Menü

Iberischer Hoffnungsschimmer für Europas Sozialdemokratie

»Haben Sie Glück oder sind Sie sehr hartnäckig?«, fragte El País den neuen spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez am 25. Juni 2018 in einem Interview. »Beides«, antwortete er. Getragen von einer bunten Koalition löste der Chef der sozialdemokratischen Partido Socialista Obrero Español (PSOE) Anfang Juni in einem überraschenden Misstrauensvotum den seit 2011 regierenden konservativen Premier Manuel Rajoy ab. Im Zeichen einer nicht abreißenden Kette von Korruptionsskandalen seiner Partido Popular (PP), politischen Stillstands und Versagens in der Katalonienfrage versammelten sich die linkspopulistische Podemos und die meisten Regionalparteien unterschiedlicher Couleur hinter den Sozialdemokraten und beschertem dem Land die Chance auf einen politischen Neuanfang.

Gerne heftete sich der konservative Ex-Regierungschef nach den Krisenjahren den Wirtschaftsaufschwung als Erfolg an die eigene Brust. Eher zu Unrecht, kam die positive Wende doch mehr trotz als wegen seiner Politik. Vor allem Initiativen gegen die anhaltend hohe Jugendarbeitslosigkeit suchte man vergebens. Stattdessen gibt es Dank des Tourismusbooms mehr unqualifizierte und prekäre Arbeitsverhältnisse. Kurz nach dem verlorenen Misstrauensvotum gab Rajoy auch den Parteivorsitz ab. Nachfolger wurde Pablo Casado vom rechten Flügel. Die PP wird nach rechts rücken, auch um den Konkurrenten von der in jüngster Zeit sich konservativ gebärdenden Ciudadanos (C) Paroli zu bieten. In manchen Umfragen hatte sie die PP sogar schon überholt.

Der 46-jährige Sánchez begann seine politische Laufbahn im Jahr 2000 als Berater der Regionalregierung von Madrid und arbeitete später Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero zu. 2014 setzte er sich als Parteichef durch, wurde nach zwei verlorenen Wahlen im Dezember 2015 und Juni 2016 und zwei vergeblichen Anläufen einer Regierungsbildung (zunächst mit den Liberalen und später mit Podemos) im Herbst 2016 von der Mehrheit der eigenen Abgeordneten und Regionalvorsitzenden zum Rücktritt gezwungen. Konsequent gab er damals auch sein Parlamentsmandat zurück, da er (wie von der Mehrheit im PSOE-Parteirat beschlossen) im Parlament der konservativen Minderheitsregierung nicht das Vertrauen aussprechen wollte. Dann das Comeback: Im Mitgliederentscheid vom Mai 2017 kehrte er dann mit einem basisdemokratischen und verstärkt linken Profil an die Spitze der Partei zurück.

Nun rückte er als dritter Sozialdemokrat seit dem demokratischen Neustart im Jahr 1976 an die Regierungsspitze. Über gerade einmal 86 Sitze (von 350) verfügt die PSOE im Parlament. Podemos hatte sich zunächst eher als richtigen Koalitionspartner der Sozialdemokraten gesehen; Sánchez lehnte dies jedoch bis zuletzt ab. Er will sich alle Optionen offenhalten, statt das Land notgedrungen in einen Lagerwahlkampf hineinzuführen.

Die Reformspielräume sind begrenzt, auch deshalb hat der neue Premier zunächst geschickt eine Reihe von symbolischen Politiken des Aufbruchs ins Werk gesetzt: Sein Kabinett hat mit 17 zu 11 deutlich mehr Frauen als Männer – in Europa ansonsten unerreicht. Die sterblichen Überreste des ehemaligen Diktators Francisco Franco sollen nach dem Sommer verlegt werden. Aus Valle de los Caídos, der umstrittenen Pilgerstätte der Francisten, soll so endlich ein Ort der Versöhnung werden. Während die Alt-Francisten Sturm laufen, kann sich der Premier durch die öffentliche Stimmung bestätigt fühlen (laut Onlinezeitung Público sind 56 % dafür).

Sowohl der finanzpolitische Handlungs- als auch der sozialpolitische Reformspielraum ist klein und der Premier muss mit dem verabschiedeten Budget des Vorgängers arbeiten. Dies hatte Sánchez den baskischen Nationalisten von der Partido Nacionalista Vasco (PNV) vor dem Misstrauensvotum versprochen. Pikant: Erst kurze Zeit zuvor hatte Rajoy seinerseits mit den Stimmen der baskischen PNV das Staatsbudget durchgebracht. Die im Baskenland regierende PNV hatte sich dieses Entgegenkommen mit einem groβzügigen Investitionsversprechen für die Region honorieren lassen.

Die eigene Parteilinke sowie Podemos möchten gerne an den sozialpolitischen Schrauben drehen. Für die beiden Gewerkschaftsbünde UGT und CCOO stehen die Revision der konservativen Arbeitsrechtsreform aus dem Jahr 2012 und die Rentenfrage ganz oben auf der Prioritätenliste. Weite Teile der Bevölkerung sind über den jüngsten öffentlichen Diskurs zur Zukunft der Renten verunsichert. Im Barometer des staatlichen Meinungsforschungsinstituts CIS (vom April 2018) avancierte die Rentenfrage nach der Arbeitslosigkeit zum zentralen Problem des Landes.

Am 17. Juli erläuterte Sánchez im Parlament seine Regierungsvorhaben: Neben der Sicherung der Pensionen als zentralem Pfeiler des spanischen Wohlfahrtsstaats legte er sein Augenmerk auf mehr Geschlechtergerechtigkeit, den Wohnungsbau und als wichtigen Baustein gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit den Aufbau eines beruflichen Bildungssystems. Zudem soll die Regierung in Zukunft keine Steueramnestie mehr verfügen dürfen. Indes will er die Namen derjenigen nicht offenlegen, die von einem entsprechenden Straferlass der PP-Regierung profitiert haben. »Er wird uns bald enttäuschen, schon zu bald«, ließ Pablo Echenique, die Nummer zwei von Podemos enttäuscht vernehmen (El País, 17.7.18). Der von Sánchez verwehrte Regierungseintritt macht Podemos zu einem unsicheren parlamentarischen Partner.

Mit dem Versprechen, Gespräche mit der katalanischen Regionalregierung wieder aufzunehmen, hatte Sánchez auch die katalanischen Regionalparteien auf seine Seite gezogen. Exilant Carles Puigdemont und sein Statthalter Quim Torra (der neue katalanische Regionalpräsident) hatten vergeblich versucht, ihre Repräsentanten im nationalen spanischen Parlament zunächst von einer Beteiligung am Misstrauensvotum abzubringen – sahen sie doch in der Dauerfehde mit dem konservativen Premier taktisch die besseren Aussichten für ihre Separatismuspläne.

Sánchez versprach eine Regierung der Demokratie, machte indes auch immer deutlich, dass eine Abspaltung nicht infrage komme. PP und C werden mit Argusaugen darauf achten, dass die neue Linksregierung der separatistischen Regionalregierung in Barcelona nicht zu weit entgegenkommt. Am 9. Juli fand ein erstes Treffen mit dem neuen katalanischen Regionalpräsidenten statt. Es steckte das konfliktträchtige Terrain ab. Torra ist kein leichter Dialogpartner. In der Vergangenheit glänzte er mehr mit fremdenfeindlichen Ausfällen und zählt in der Partit Demòcrata Europeu Català (PDeCat) zum eher radikalen rechts-separatistischen Flügel.

Europapolitisch agierte Spanien seit Jahren weit unterhalb seiner Möglichkeiten. Sánchez hat sich vorgenommen, dies zu ändern. Beim Antrittsbesuch bei der Bundeskanzlerin unterstrich er zu Recht das langjährige Europaengagement der spanischen Sozialdemokraten. Ja, sein Entgegenkommen in der Frage der Rücknahme von Asylsuchenden sicherte ihm das Wohlwollen der CDU-Vorsitzenden. Mit der Wahl der sozialliberal geprägten Nadia Calviño (bislang Generaldirektorin in der EU-Kommission) als Wirtschaftsministerin signalisierte er wirtschaftspolitische Verlässlichkeit und mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron will er für eine Reform der Eurozone und die Bankenunion streiten. Aus deutscher Sicht zeichnet sich mit der neuen Regierung insbesondere in der (europäischen) Migrationspolitik viel Kooperationspotenzial ab. Nachdem die Fluchtbewegungen via Spanien in jüngster Zeit sprunghaft zunehmen, dürfte die neue Regierung auch ein gesteigertes Interesse an einer gesamteuropäischen Lösung haben.

Der spanische Hoffnungsfall ist weniger Ergebnis geschickt ins Werk gesetzter strategischer Erfolgsfaktoren als Resultat glücklicher Umstände. Indes: Glück hat ja bekanntlich der Tüchtige und mehr noch – der Mutige. Pedro Sánchez ist durch einige Tiefen gegangen und viele hatten ihn politisch schon abgeschrieben. Manche parteiinternen Widersacher warteten nur auf den nächsten Fehltritt, um erneut die Führungsfrage zu stellen.

Dabei hat der neue Premier vor allem eines gezeigt: Glaubwürdigkeit. So verkörpert er einen gelungenen politischen Neuanfang und dieser Vertrauensvorschuss strahlt – gepaart mit einer sicheren Hand für symbolische und machbare Politiken – nun auf seine Partei aus. Die jüngsten Meinungsumfragen kann Sánchez als Erfolg verbuchen: Mit 26,3 % hat sich die PSOE im Juli nach Jahren schlechter Ergebnisse (Wahl im Juni 2016: 22,7 %) erstmals wieder an die Spitze gesetzt. Ihr folgen die sich im Aufwind befindliche C (24,2 %, 2016: 13,1 %) und die PP (22,3 %, 2016: 33 %). Mit 16,1 % muss Podemos erhebliche Einbußen hinnehmen (2016: 21,1 %) – als Folge des Schwenks der PSOE nach links, aber auch aufgrund ihrer umstrittenen Positionierung in der Frage um die Zukunft Kataloniens.

Aus dem bunten parlamentarischen Anti-Rajoy-Regenbogenbündnis eine stabile Regierungsgrundlage bis zum Ende der Legislaturperiode im Juni 2020 zu machen, ist ein schwieriges Unterfangen. Vielleicht gelingt es Sánchez sogar noch, den Einstieg in eine formale Koalitionsbildung zu finden. Der politischen Kultur würde dies guttun und zudem würde es ins Bild einer veränderten politischen Landschaft passen. Die Wahlen vom Dezember 2015 hatten aus dem traditionellen Zwei- ein Vierparteiensystem (neben PP und PSOE nun mit C und Podemos) gemacht. Zum ersten Schwur wird es schon bald kommen, wenn Sánchez seinen neuen Haushalt durchbringen muss. Auch die drastisch steigenden Migrantenzahlen bringen ihn in Bedrängnis. Nach Blockierung der Mittelmeerroute über Libyen durch die neue italienische Regierung wird Spanien seit Juni zum bevorzugten Ziel von Migrant/innen aus dem Maghreb sowie den Ländern südlich der Sahara. In ihren ersten Wochen zeigte sich die neue Regierung noch offen für humanitäre Seenotrettung. Nun muss aber bald ein europäischer Plan her, will man die Kontrolle so verstärken und die irreguläre Migration reduzieren, damit man das Flüchtlingsrecht vor der neuen rechten PP-Rhetorik bewahren kann. Entscheidendes Stimmungsbarometer werden die Ergebnisse der Regional-, Kommunal- und Europawahlen im Mai nächsten Jahres sein. Vielleicht muss Sánchez dann doch schon Neuwahlen ausrufen und darauf vertrauen, dass seine Profilierungsversuche trotz begrenzter Spielräume erfolgreich waren.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben