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© picture alliance / dpa | Oliver Dietze

Ein Gespräch mit Christina Morina über linke Denktraditionen und die positive Utopie der Demokratie »Ich bin auf der Seite des Realismus«

 

NG|FH: Als Historikerin schauen Sie in die Vergangenheit zurück. Was finden Sie spannender, im Jetzt zu leben oder die Vergangenheit zu erforschen?

Morina: Ich finde es spannender, mich mit der Vergangenheit zu beschäftigen als mich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Selbstverständlich nähert man sich auch der Vergangenheit durch die Brille der Gegenwart. Aber mich treibt eine große Faszination an für Dinge, die gewesen sind, und zugleich auch dafür, wie die Dinge geworden sind. Die Frage nach der Geschichte führt also auch zwangsläufig zurück in die Gegenwart.

Sprechen wir über Utopien. Wurde schon einmal wirklich konsequent versucht, eine Utopie zur Realität werden zu lassen?

Ja, das utopische Denken als menschliches Bedürfnis gehört seit jeher zur Geschichte der Menschheit. Utopien haben eine besondere Ausprägung im Mittelalter, der frühen Neuzeit und in der Moderne bekommen. Sie sind ungemein wirkmächtige historische Phänomene und auch in der Gegenwart nicht völlig irrelevant. Utopisches Denken spielt immer noch eine wichtige Rolle, und man sollte stets darauf schauen, wie und wo es sich äußert, wo es herkommt, wer diese Ideen artikuliert und welche Folgen dies jeweils hat.

Die klassische Utopie ist die Idee einer vollkommenen Ordnung auf Erden an einen Ort, der nicht existiert, aber existieren sollte. Deshalb erdachte sich Thomas Morus sein »Utopia« als »neue Insel«. Obwohl es ältere utopische Entwürfe gab, ist das wohl die Ur-Utopie in der dann folgenden Ideengeschichte.

Gibt es auch Negativbeispiele?

Den Faschismus halte ich für tief durchtränkt mit Ideen von Gemeinschaft, die man im Ansinnen als utopisch ansehen kann, die in ihrer Wirkung aber zwangsläufig dystopisch sind. Der Nationalsozialismus etwa war mit ganz bestimmten Verheißungen und Versprechen, Ein- und Ausschlüssen verbunden, was sich in Regimegewalt und gesellschaftlicher Gewalt auf extreme Weise geäußert hat.

Inwieweit hat die Sozialdemokratie historisch Utopien verfolgt?

Sie ist im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eng verbunden gewesen mit marxistischen Denkfiguren, Theorien und Begriffen. Darin lag ein Teil der Erfolgsgeschichte der Sozialdemokratie. Sie verstand es, breit in die Gesellschaft hinein mit Karl Marx zu argumentieren: Wer Marx studiert und seinen analytischen Blick einnimmt, ist in der Lage, auf die gegenwärtige Gesellschaft wie auf eine Matrix zu schauen, sie von außen zu sehen und ihre »inneren« Gesetze zu durchschauen – was eigentlich nötig ist, um sie zu verändern.

Marx war aber nur eine geistige Quelle der Sozialdemokratie. Die andere ist die freiheitliche, demokratisierende, emanzipatorische Tradition, aus der sich die Arbeiterbewegung auch entwickelte – und die gerade in ihrem nicht-utopischen Politikverständnis, in ihrem Anspruch einer Interessenvertretung auf das Hier und Jetzt und vielleicht das Morgen hin im Kern einen reformistischen und realistischen Traditionsbestand hat. Der trug entscheidend dazu bei, dass die Sozialdemokratie in der Lage war, die Möglichkeiten, die das System damals eröffnete, zu nutzen. Also zu mobilisieren, die soziale Frage stets als politische Frage zu beschreiben, Demokratisierung zu fordern und schließlich tatsächlich zu demokratisieren.

Was hat sich verändert?

Forderungen nach Mitbestimmung und Teilhabe waren keine utopischen Träume, sondern man dachte über konkrete sozialpolitische Maßnahmen nach, die das Leben und Arbeiten der allgemeinen Bevölkerung verbesserten. Das legitimierte die Sozialdemokratie als Bewegung, und die Utopie spielte auch in der bald massenhaft gewählten Sozialdemokratie nicht die entscheidende Rolle. Das mobilisierende Moment war vielmehr die Fähigkeit, unter den Umständen das Bestmögliche herauszuholen. Ein idealistischer Pragmatismus prägte die Sozialdemokratie eher als eine utopische Energie. Letzteres hat vor allem die kommunistischen Parteien geprägt und angetrieben.

Sie haben sich auch mit dem Marxismus als Utopie beschäftigt?

Ja, mit dem Ursprung des Marxismus als politischer Weltanschauung und utopischem Entwurf. Wenn man sich mit der Geschichte des Marxismus beschäftigt, gewinnt merkwürdigerweise gerade das Nicht-Utopische an Relevanz. Marx' Werk versprach eben primär keine utopische Zukunft, keine ausformulierte Vision einer noch nicht existenten Welt, sondern Einsicht und Durchsicht in die »wirklichen« Gegebenheiten der Gegenwart. Damit einher ging die Aussicht auf die Beherrschbarkeit der Dinge und damit der Glaube, die Welt »wirklich« verändern zu können.

Wie viel Anziehungskraft geht für Sie vom Marxismus aus?

Für mich hatte der Marxismus nie Anziehungskraft. Ich bin im sogenannten Realsozialismus geboren und aufgewachsen. Für mich hatte diese Art Sozialismus eine Anziehungskraft, die gleichzeitig auch abstoßend war. Denn in der DDR zu leben bedeutete, dass man für die Verwirklichung einer Utopie lebte, die gleichzeitig tagtäglich für erreicht erklärt wurde. Das war zutiefst widersprüchlich. Es war jedem Kind ersichtlich, dass da die Dinge fundamental schieflagen. Aber das Versprechen einer vollkommen gerechten, harmonischen, friedlichen Gesellschaft hatte natürlich Ausstrahlungskraft. Allerdings sind Marxismus und Sozialismus natürlich nicht dasselbe. Aber Marx, der bärtige Mann, war allgegenwärtig. Es war klar, dass der sogenannte Marxismus eine zentrale Rolle für die DDR und ihre Selbstsicht spielte

Für wie nennenswert halten Sie den Einfluss des Marxismus auf die heutige Politik?

Auf »den Marxismus« berufen sich vor allem politische Bewegungen, die den Kapitalismus parolenartig kritisieren. Zugleich ist die Idee, die Gesellschaft anhand marxscher Fragen zu analysieren und zu verstehen zu suchen, immer noch lebendig. Es ist nötig und sinnvoll, stets auch nach den materiellen Grundlagen zu fragen und das Bewusstsein an das Sein zu binden. Diese soziologische Perspektive hat Marx als einer der Ersten entfaltet. Es wird auch über ihn hinaus gedacht, sodass die große Frage bleibt, ob es neomarxistische Denker:innen gibt, die in der Lage sind, die Weltlage im 21. Jahrhundert in seinem Sinne überzeugend weiter zu denken, also vor allem angemessen differenziert zu kritisieren.

Haben Sie eine Antwort darauf?

Ich sehe die Denker:innen nicht. Aber ich sehe jemanden wie Thomas Piketty, der es schafft, das Projekt Marx im Sinne einer allumfassenden Ungleichheitsanalyse empirisch umzusetzen. Allerdings ist das keine politische Programmatik, sondern eher das Beobachtungs- und Durchdringungsbedürfnis, das Marx gefordert und angetrieben hat. Da wirkt also nicht der Marxismus, sondern eine historisch informierte Gegenwartssicht, die von Marx inspiriert ist.

Braucht es eine Kapitalismusdebatte?

Mit Sicherheit braucht man die, denn der Kapitalismus ist ja nichts schicksalhaft Gegebenes. Eines der großen Erfolgsgeheimnisse der SPD war, dass sie lange glaubhaft beanspruchte, dass die Politik – und damit die Gesellschaft – die Wirtschaft gestaltet und nicht die Wirtschaft die Politik, dass der Mensch zumindest versucht, die Regeln und Folgen des Wirtschaftens zu bestimmen und nicht andersherum. Leider ist dieser Anspruch in den letzten Jahrzehnten immer stärker verblasst – genauso wie das Ansehen der Partei. Von einer Bundesregierung, die sich Fortschrittskoalition nennt, bin ich erstaunt, wie wenig über den Fortschrittsbegriff diskutiert und auch kritisch reflektiert wurde beziehungsweise wird. Denn der Begriff führt in die Dystopie.

»Fortschritt« führt in die Dystopie?

Der Fortschritt hat erst den Zustand hergestellt, den wir heute haben. Es ist geradezu schamlos, dass die Koalition ihn wiederverwendet, ohne diese Ebene der Fortschrittsgeschichte deutlich mit zu thematisieren. Es braucht einen neuen Begriff, es muss neu darüber nachgedacht werden. Es braucht also mehr als die klassische Kapitalismuskritik, denn nicht die kapitalistische Produktionsweise, wie Marx gesagt hätte, ist das Problem, sondern die politische Ordnung.

Wäre dann eine marxistische Rückbesinnung der SPD für Sie wünschenswert?

Nicht in diesem Sinne, das halte ich für absurd. Jedoch ist es erstaunlich, wie wenig sich die SPD der marxistischen Wurzeln ihrer Partei bewusst ist. Marx hat ein sehr spezifisches, scharfsinniges, sprachmächtiges Theorie- und Begriffsgerüst geliefert. Geniale Übersetzer wie Friedrich Engels haben das in die Breite der politisch interessierten Bevölkerung als sozialdemokratisches Programm popularisiert und gewissermaßen mehrheitsfähig gemacht.

In vielen ihrer Prognosen lagen die beiden falsch und nicht zuletzt die Vagheit und Haltlosigkeit vieler ihrer Ideen hat diese anfällig gemacht für die vielfältigen, auch destruktiven Vereinnahmungen im 20. Jahrhundert. Aber was mich in meiner wissenschaftlichen Arbeit überrascht hat – und darin sehe ich einen noch heute sinnvollen Anknüpfungspunkt – war, wie gesagt, dass nicht das utopische Versprechen der Sozialdemokratie ihr Momentum gegeben hat, sondern ihre glaubhafte Behauptung der Erklärbarkeit der Gegenwart.

Heute spricht die SPD zwar mit den großen Soziolog:innen und Philosoph:innen der Zeit, aber es fehlt der Partei selbst eben auch am intellektuellen Unterboden. Es fehlen Analysen und Begriffe, die auf den Punkt bringen, dass und was man verstanden hat. Und es mangelt an Fähigkeit kommunizieren zu können, was man sich für die Zukunft vorstellt.

Mit dem Godesberger Programm wurde die SPD in der Bundesrepublik regierungsfähig. Was hätte Engels zum Godesberger Programm gesagt?

Engels hätte es für vernünftig erklärt, weil er trotz aller revolutionären Rhetorik immer das Machbare im Blick hatte. Am Ende seines Lebens war Engels ein guter Sozialdemokrat. Im Alter hat er durch und durch parlamentarisch gedacht und darauf gesetzt, dass die Idee einer sozialen Demokratie sich in Deutschland über freie, gleiche und geheime Wahlen letztlich durchsetzen wird.

Um die Utopie begreifen zu können, kann ein Blick auf ihr Gegenteil helfen. Besitzt die Dystopie Vorteile gegenüber der Utopie?

Zygmunt Bauman beschäftigt sich in seinem Buch Retrotopia mit den populistischen Bewegungen der Gegenwart. Die Retrotopie ist darin nicht die Vorstellung eines Ortes in der Zukunft, sondern Bauman schreibt, dass im Populismus die Vergangenheit den Ort der Zukunft einnimmt. In ihrer Verherrlichung von Verwurzelung, in ihrem tribalistischen, gemeinschaftsversessenen Idealismus, sind solche Vorstellungen voller dystopischer Sprengkraft.

Es kann Dystopien geben, die gegen einen zu starken utopischen Glauben immunisieren. Die genaue Analyse von Dystopien kann also aufklärerisch wirken. Ansonsten sind Dystopien als Deutungsmuster wichtig, weil sie eine Form der Gegenwartskritik sind beziehungsweise ermöglichen. Denn darin werden Erfahrungen und Ängste in Bezug auf die Gegenwart und Zukunft verarbeitet.

Ich würde die Dystopie daher nicht als das Gegenteil von Utopie sehen, denn der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, ist effektive Gegenwartskritik. Retrotopien führen in den Abgrund, weil Gemeinschaften darin als ethnisch homogen gedacht werden. Solche Vorstellungen haben viel Zerstörungspotenzial, deshalb ist Retrotopie ein genialer Begriff, der utopisches und dystopisches Denken als zwei Seiten derselben Medaille zeigt.

Kann es helfen, eine Dystopie zu entwerfen, um eine Utopie zu erreichen? Zum Beispiel darüber, wie wir wirtschaften?

Das ist eine schwierige Frage. Die große Herausforderung für die Gegenwart ist, dass man die Folgen des Klimawandels jetzt auf eine Art und Weise durchdenken und diskutieren muss, die weder dystopisch noch utopisch ist. Wenn wir nur in dystopischen Dimensionen denken, dann geben wir auf. Dann liest man sich eine Stunde ein und beschließt, dass die Katastrophe vorgezeichnet und unabwendbar ist. Andersherum reicht es nicht aus, sich den grünen Planeten nur als Utopie auszumalen. Die Schwäche jeder Utopie ist, dass sie nicht vom Ist-Zustand ausgeht, sondern vom Idealzustand.

Warum ist das ein Problem?

Damit wird nicht gesagt, wie man aus dem jetzigen Zustand zur Utopie kommt. Deswegen ist es unbedingt nötig, systematischer darüber nachzudenken, wie wir selbst mit dieser Krise umgehen und auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln wir aus ihr herauskommen können.

Und wie sollten wir damit umgehen?

Gerade in Demokratien, in denen Veränderungen nicht abrupt herbeigeführt werden können, ist eine offene Debatte über die unvermeidlichen Zumutungen der nahen Zukunft nötig. Weil man Mehrheiten, überzeugte Bürgerinnen und Bürger, braucht. Der Klimawandel wird uns viel abverlangen. Wenn man das allerdings als Dystopie formuliert, als reine Verzichtserzählung, ist das für eine demokratische Gesellschaft mit ihren Freiheitsidealen, ihrem Liberalismus und Individualismus, die wir so schätzen gelernt haben, ein aussichtsloses Unterfangen. Was wir brauchen, ist ein kreatives Nachdenken und öffentliches Reden über die Gegenseite: über das, was wir durch Verzicht gewinnen beziehungsweise noch bewahren können.

Blicken wir nochmal auf die Bundesregierung. Können die Ampelparteien Utopien verfolgen oder sollten sie eher realpolitisch handeln?

Ich bin eher auf der Seite des Realismus. Mit Utopien sollte man vorsichtig sein. Demokratische Politik ist aus meiner Sicht dazu gezwungen, sich mit dem Ist-Zustand auseinanderzusetzen. In einer Demokratie ist man dazu verpflichtet, Dinge vom derzeitigen Sein aus zu rechtfertigen und von diesem Sein aus als veränderungsoffen zu sehen und zu gestalten.

Sie sind keine Anhängerin von Utopien?

Wenn Sie mich so fragen, ist vielleicht die Demokratie die einzige Utopie, an der ich festhalten würde. Wissend, dass sie ein Zustand ist, der niemals perfekt sein wird, gerade das macht ja die Demokratie aus. In dem Sinne ist sie eine sehr untypische Utopie und insofern könnte man sie durchaus in ein Parteiprogramm schreiben. Denn dieser Ansatz zeigt ein Bewusstsein dafür, dass die Demokratie ein zerbrechliches Gemeinwesen ist, eine Ordnung, die immer wieder neu verhandelt wird und die davon lebt, dass sie immer wieder neu verhandelt werden muss. Aber grundsätzlich bin ich eher utopiekritisch. Ich fühle mich dem mannheimschen Ideal verbunden – immer danach zu fragen, aus welchem Kontext ein bestimmtes Denken, also auch ein utopisches Denken kommt, und welche gesellschaftliche Wirkung es hat. Die analytisch-kritische Perspektive ist mir näher als die idealistisch-programmatische.

Sie äußern sich auch regelmäßig zu Themen aus der Gegenwart, wie Black Lives Matter und forschen zum Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen. Welche Lehren sollten wir für die Gegenwart ziehen?

Gegen die Frage nach den Lehren sträuben wir Historiker:innen uns. Ich glaube, was man der Gesellschaft mitgeben kann, ist begrenzt. Wir können keine Eins-zu-eins-Lehren ziehen. Gute historische Forschung kann dazu beitragen, im Hier und Heute die richtigen Fragen zu stellen und Kontingenzen in ihrer ganzen Vielfalt und möglichen Ambivalenz zu erfassen.

Wenn man etwa vergangene Konflikte in ihren Ursachen und Folgen hinreichend klar durchdringt, lässt sich daraus lernen, was entscheidende Zäsuren bedingt und ausmacht oder – mit Blick etwa auf Putins Krieg in der Ukraine, auf den ich oft angesprochen werde –, dass Diktatoren in der Regel tun, was sie sagen, und sagen, was sie tun. Und, wenn überhaupt, akzeptieren sie nur die Grenzen, die man ihnen entschlossen setzt.

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