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Was Labour aus der britischen Unterhauswahl lernen muss Hoffnung trotz Desaster

Es ist eine Ironie des Brexit. Boris Johnson gewinnt die Unterhauswahl am 12. Dezember und schlägt dabei vor allem die Politik seiner Amtsvorgänger aus der eigenen Partei. Es war ein strategisches Meisterstück, dessen Erfolg bis zur letzten Minute ungewiss war, aber die Konservativen haben mit klaren Botschaften die Amtszeiten David Camerons und Theresa Mays abgeräumt.

Cameron stand für eine rigorose Sparpolitik, die bei Bildung, Infrastruktur sowie Gesundheits- und Sozialdiensten harte Einschnitte machte. In seiner Amtszeit traf es die sozial Schwachen. London zog dem Rest des Landes wirtschaftlich davon, was auch zum Erfolg von Nigel Farage, dem Brexit-Architekten par excellence, beitrug. Cameron war es auch, der den Briten mit seinem historischen Kapitalfehler eines Referendums den Brexit einbrockte, ein mit Europa lavierender Jeremy Corbyn hin oder her. Theresa May musste Camerons Erbe verwalten und sollte den Brexit liefern, einer Aufgabe, der sie zu keinem Zeitpunkt gewachsen war.

Dazu brauchte es den vom eigenen Humor überzeugten, eloquenten und narzisstischen Eton-Kommilitonen von David Cameron. Boris Johnsons Slogan »Get Brexit Done« war unmissverständlich, hallte durch jede Berichterstattung und reüssierte bei vielen Wahlkampfauftritten. Die Strategie seines berüchtigten Spindoktors Dominic Cummings ging auf: Ein klarer Linksschwenk in der Wirtschaftspolitik, weg von der Austeritätspolitik Camerons hin zur Erhöhung öffentlicher Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur verbunden mit einem Rechtsschwenk bei Immigrations- und Identitätsfragen.

Dieser Mix aus policy und identity schlug politisch wie eine Bombe ein und brachte die »rote Wand«, ein breites Band von traditionell Labour-dominierten Wahlkreisen von Liverpool bis Newcastle mit vorwiegend klassischen Arbeitermilieus am Wahlabend zu Fall. Insgesamt verbesserten sich die Tories von knapp 9 % bei der Europawahl im Mai auf fast 44 % bei der Unterhauswahl im Dezember – von einer existenziellen Krise zu einem soliden Mandat in etwas mehr als sechs Monaten. Selbst Johnsons überraschend schwache Leistung als Wahlkämpfer konnte dem Erfolg der Tories nicht im Wege stehen. Seine öffentlichen Auftritte waren verstellt, einen richtigen Punktsieg gegen seinen Kontrahenten konnte er im direkten Duell nicht landen. Im Gegenteil, seine Kampagne begann und endete holprig.

Der Vorsitzende der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, spielte am Wahlabend eine bedauernswerte Rolle. Nach dem gefühlten »Überraschungserfolg« gegen Theresa May zwei Jahre zuvor, der trotz alledem faktisch eine Niederlage gegen eine der schwächsten Kandidat/innen für das Premierminister-Amt blieb, hatten sich Corbyn und seine Unterstützer dieses Mal mehr ausgerechnet. Doch letztlich reichte es nicht. Vieles, was vor zwei Jahren noch in die Karten von Labour spielte, funktionierte dieses Mal nicht. Die Referenz war nämlich nicht die Europawahl, sondern die Unterhauswahl von 2017, in der Theresa May eine krachende Niederlage erlitt. Was lief im Dezember anders?

Die Vorstellung einer Regierung unter Jeremy Corbyn schreckte viele Wähler/innen im gemäßigten Zentrum der Labour-Partei ab. Wer vor zwei Jahren noch guten Gewissens aus Protest für Labour stimmen konnte, war jetzt drauf und dran, für mehr politische und ökonomische Unsicherheit zu stimmen. Dagegen waren die Konservativen für viele ein sicherer Hafen.

Auch hinsichtlich der Haltung zum Brexit verlor Labour Stimmen in mehrere Richtungen. Jene, die noch an den Verbleib in der EU glaubten, fühlten sich bei den Liberaldemokraten besser aufgehoben, jene, die endlich einen Schlussstrich unter das Thema Brexit ziehen wollen, votierten für Johnson oder die Brexit-Partei. Labour stand mit seiner schwammigen Einstellung allein auf weiter Flur. So sehr Jeremy Corbyn allgemein für Haltung und klare Positionen steht, so wenig durchschaubar blieb für die Wähler/innen seine Brexit-Strategie. In einer Wahl, die für Viele ein zweites Brexit-Referendum bedeutete, war das fahrlässig. Eine Partei, die, wie Corbyn wiederholt klarstellte, sowohl Brexit-Gegner/innen als auch Brexit-Befürworter/innen ein Angebot machen zu wollen, verlor somit auf beiden Seiten des Grabenkampfes an Glaubwürdigkeit und Stimmen.

Labour hatte die falschen Konsequenzen aus der Europawahl gezogen und sich zu sehr auf die Loyalität seiner Stammwählerschaft verlassen. Die Brexit-Partei von Nigel Farage war die Gegenspielerin, nicht die Liberaldemokraten. Sie trat nur in den von der Opposition dominierten Wahlkreisen an und lieferte damit den Konservativen Vorschub. Auch wenn am Ende des Tages nur einige Wahlkreise aufgrund der rechten Allianz zwischen den Tories und Farage verloren gingen, so schmerzte deren Verlust vor allem in der sozialdemokratischen Seele. Alternativ hätte Labour eine progressive Allianz mit Liberaldemokraten und Grünen bilden können, aber dafür war nach den intensiven parlamentarischen Gefechten um den Brexit im Herbst zu wenig Vertrauen auf allen Seiten vorhanden. So gingen viele Sitze knapp verloren, weil sich die progressiven Stimmen auf Labour, Liberaldemokraten und Grüne verteilten.

Corbyn scheiterte auch damit, parteiintern eine Allianz zu schmieden. Antisemitismus-Vorwürfe gegen ihn hatten schon lange vor der Wahl den Austritt einiger Abgeordneter bewirkt. Seine eigenen Umfragewerte sanken immer weiter und machten ihn zum historisch unbeliebtesten Oppositionsführer. Ein radikales Parteiprogramm, das sich oft im Kleingedruckten verlor, konnte bei den Wähler/innen weniger punkten. Ein freier Breitbandanschluss für alle durch Teilverstaatlichung der British Telecom kam eher wie ein Sozialismus des 20. und nicht des 21. Jahrhunderts daher.

Die Labour-Seele war am Tag nach der Wahl mit gemischten Gefühlen aufgewacht. Die einen trauerten um die verpasste Chance, endlich einen linken Politikwechsel in Großbritannien einleiten zu können. Bei den anderen, und da gehörte immer noch ein Großteil der Abgeordneten der Fraktion im Unterhaus dazu, stellten sich Erlösung und das Gefühl ein, es die ganze Zeit schon besser gewusst zu haben. Das Ende der Ära Corbyn war für sie über Nacht greifbar geworden. Selbst Parteimitglieder, die ihn noch 2015 zu ihrem Vorsitzenden gewählt hatten, konnten sich im Wahlkampf zuletzt nicht mehr wiederfinden.

Doch bei aller Kritik am Kurs Corbyns: Die Wahl zeigt auch, dass linke Politik in Großbritannien eine Zukunft hat. Labour konnte mehr als zwei Drittel der Unter-25-Jährigen von seinen Ideen überzeugen. Das macht all jenen Hoffnung, die einen Regierungswechsel in spätestens fünf Jahren anstreben. Bis dahin, das bleibt zumindest zu hoffen, wird der Brexit nicht mehr das bestimmende Thema sein. Aber mit einer Politik nur für die Jugend gewinnt man in einer alternden Gesellschaft keine Wahl. Das mussten vor allem die Mitglieder der Momentum-Bewegung lernen, in der sich 2015 zumeist junge Menschen zusammengeschlossen haben, um Corbyn aktiv zu unterstützen.

Bei Labour muss sich jetzt einiges ändern, denn noch nie haben die Tories fünf Wahlen in Folge gewonnen. Im Idealfall findet Labour nun eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden, die/der weder mit Tony Blair noch mit Jeremy Corbyn in Verbindung gebracht wird. Das wäre ein frischer Start. Wer diese Rolle ausfüllen könnte, ist derzeit aber noch offen. Ob sich die Spitze der Partei zudem nicht nur personell neu aufstellen, sondern auch inhaltlich umorientieren wird, hängt auch davon ab, ob parteiintern die Bewegung Momentum die Oberhand behält.

Für Europa steht damit fest, dass der Brexit sehr bald wieder auf der Tagesordnung stehen wird. Der Kompromiss wird weniger britische Zugeständnisse beinhalten, als es vielen Europäern lieb sein wird. Europas Sozialdemokraten sollten aus dem Fall Corbyn lernen und keine unbedachte Flucht nach links antreten ohne alle Wählerschichten mitzunehmen. Momentum und Corbyn sind auch daran gescheitert, dass Problemlösungen zu sehr aus der Perspektive junger, liberaler und gut ausgebildeter Großstädter angegangen wurden. In Erinnerung wird eine schwache Kampagne bleiben, an deren Ende ein ernüchterndes Ergebnis steht: Labour verliert 59 Sitze im Unterhaus. Das Land ist damit auf absehbare Zeit dem Johnsonism und einer rechten Regierung mit unberechenbaren Hardlinern ausgeliefert.

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