Thomson (und in ähnlicher Weise Pierre Vilar) sah in Althussers strukturanalytischer Trennung der »Ebenen« (Ökonomie, Politik, Ideologie und so weiter) die Rückkehr zu »uralten akademischen Methoden der Isolierung, die für die Praxis eines Historischen Materialismus absolut zersetzend sind: für das Verstehen des historischen Gesamtprozesses.« Die Kontroverse wie auch spätere Diskussionen – über den Bruch von 1989/91 hinaus – zeigen, dass in dem Anspruch, Geschichte als zugleich strukturierten und offenen Prozess zu begreifen, ein Kernproblem des Historischen Materialismus steckt.

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