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© picture alliance/dpa | Sina Schuldt

Rückblick und Zukunft: Neue Bücher zur Sozialdemokratie Hoffnung erlaubt

Vergessen wir nicht, eigentlich ist die SPD eine erfolgreiche Regierungspartei, seit 25 Jahren (abgesehen von 2009–13) als Teil der Bundesregierung. Von 1998 bis 2005 und wieder seit 2021 stellt sie sogar den Bundeskanzler. Und kürzlich bestätigte eine Bertelsmann-Studie der SPD-geführten Ampel, dass sie zur Halbzeit der Legislaturperiode von den 453 Regierungsversprechen bereits 64 Prozent so gut wie umgesetzt habe. Andererseits gibt es kaum Zeiten, in denen nicht von einer tiefen SPD-Krise die Rede ist, auch derzeit wird sie deutlich unter den 25,7 Prozent der Bundestagswahl 2021 gehandelt, gab es im Herbst 2023 deprimierende Landtagswahlergebnisse (Bayern 8,4 Prozent, Hessen 15,1 Prozent). Wie Unzufriedenheit, Vertrauensverlust, Zukunftsängsten und Demokratiedistanz begegnet werden kann, wie Wählerwanderungen Richtung Union und AfD gebremst werden können, darüber wird seitdem diskutiert. Dass die Partei höchst lebendig ist, sogar in diesen schwierigen Zeiten, in denen multiple Krisen und Kriege die Zukunft verdunkeln, belegt die nicht nachlassende sozialdemokratische Selbstvergewisserung auf dem Büchermarkt.

Das Erbe der Arbeiterbewegung, das Ringen um gleiche Freiheit, ist alles andere als von gestern.

Gegen das Vergessen von historischen Zusammenhängen und wertorientierten Überlieferungen haben die Historiker Peter Brandt und Detlef Lehnert erneut eine Überblicksgeschichte der SPD vorgelegt. Das Erbe der Arbeiterbewegung, das Ringen um gleiche Freiheit, ist alles andere als von gestern. Die Erringung von Demokratie, die Zähmung des Kapitalismus und der soziale Fortschritt sind mit der SPD verbunden: ein Erbe, das verpflichtet. Es werden lange Linien der Entwicklung und des Selbstverständnisses, nicht immer spannungsfrei zwischen pragmatischer politischer Gestaltung und sozialistischem Wollen, sichtbar. Das Buch (wie frühere Gesamtdarstellungen der SPD-Geschichte von Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Franz Walter, Helga Grebing oder Bernd Faulenbach) führt nicht nur ein in die wechselvolle Historie der ältesten Partei Deutschlands. Es ist zudem bestens geeignet als Nachschlagewerk zu zentralen Wegmarken der SPD: Angesichts dessen, was über 1914, 1918/19, 1933, 1946, 1968, 1989/90 oder 2003 an Fehlinterpretationen und Mythen in der Welt ist, ein bedeutendes Gegengewicht auch zu mancher linksradikalen Geschichtslegende.

Historische Erfahrungen und subjektive Reflexionen über intellektuelle und politische Auseinandersetzungen werden besonders lebendig und spannend in der Form der autobiografischen Erzählung. Eine solche Verbindung von Vergangenheit und Zukunft entfaltet der Gesprächsband von Wolfgang Thierse und Thomas Meyer, die das Profil der SPD über Jahrzehnte mitprägten. Aus Anlass ihres gleichzeitigen 80. Geburtstages lassen uns der »denkende Politiker« und der »politische Denker« (beide sind Herausgeber dieser Zeitschrift) nicht nur an historisch wertvollen Erinnerungen der politischen Zeitläufe teilhaben, sondern formulieren auch entscheidende Orientierungsangebote zu Karl Marx, Eduard Bernstein, zur Kritischen Theorie, zur Debatte um Soziale Demokratie und Demokratischen Sozialismus, zur Deutschen Einheit, zu neuen gesellschaftlichen Brüchen und Konfliktlinien oder zur neuen Welt(un)ordnung. Drei zentrale Ratschläge der beiden Altvorderen aus Partei und Friedrich-Ebert-Stiftung an die heutige Politik sind:

• Die Synthese aus sozialer Gerechtigkeitspolitik und ökologischer Transformation ist zum entscheidenden Alleinstellungsmerkmal der SPD geworden und könnte systematisch umgesetzt zu ihrem Erfolgsrezept werden.• Bewahren und reaktivieren sollte die SPD ihre einzigartige Kombination aus wertorientiert-idealistischem Überschuss und einer realitätstüchtigen, konkreten, demokratisch überzeugenden Reformpolitik, immer »nah bei den Menschen«. • Die SPD müsse sich an den Gestaltungsoptimismus der Arbeiterbewegung erinnern und unter gewandelten soziologischen Bedingungen die Überzeugung wiedergewinnen, Schritt für Schritt die Probleme lösen zu können. Dabei sollte sie besser in den Blick nehmen, wie sie auch Emotionen des Zukunftsvertrauens fördern kann.

Hoffnung, aller Krisen und Kriege zum Trotz

Zu diesem Fazit passt das umfangreiche, ebenfalls in diesen individualisierten Zeiten sehr persönlich-subjektiv geschriebene Buch von Carsten Brosda, allerdings aus Sicht einer anderen Generation, der unter 50-Jährigen. Der Hamburger Senator für Kultur und Medien und jetzige Vorsitzende des Kulturforums der Sozialdemokratie will ebenso aller Krisen und Kriege zum Trotz Hoffnung stiften. Er plädiert für einen sozialdemokratischen Gegenentwurf, wie eine gute Zukunft aussehen könnte, der verbreiteten Dystopien und dem um sich grei­fenden Fatalismus widerspricht. Anhand vieler künstlerischer und populärkultureller Werke zeigt er, wie lebendige Erzählungen Mut machen können, auch visionäre Ziele zu erreichen. Besonders Songtexte der Rockmusik, vor allem die von Bruce Springsteen, haben es ihm angetan.

Ohne »den utopischen Überschuss einer Erzählung des Fortschritts oder auch nur des künftigen guten Lebens« gehe es nicht, könne Politik, sozialdemokratische allzumal, nicht mehr überzeugen. Man fühlt sich fast an Didier Eribon (Rückkehr nach Reims) erinnert, wie Brosda anhand der eigenen Ruhrgebiets-Jugendbiografie den Untergang der industriekulturellen Welt, in der die SPD noch ihren selbstverständlichen Platz hatte, beschreibt. Dieser Automatismus ist unwiderbringlich dahin, doch »der Glaube an große Ideen, dieses Bewusstsein der Dringlichkeit sind auch heute noch greifbar«. Brosda gelingt ein außergewöhnliches Plädoyer für eine schrittweise, die Bedürfnisse anderer ernstnehmende und die Zivilgesellschaft aktivierende, soziale Reformpolitik, die sich auf alle drei Grundwerte – respektvolle Freiheit, nachhaltige Gerechtigkeit und öffentliche Solidarität – gleichermaßen bezieht. Für diese Grundwerte – und das ist das Kernstück seines Buches – skizziert er aus der Kultur heraus zeitgemäße, an den Alltagssorgen und -sehnsüchten der Menschen anknüpfende Narrative, denn »wer eine sozialdemokratische Geschichte erzählen will, sollte sich mit solchen Songs, Büchern und Filmen beschäftigen«.

Natürlich ist manche Konkretisierung (und fehlende Konkretisierung) diskussionswürdig, jedoch werden politische Kernfragen thematisiert – übrigens Motive, wie sie ähnlich bei Thierse/Meyer vorkommen: dass ein prinzipielles »soziales und ökologisches Update« der sozialen Marktwirtschaft notwendig ist, dass das Soziale und das Ökologische miteinander zu »verweben« sind, dass dem öffentlichen Gespräch »moralische Moralisierung«, die Fixierung auf Identität und Authentizität nicht guttut, dass über auseinanderstrebenden Milieus hinweg heute Zusammenhalt und Solidarität aktiv gestiftet werden müssen, dass gelernt werden muss, die eigene Freiheit nicht wie im »libertären Autoritarismus« absolut zu setzen, und dass es um Ambiguitätstoleranz geht, das entschiedene Sowohl-als-auch, um der komplizierten Gesellschaft und komplexen Moderne gerecht zu werden.

»Über auseinanderstrebende Milieus hinweg müssen Zusammenhalt und Solidarität heute aktiv gestiftet werden.«

Mancher mag Sätze wie der folgende als dezente Empfehlung für die Ampel lesen: »Ob man virtuos das Machbare managen oder visionär die Grenzen des Möglichen verschieben will - das ist der Kernkonflikt progressiver Regierungen…«. Politik müsse aus den gemeinsamen Werten heraus mehr Geschichten erzählen und anschauliche Missionen entwickeln, die den Mut zur konkreten Utopie und die Zuversicht in den Mittelpunkt stellen. »Wenn es aber darum geht, Machbarkeit glaubwürdig zu erzählen und konkret in eine Vorstellung von einer besseren Gesellschaft einzubetten, schlägt die Stunde der Sozialdemokratie«.

Blick auf die Eine Welt

Was für Brosda Zuversicht ist, nennt die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan, wie Thierse und Meyer Jahrgang 1943, »Hoffnung«. Ihr Gespräch mit Holger Zaborowski lehrt uns, wie politisches Engagement, so es nicht bloß auf die eigene Karriere und Machtentfaltung abzielt, mit letzten Fragen zusammenhängt. Die können weltanschaulich, wie beim ethischen Sozialismus von Meyer kantianisch, begründet sein. Bei Schwan kommt die frühe kritische Auseinandersetzung mit dem Marxismus, besonders dem polnischen Philosophen Leszek Kołakowski, zusammen mit einem tiefen katholischen Glauben. Gerade wo mit ihrem Blick auf die Eine Welt die zentrale politische Aufgabe riesig ist, »wie wir die Herausforderung bestehen können, trotz des globalen Kapitalismus auch grenzüberschreitend demokratische Politik zu betreiben und zu legitimieren«, mache es der Glaube möglich »ins Offene zu gehen«. Sozialdemokratische Politik der Gleichheit und Menschenwürde basiert für sie letztlich im christlichen Pathos, dass alle Menschen Gotteskinder sind. Daher ihr energisches Engagement, das ein Journalist einmal »manisch-konstruktiv« nannte. Denn »wenn etwas schlecht läuft, komme ich sofort mit Lösungsvorschlägen. Wenn ich keine Hoffnung hätte, sowohl im individuellen als auch im politischen Bereich, würde ich gar nicht aktiv sein können. Und aktiv zu sein, ist für mich die Überlebensmöglichkeit angesichts der grauenvollen Dinge, die geschehen«.

Blick nach Österreich

Von Österreich lernen, heißt siegen lernen? Eine überraschende Frage, schließlich dominiert in unserem Nachbarland bisher ein Überbietungswettbewerb der Rechtsparteien Richtung Orbanisierung. Doch auch der Publizist Robert Misik bezeichnet die Sozialdemokratie als »Partei der Hoffnung«. Er legt ein konzentriertes Gegenkonzept dazu vor, dass Pessimismus, Ängste und Protest sich von den Visionen des Besseren entkoppelt haben. Anlass seiner Schrift ist der Neustart der SPÖ mit ihrem neuen Vorsitzenden Andreas Babler, in dem er den »warmherzigen Fürsprecher der ›ganz einfachen, normalen Leute‹« sieht. Der Band ist eigentlich das, was früher die kleine Schulungsbroschüre war. Ein Orientierungsangebot, das in jedem Ortsverein der SPD – so es dort noch Grundsatzdiskussionen und Bildungsabende gibt – auf die Tagesordnung gehört. Denn Misik beschreibt in knappen und präzisen Worten das Profil einer Sozialdemokratie, der mit einer »Politik von unten« der Wiederaufstieg in einer Situation, in der Politik wieder existenziell geworden ist, gelingen könnte. Fast eine Zusammenfassung vieler Motive aus den anderen Büchern:

Es geht um eine Politik, die Gefährdungen der Demokratie, des Pluralismus, der Liberalität abwehren muss. Eine Politik, die den einzelnen schützt und wirklich etwas gegen wachsende Ungleichheiten (Vermögen, Einkommen, Lebenschancen) tut. Eine Politik, die das, was für ein gutes Leben wichtig ist, vor dem Marktprinzip schützt.

»Das, was für ein gutes Leben wichtig ist, muss vor dem Marktprinzip geschützt werden.«

Eine Politik, der es um die Verschiebung der »Mitte« nach links geht, der es darum geht, das Vertrauen der veränderten arbeitenden Klassen zurückzugewinnen. Eine Politik, die sich sowohl der Lebensbedingungen der Bedrängtesten - auch beim ökologischen Umbau - annimmt als auch progressiven Emanzipationsbewegungen (im Sinne des toleranten »Leben und leben lassen«) empathisch begegnet. Eine Politik, die konkrete Verbesserungen des Lebens mit einem attraktiven Bild von einer besseren Welt verbindet. Dazu stößt man bei Misik sogar wieder auf den – wohl nur in Deutschland wegen des DDR-Wortes vom »Realsozialismus« so tabuisierten – Begriff des demokratischen Sozialismus als Freiheitsbewegung.

Alle diese Neuerscheinungen lehren uns: Ohne die Bedeutung des derzeit wahrlich notwendigen Krisenmanagements der Bundesregierung zu unterschätzen, wird sozialdemokratische Politik nur dann überzeugender werden, wenn sie auf der Basis ihrer traditionellen Werte reformpolitische Analysen und Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft anbietet, wenn einzelne Reformschritte auf klare Ziele hin orientiert sind, wenn die Grundhaltung: wir können die Welt zum Bessern verändern, Fortschritt ist möglich, wieder stimmt. Dann könnte die SPD wieder zu einer kräftigeren Stimme der Hoffnung werden.

Peter Brandt/Detlef Lehnert: Eine kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2023, 244 S., 20 €.

Carsten Brosda: Mehr Zuversicht wagen. Wie wir von einer sozialen und demokratischen Zukunft erzählen können, Hoffmann und Campe, Hamburg 2023, 350 S., 25 €.

Robert Misik: Politik von unten. Gelingt das Comeback der Sozialdemokratie? Picus, Wien 2023, 174 S., 20 €.

Gesine Schwan: Warum ich die Hoffnung nicht aufgebe. Ein Gespräch mit Holger Zaborowski, Patmos, Ostfildern 2023, 160 S., 22 €.

Soziale Demokratie als Überlebenspolitik. Wolfgang Thierse und Thomas Meyer im Gespräch über die politischen Zeitläufe (herausgegeben von Klaus-Jürgen Scherer und Wolfgang Schroeder). Schüren, Marburg 2023, 192 S., 20 €.

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