Es war ihr eine Herzensangelegenheit. Das spürt man beim Lesen sofort. Nach 50 Jahren Engagement für die lateinamerikanische Literatur hat die Hispanistin und Kulturvermittlerin Michi Strausfeld das Resümee ihrer fruchtbaren Arbeit gezogen und Lateinamerika, seinen Literaturen und dessen Leserschaft ein großes Geschenk gemacht: Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren ist die Geschichte Lateinamerikas, erzählt – und das ist das Besondere – mit den Werken seiner Autoren und Autorinnen. Wie in den zahlreichen Anthologien und Materialsammlungen, die Strausfeld während ihrer Tätigkeit bei Suhrkamp und später bei S. Fischer herausbrachte, tritt sie zurück in die zweite Reihe und überlässt denen das Wort, die die 500-jährige Geschichte seit der Entdeckung durch Christoph Kolumbus bis heute in vielen Geschichten, Chroniken und Romanen, Essays und Gedichten bereits beschrieben haben.
Das Buch ist ein Zeichen großer Verbundenheit mit dem lateinamerikanischen Kontinent und ein Appell an Europa, sich der gemeinsamen Vergangenheit zu erinnern, anzuerkennen, dass die Eroberung und Kolonialisierung Amerikas eben auch ein Teil der europäischen Geschichte ist, und dass man auf dieser Basis einen Dialog auf Augenhöhe führen sollte – für die gegenseitige Unterstützung in einer globalisierten Welt mit ihren politischen, ökonomischen und ökologischen Verwerfungen.
Strausfelds eigenes Schlüsselerlebnis war Gabriel García Márquez' Meisterwerk Hundert Jahre Einsamkeit, das ihr 1967 – gerade erst veröffentlicht, aber bereits das Literaturereignis schlechthin – bei ihrem ersten Studienaufenthalt in Peru in die Hände fiel: Die Geschichte der Familie Buendía in Macondo öffnete ihr die Augen für eine ganz neue Art von Literatur, die ihr in ihrer Lebendigkeit und überbordenden Vorstellungskraft ein »enormes ästhetisches Vergnügen« bereitete und gleichzeitig eine Menge Kenntnisse über den Kontinent, die Menschen und ihre Lebensweisen, über die Landschaften und den Reichtum der Natur vermittelte. Und was für ein Glücksfall: Strausfeld begann ihre literarische Entdeckungsreise, als die Aufbruchstimmung der kubanischen Revolution von 1959 in den Ländern noch nachhallte und ein ganzer Club lateinamerikanischer Herren damit beschäftigt war, Romane zu schreiben, die sofort in den Kanon der Weltliteratur eingereiht wurden. Dank Alejo Carpentier, Carlos Fuentes, Octavio Paz oder Augusto Roa Bastos begriff sie, »dass Literatur und Politik in Lateinamerika untrennbar verbunden« sind: Gelbe Schmetterlinge treffen auf die Herren Diktatoren.
Die Wahrheit zutage fördern
Die enge Verknüpfung von Literatur und Politik erklärt Michi Strausfeld mit dem anhaltenden Trauma extremer Gewalterfahrung, die mit der Eroberung Lateinamerikas und der Ausrottung der indigenen Bevölkerung begann. In den 300 Jahren dunkelster Kolonialzeit ging es so weiter. Nun wurden auch noch die Sklaven aus Afrika hier unterdrückt und ausgebeutet. Dann die brutalen Befreiungskriege und anschließend die Machtansprüche der kleinen und großen Caudillos auf die neu entstehenden Territorien. Schließlich im 20. Jahrhundert der US-Imperialismus, sein Einfluss auf die sich abwechselnden rechten und linken (Militär-)Diktaturen und die blutigen Revolutionen: Wie ein roter, gewaltiger Strom windet sich die Violencia durch die lateinamerikanische Geschichte. Gleichzeitig gab und gibt es die unermüdlichen Bemühungen der Herrschenden, der spanischen Krone, der katholischen Kirche, später der hausgemachten Señores Dictadores und der Revolutionshelden genau diese Unmenschlichkeitsexzesse zu vertuschen, sie aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Doch von Anfang an sind sich einzelne Augenzeugen, Mönche wie Bartolomé de Las Casas oder einfache Soldaten wie Bernal Díaz del Castillo ihrer Aufgabe bewusst, davon in Chroniken oder Reiseberichten Zeugnis abzulegen. Es sind viele Stimmen, die Strausfeld in ihrem Buch zusammengetragen hat und wir erfahren Ungeheuerliches.
Diese Stimmen wiederum gruben Autoren wie Gabriel García Márquez, Ernesto Cardenal oder Maria Vargas Llosa aus, als sie begannen, sich mit der Vergangenheit des Kontinents auseinanderzusetzen, um die lateinamerikanische Gegenwart der 60er und 70er Jahre zu verstehen: Woher kommen diese Peróns und Pinochets, diese Somozas und Batistas? Warum sind unsere Gesellschaften so labil, die Demokratien so fragil? Wieso gibt es trotz des Reichtums an Bodenschätzen und Rohstoffen diese Armut und soziale Ungerechtigkeit? Viele Schriftsteller haben sich für ihre Länder eingesetzt und sich politisch engagiert. Aber ihre wichtigste moralische Aufgabe sahen sie darin, als Chronisten ihrer Zeit die »Wahrheit aus den Lügen der Geschichte zutage zu fördern« (Carlos Fuentes).
In der Zwischenzeit ist eine neue Generation an Autoren und – erfreulicherweise – Autorinnen herangewachsen, auf die Strausfeld selbstverständlich auch verweist. Klar, die Literatur ist heute mit anderen Wirklichkeiten, mit anderen Problemen konfrontiert. Das Leben in Lateinamerika ist nicht einfacher geworden: Die Gewalt ist nach wie vor omnipräsent und richtet sich wahllos gegen alle und alles. Die vielen Jahrhunderte der Unordnung, der Schutzlosigkeit hat den Menschen zugesetzt. Die zivilisatorische Firnis scheint dünn, darunter brodelt es heftig. Die Intention genau hinzuschauen und davon zu erzählen ist bei den Schriftstellern nach wie vor groß. Viele von ihnen kommen aus dem Journalismus. Nicht wenige studier(t)en in der von Gabriel García Márquez 1995 gegründeten Stiftung für Internationalen Journalismus (FNPI) in Cartagena de Indias: Sie haben gelernt, gründlich zu recherchieren und für ihr Material eine literarische Sprache zu finden, die die Menschen berührt, die Empathie weckt. Es lohnt sich einige von ihnen genauer vorzustellen.
Neue Autorengeneration
Saison der Wirbelstürme (2017) nennt die 1982 geborene Fernanda Melchor ihren Roman, der vom Leben der Frauen in der mexikanischen Provinz erzählt. Hier herrscht in all der Armut, Ödnis und Langeweile des Dorflebens mit krudem Aberglauben und maßlosem Drogen- und Alkoholkonsum noch immer ein vorgestriger Machismo, der Mädchen und Frauen unterdrückt, bestraft, misshandelt, sexuell ausbeutet und brutal tötet. In absatzlosen Kapiteln, in ellenlangen atemlosen Sätzen reiht Melchor Geschichte an Geschichte. Die Sprache ist von schonungsloser Vulgarität und kaum auszuhalten. Fernanda Melchor hat sich mit diesem Buch unter die wichtigsten Stimmen der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur gemischt. Der Internationale Literaturpreis, verliehen vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin, ging 2019 an sie und ihre kongeniale Übersetzerin Angelica Ammar.
Wie schnell ein ganzes Land heruntergewirtschaftet ist, zeigt sich am früher so wohlhabenden Venezuela: Noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein sicheres Zielland für Flüchtlinge aus dem Franco-Spanien, aus den Diktaturen Chiles oder Argentiniens, kam es bereits während der zweiten Amtszeit von Hugo Chávez nach 2000 aufgrund der Enteignungen und wachsenden sozialen Spannungen zu einer ersten Emigrationswelle des venezolanischen Mittelstands. Seit Chavez’ Tod 2013 befindet sich das Land in einer massiven ökonomischen, vor allem aber politischen und humanitären Katastrophe. Über vier Millionen Menschen sollen das Land bereits verlassen haben.
Darüber schreibt Karina Sainz Borgo aus Venezuelas Hauptstadt Caracas, die seit 2006 in Spanien lebt. 2019 erschien ihr erster Roman Nacht in Caracas und wurde ein Welterfolg. In atmosphärisch dichten Bildern erzählt Sainz Borgo von einer morbiden, gewalttrunkenen Stimmung in ihrem Heimatland. Der genaue Zeitpunkt bleibt unklar. Klar ist nur, es fing schon vor Jahren an. Caracas befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Es fehlt an allem Notwendigen, an Lebensmitteln, an Medikamenten, an Strom. Die Menschen hungern. Das kulturelle Leben ist tot. Doch nicht genug. Der »Comandante Presidente« Nicolás Maduro sichert seine Macht durch marodierende Banden, die fremde Wohnungen plündern oder gleich beschlagnahmen, den Lebensmittelmarkt kontrollieren und die nächtlichen Straßen in bürgerkriegsähnliche Szenerien verwandeln. Studenten werden gekidnappt und vor die Wahl gestellt, sich den Marodeuren anzuschließen oder in Gefängnislöchern eingesperrt und gefoltert zu werden.
Unter diesen Umständen muss die junge Lektorin Adelaida Falcón ihre Mutter beerdigen. Es ist eine unwürdige Beerdigung. All das Liebens- und Lebenswerte, all das Schöne und Kultivierte, für das die Mutter steht, scheint nun ein für allemal in den schäbigen Zinksarg, in das erbärmliche Erdloch versenkt. Adelaida ist jetzt allein mit ihren Erinnerungen an frühere Tage, an bessere Zeiten. Es war eine Welt voller Museums- und Theaterbesuche, Sommerausflüge zu den beiden tapferen Tanten ans Meer, den leckeren Kochkünsten der Nachbarin… (Es ist eine Welt der Frauen, Männer, insbesondere Väter, kommen so gut wie nicht vor.) Es bleiben nur noch ein paar alte Fotos und der Ausweg, mit einer falschen Identität und einem gestohlenen Pass auf die »andere Seite des Meeres«, nach Europa zu gelangen.
Sainz Borgos’ Sprache ist voll schmerzender, hilfloser Wut über den Zustand ihres Mutterlandes, über den Zustand einer Gesellschaft, die noch immer unter den unbewältigten Missständen der postkolonialen Zeit des 19. Jahrhunderts zu leiden scheint, die sich nie eine eigene, solide Grundlage schaffen konnte, sondern, so schreibt sie, sich »über der Kluft ihrer eigenen Widersprüche errichtet« habe. Ihr Furor richtet sich gegen eine Gesellschaft, die sich bei jeder Gelegenheit von dahergelaufenen Möchtegern-Caudillos herunterwirtschaften und entwürdigen lässt.
Ein Genre, das per se von der Fusion des genauen Blicks auf gesellschaftliche Zu- und Missstände, investigativer Recherche, gepaart mit unbedingtem Aufklärungswillen und – im besten Fall – gutem literarischen Handwerk lebt, ist der Kriminalroman. In Lateinamerika erfreut er sich seit etlichen Jahren großer Beliebtheit, besonders in der Form des Politthrillers. Dabei gibt es einige Autorinnen und Autoren, die dem Genre ganz neue inhaltliche und formale Möglichkeiten eröffnen.
»Wer von der Gesellschaft, in der er lebt, erzählen will, muss von den Verbrechen erzählen, die dort begangen werden. Und um ein Verbrechen zu verstehen, muss man die Gesellschaft verstehen«, schreibt Claudia Piñeiro, Jahrgang 1960, die zu den meistgelesenen Autorinnen Argentiniens zählt. Ihr jüngster Roman Der Privatsekretär (2017) nutzt das Schema des Politthrillers, baut es aber zu einem vielschichtigen, gesellschaftskritischen Erzählwerk aus. Durchleuchtet wird eine Politikerspezies, die Politik wie ein Big Business betreibt, ohne gesellschaftsgestaltenden Anspruch, ohne ideelle Werte. In Lateinamerika haben diese Akteure eine lange Tradition: Der millionenschwere Bauunternehmer Fernando Rovira will mit seiner neu gegründeten Partei PRAGMA erst Gouverneur der Provinz Buenos Aires und dann Präsident Argentiniens werden. Mit einem Team ehrgeiziger, gut ausgebildeter junger Leute wird jede Kampagne minutiös geplant. Roviras Glaube an moderne Marktforschung und Massenpsychologie, an Umfragewerte und Medienpräsenz ist dabei grenzenlos. Deren Gewissheiten ordnet er alles unter, selbst sein eigenes Leben. Wäre da nicht der alte Fluch, der besagt, dass ein Gouverneur der Provinz Buenos Aires niemals Präsident werden könne.
Claudia Piñeiro verknüpft hier intelligent Wissenschaftsgläubigkeit mit Aberglauben, gegenwärtige mit archaischen Sichtweisen. Eine Grenzziehung zwischen Rationalität und Irrationalität erscheint obsolet. Multiperspektivisch erzählt, zwischen Gegenwart und Rückblenden wechselnd, ist Der Privatsekretär eine spannende und ungemein aufklärerische Geschichte über den Populismus unserer Tage.
Heiligt der Zweck jedes Mittel? Diese alte Frage steckt in Jorge Zepeda Pattersons flott bis trashig erzähltem Thriller Die Korrupten über die unseligen Verflechtungen und Abhängigkeiten der politischen Lager, der Medien, der Drogenkartelle und der Aktivitäten privater und nationaler Sicherheitsdienste in Mexiko. Zepeda Patterson, von Haus aus Journalist, wechselte zur Literatur, weil er, wie er in einem Interview erzählte, nur unter dem Deckmantel der Fiktionalisierung über all die ihm zugetragenen, unsäglichen Vorgänge in den »obersten Kreisen der Macht« berichten könne. In Reportagen wären diese Informationen lebensgefährlich. Mexiko sei ja eines der Länder mit der höchsten Mordrate an Journalisten.
Das Mittel ist in diesem Fall die Ermordung Pamela Dosantos’, deren Verhältnis mit dem Innenminister Augusto Salazar mehr als die übliche Brisanz in sich hat. Denn Pamela war nicht nur eine hinreißende Telenovela-Schauspielerin, sondern vor allem auch, was natürlich erst einmal niemand weiß, die Cousine eines mächtigen Mannes im Sinaloa-Drogenkartell. Und da Blutsverwandtschaft verpflichtet, setzte Pamela ihre guten Verbindungen zur Politik ein und »gab alle möglichen Informationen weiter, die ihrer Familie von Nutzen sein konnten«. Man müsse sich ja schließlich vor geschäftsschädigenden Regierungsmaßnahmen schützen.
Der Zweck lässt sich nun leicht erraten: Es geht um den Schutz und die Handlungsfähigkeit des mexikanischen Staates. Zepeda Patterson entfaltet hierfür ein ebenso komplexes wie brutales Szenario, in dem Katz und Maus andauernd die Rollen tauschen und nicht immer klar ist, aus welchen (moralischen oder unmoralischen) Motiven heraus die einzelnen Beteiligten handeln. Ästhetisch ist in vielen Punkten bei Zepeda Patterson noch viel Luft nach oben, der Plot aber ist gut. Man fühlt sich bestens unterhalten. Doch da liest man auf der letzten Seite die Anmerkungen des Autors und darunter den Satz »Die meisten der hier geschilderten Begebenheiten sind genau so passiert.« und es stockt einem der Atem. Die Wahrheit erscheint in Lateinamerika oft unglaublicher als die Literatur. Korrupt scheinen alle zu sein. Jeder auf seine Weise.
Michi Strausfeld: Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren. Lateinamerika erzählt seine Geschichte. S. Fischer, Frankfurt am Main 2019, 576 S., 26 €. – Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme. Roman (Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar). Wagenbach, Berlin 2019, 240 S., 22 €. – Karina Sainz Borgo: Nacht in Caracas. Roman (Aus dem Spanischen von Susanne Lange). S. Fischer, Frankfurt am Main 2019, 224 S., 21 €. – Claudia Piñeiro. Der Privatsekretär. Thriller (Aus dem Spanischen von Peter Kultzen). Unionsverlag, Zürich 2018, 320 S., 22 €. – Jorge Zepeda Patterson: Die Korrupten. Roman (Aus dem mexikanischen Spanisch von Nadine Mutz). Elster, Zürich 2020, 520 S., 24 €.
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