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Dieter Borchmeyer durchmisst die Selbstdeutungen der Deutschen Hoffen auf die Menschheitsnation

Heinrich Heine hat wenig so sehr gehasst wie den deutschen Patriotismus, die Teutomanie jener, deren Herz sich gegenüber allem Fremden wie Leder zusammenzieht, weil sie nur noch Deutsche sein wollen, aber keine Europäer und Weltbürger. Damit verrieten die Nationalisten das Herrlichste und Heiligste, was der Geist der Nation jemals ersonnen habe – die Humanität, die Idee der allgemeinen Verbrüderung, den Kosmopolitismus von Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und Jean Paul: »Aus Gemütes Tiefen quillt er,/Deutscher Haß! Doch riesig schwillt er,/Und mit seinem Gifte füllt er/Schier das Heidelberger Faß«, heißt es in Heines Gedicht Diesseits und jenseits des Rheins. Schätzt sein Autor an den Franzosen die feine Lebensart und der »Liebe heitre Kunst«, kann er seine Kritik an den Eseleien der deutschen Patrioten, an ihrer Nachtwächtermentalität und »brutalen germanischen Kampflust« kaum zügeln. Dennoch will der verfemte und exilierte Dichter von seiner Hoffnung auf die Deutschen nicht lassen: Ohne ihren Traum von der eigentlichen »Menschheitsnation« gäbe es für ihn dieses Vaterland nicht.

Heine war einer der ersten Intellektuellen jüdischer Herkunft, die von der innigen Verwandtschaft der beiden »Völker der Sittlichkeit« schwärmten, der Juden und der Deutschen. An ihrer Auserwähltheit und Geistesinnigkeit, an ihrer messianischen Idee werde die Welt einst genesen: »Die ganze Welt – die ganze Welt wird deutsch werden«! Die Utopie ist süß, doch Heine weiß sehr wohl um die grausige historische Dialektik dieser sehnsüchtig erwarteten »Universalherrschaft«. Bei den Deutschen drohe stets die Gefahr der Rückkehr jener »alten steinernen Götter«: dann könne dem schlimmen Gedanken die böse Tat folgen wie der Donner dem Blitz: »Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in den fernsten Wüsten Afrikas werden sich in ihre königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.«

Weltbürgerliche Utopien in dürftiger Zeit

Mit der Darstellung des Heineschen Deutschlandbildes ist das Grundmuster von Dieter Borchmeyers Meinungs- und Thesentableau in seinem neuen Buch Was ist deutsch? umschrieben. Es geht ihm nicht um die Vermittlung von Realgeschichte und Deutungsgeschichte, nicht um den schwergängigen Konfliktprozess zwischen Nationalismus und Weltbürgerlichkeit, sondern um eine ideenhistorische Gipfelwanderung. So sehr man Ersteres vermissen mag, das monumentale Werk zeugt von großartiger Sachkenntnis und beschert dem Leser immer wieder überraschende Einsichten.

Über Deutschland und das eigentümlich »Deutsche« zu sprechen, war hierzulande über Jahrzehnte nur vor dem Hintergrund von Nationalsozialismus und Holocaust denkbar. Auch Borchmeyer lässt die zwölf Jahre eines »Dritten Reiches« keineswegs außer Acht, noch mehr aber liegt ihm daran, den Traditionsraum nationaler Selbstverständigung nach hinten zu erschließen und damit zugleich nach vorne zu öffnen, und zwar im Sinne eines europäischen Deutschland mit seiner geografischen Mittellage. Dem borniert-reaktionären Riesenfundus des deutschen Nationalismus mit seiner Staats- und Kulturmetaphysik hält er Thomas Manns Idee eines »Weltdeutschtums« entgegen. Er sucht nach den unendlich verzweigten Spuren des Kosmopolitischen in der deutschen Kulturgeschichte, der »Selbsttranszendenz des Deutschen«, und wird über die Maßen fündig.

Von der deutschen Klassik und Romantik, von Schillers »deutscher Größe«, Johann Gottlieb Fichtes »Nationalerziehung« und Heinrich von Kleists antifranzösischer Tyrannis-Schelte, über Heine, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche bis zu Hugo Ball, Erich Kahler und Hermann Cohen reicht das Spektrum dieses gelehrten Buches, von deutscher Musik über das Verhältnis von Deutschen und Juden bis zum nationalen Selbstverständnis der Wendezeit um 1989. Hier leuchtet noch einmal das aufgeklärt-kosmopolitische 18. Jahrhundert in all seiner ambivalenten Herrlichkeit auf: Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts«, Schillers Gedanke der Kulturnation, Goethes Idee der Weltliteratur, gesteigert zur Utopie universaler Ausbildung und ästhetischer Erziehung. Freilich durchsetzen gelegentlich schon Töne nationaler Auserwähltheit die hochfliegenden Ideen, wie in Friedrich Hölderlins Gesang des Deutschen: »O heilig Herz der Völker, o Vaterland!/Allduldend, gleich der schweigenden Mutter Erd’,/Und allverkannt, wenn schon aus deiner/Tiefe die Fremden ihr Bestes haben!« Bei Schiller heißt es: »Dem, der den Geist bildet, beherrscht, muss zuletzt die Herrschaft werden …« Der Gedanke war hier noch kulturpädagogisch temperiert und geschichtsphilosophisch beflügelt, doch vor dem Hintergrund der sogenannten Befreiungskriege begann die nationale Idee den Deutungskosmos der Weltbürgerlichkeit zunehmend zu verdrängen. 50 Jahre später, ausgerechnet zu der Zeit, als das gerade begründete Deutsche Reich unter preußischer Führung seine Weltmachtträume auszubrüten begann, stellte sich das Deutschsein für Wagner nur mehr als »reines Metaphysikum« dar, als solches aber, wie er an Nietzsche schrieb, »grenzenlos interessant und jedenfalls einzig in der Weltgeschichte, vielleicht mit dem einzigen Pendant des Judentums zur Seite …«

Deutsche und Juden

Gerade im Lichte dieses Gedankens verdient Dieter Borchmeyers umfangreicher Exkurs über die Frage einer deutsch-jüdischen Affinität besonderes Interesse. Er zitiert den amerikanischen Historiker Gordon A. Craig mit der Frage: »Warum hat sich Heinrich Heines Prophezeiung nicht erfüllt, dass die Deutschen und die Juden, die beiden ›sittlichen Völker‹, ein neues Jerusalem in Deutschland schaffen würden, Heimstatt der Philosophie, Mutterboden der Weissagung und eine Zitadelle der reinen Spiritualität?« Nach über 1.000 Jahren jüdischer Kultur in Deutschland kann jedenfalls nur eine bittere Bilanz gezogen werden. Aus der innigen Wahlverwandtschaft, die bereits Goethe ein Begriff war und die später von Heine und Thomas Mann beschworen wurde, entstand eben keine tiefere Lebens- und Denkgemeinschaft. Die deutsch-jüdische Symbiose erwies sich als bloße Illusion, von der nur ein rückwärtsgerichtetes Grübeln über versäumte Möglichkeiten geblieben ist. Gershom Scholem schrieb resignierend: »Die Liebessaffäre der Juden mit den Deutschen blieb einseitig, unerwidert und weckte im besten Fall etwas wie Rührung oder Dankbarkeit.« Dennoch hat Thomas Mann am jüdischen Element als einem essenziellen Bestandteil allen »höheren Deutschtums« festgehalten. Wenn Deutschsein mehr bedeuten solle als »ein Abgrund, bodenlos«, dann müsse es sich selbst transzendieren, sich »entdeutschen« und ein »selbstbewusst dienendes Glied eines in Selbstbewusstsein geeinten Europa« sein.

Dieter Borchmeyer durchmisst die vielfältig schillernde Selbstdeutung der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert in all ihren kulturgeschichtlichen Verästelungen luzide und nahezu erschöpfend. An ihrem vorläufigen Ende angelangt, zeigt er sich zuversichtlich: Deutschland sieht er heute als friedliche Mittelmacht wider Willen, durchaus europäisch und offen nach außen. Doch fügt er hinzu, dass aus der ökonomisch-politischen Kraft des Landes ein größeres kulturelles Verantwortungsbewusstsein gegenüber einem Kontinent demokratischer Vaterländer erwachsen müsse.

Dieter Borchmeyer: Was ist Deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst. Rowohlt Berlin, 2017,1.056 S., 39,95 €.

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