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© Gerngross Glowinski Fotografen

»Ich habe großes Vertrauen in die gesellschaftliche Dynamik«

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt veröffentlichte er zusammen mit seiner Frau Marina (Professorin für Literaturwissenschaft an der TU Dresden) das Buch »Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft«. Im Gespräch mit Thomas Meyer erläutert er, welche Herausforderungen, aber auch Chancen mit der umfangreichen Zuwanderung verbunden sind und wie die divergierenden Kräfte beherrscht werden können. Administrative Vorgaben, wie sie etwa in den Debatten um eine »Leitkultur« gefordert werden, helfen seiner Ansicht nach wenig.

 

NG|FH: Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert D. Putnam hat in seinen Studien versucht herauszufinden, welches Verhältnis zwischen ethnisch-kultureller Mischung in den amerikanischen Wohnbezirken und dem zivilgesellschaftlichen Engagement der Menschen, die dort wohnen, besteht. Sein Fazit: Wo Integration im Sinne eines »neuen Wir« nicht gelingt, sind die Folgen desaströs. Die Menschen ziehen sich in ihre eigenen vier Wände zurück und das öffentliche Leben zerfällt. Er nennt das den Schildkröteneffekt.

Sie haben sich in Ihrem letzten Buch auch mit dem »neuen Wir« beschäftigt. Gibt es das bei uns bereits, ist es im Entstehen begriffen oder wie ist da der Stand?

 

Herfried Münkler: Integration ist im Entstehen begriffen, allerdings nicht generell. Sie entsteht z. B. in den kleinräumigeren politisch-sozialen Landschaften Süddeutschlands, also in Baden-Württemberg und auch Bayern, mehr als dort, wo es große Agglomerationen von Menschen gibt, wie im Ruhrgebiet, in Berlin oder Hamburg. Das ist relativ leicht nachvollziehbar, weil in Kleinstädten oder Dörfern zum einen die Berührungsflächen zwischen »Ureinwohnern« und Neuankömmlingen sehr viel größer sind, zum anderen aber auch der Anpassungsdruck größer ist und sich deshalb Parallelgesellschaften sehr viel seltener verfestigen können. Eine Parallelgesellschaft kann dabei im positiven Fall durchaus ein temporäres Vehikel zur Integration sein, sich im negativen Fall aber verhärten und zu einer Schildkrötenstruktur im Sinne Putnams entwickeln.

Für die Politik folgt daraus, dass man sich Gedanken machen muss, wie man das, was auf dem Weg zu einem guten »Wir« relativ gut vorankommt, verstärkt und dort, wo es nicht gut läuft, ansetzt, um Verbesserungen zu erzielen.

Wir befinden uns momentan in einem Lernprozess. Der Mechanismus der Integration erfolgt nämlich über Arbeit. An der Schnittstelle zwischen Arbeits- und Zivilgesellschaft funktionieren Integrationsprozesse relativ gut. Wir kritisieren allerdings, dass nach dem Anwerbestopp 1973 versucht wurde, insbesondere die nachgezogenen Ehefrauen aus dem Arbeitsprozess herauszuhalten. Diese entwickelten eine Abschottungsidentität und wurden zu Hüterinnen des Religiösen und der Tradition, saßen zu Hause und hatten kaum Kontakt mit der deutschen Umgebung.

Im europäischen Vergleich aber läuft Integration bei uns deutlich besser als in den Nachbarländern.

 

NG|FH: Sie vertreten ja auch die These, dass es sogar ein Vorteil sei, dass Deutschland kein bestimmtes Integrationsmodell hat, sondern dass es viele Orte der Integration gibt, etwa die Arbeitswelt und die Zivilgesellschaft. Aber benötigen diese Integrationsorte nicht einen gemeinsamen Rahmen, der für alle verbindlich ist? Manche nennen das »Leitkultur«.

 

Münkler: In Deutschland ist Integration nicht politisch gesteuert worden, sondern es war eher ein Prozess des muddling through, wodurch es auch eine höhere Lernintensität und größere Flexibilität gab. Und das zeigt schon, dass dort, wo sich die Politik mit Vorschriften über ein Problem hermacht, eher eine Art Lernblockade eintritt.

Deshalb glaube ich, dass der Begriff »Leitkultur« etwas Ambivalentes hat. Wenn er in die Hände der Politik fällt, dann muss er administriert werden und wird dadurch in gewisser Weise juristisch handhabbar. Das Ergebnis ist, dass genau das schrittweise Vorgehen, das am deutschen »Modell«, wenn man das so nennen will, erfolgreich war, blockiert wird.

 

»Wenn ein Einwanderer in der deutschen Schrebergartenkultur

angekommen ist, dann ist das für Integration sehr viel erfolgversprechender

als Prüfungen oder wenn jemand trainiert, Hände zu schütteln.«

 

Wenn man Leitkultur als das Ergebnis eines Eintritts in den Geltungsbereich des Grundgesetzes begreift, inklusive gewisser sozialer Gepflogenheiten, die mit der Zeit erlernt werden; und wenn man weiter davon ausgeht, dass es für Zugewanderte umso leichter ist, sich auf das Eingewöhnen einzulassen, je weniger es als Assimilation dargestellt wird – dann ist das auch so etwas wie eine Leitkultur. Aber es funktioniert eben gerade nicht über die administrative Struktur von Staatlichkeit oder substaatlicher Institutionen bis hinunter zur kommunalen Ebene, sondern es läuft in hohem Maße über Partizipation in der Arbeits- und Zivilgesellschaft.

Wenn also ein Einwanderer aus Anatolien in der deutschen Schrebergartenkultur angekommen ist, dann ist das, glaube ich, für Integration sehr viel erfolgversprechender als Prüfungen oder wenn jemand trainiert, Hände zu schütteln.

 

NG|FH: Also geht es nicht allein um die Sprache?

Münkler: Nein, keineswegs. Aber die Beherrschung der deutschen Sprache ist eine wichtige Integrationsvoraussetzung.

 

NG|FH: Bassam Tibi hat gesagt, dass Leitkultur auf jeden Fall eine europäische sein muss. Gibt es darin, so wie Sie es skizzieren, etwas spezifisch Deutsches?

 

Münkler: Zugespitzt gesagt irrlichtert Bassam Tibi seit etwa zwei Jahrzehnten durch das Fach und die politischen Feuilletons und man weiß nie genau, was er meint. Ab und zu ist er auch der Auffassung, es sei alles schief gelaufen, weil man vor zehn Jahren nicht auf ihn gehört hat. Ansonsten: In Deutschland hat Integration über Arbeit funktioniert, das ist das spezifisch Deutsche.

 

NG|FH: Raed Saleh, SPD-Fraktionsvorsitzender im Berliner Abgeordnetenhaus, versucht gleichwohl, in seinem Buch Ich deutsch: Die neue Leitkultur, Tibi mit seinen Europaideen wiederzubeleben.

 

Münkler: Im Augenblick ist es ja ganz schwierig zu sagen, was Europa eigentlich ist. Gehören auch die Visegrád-Staaten dazu? Wenn ja, bräuchten wir nicht mehr weiter über Leitkultur nachdenken und über eine europäische schon gar nicht. Dann wäre man wieder in einer sehr nationalen Ecke.

Deswegen bin ich mit dem Europäischen ein wenig zurückhaltend. Europa befindet sich zurzeit in einem Prozess des Sich-Neu-Erfindens. Wenn man westeuropäische Leitkultur im Sinne einer strikten Entpolitisierung von Religion versteht, dann könnte man das als europäisches Konzept verstehen. Man muss allerdings dazu sagen, dass das vor allem ein deutsches Konzept ist, welches aus der Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges entstanden ist. Es ist kein französisches Konzept, denn dieses hat ja sehr lange auf die Einheit von König, Gesetz und Glaube, also die Aufhebung des Edikts von Nantes, gesetzt. Der laizistische Staat, das spätere französische Modell, ist auch etwas anderes als eine von unten kommende Privatisierung des Religiösen. Hier überlagern sich also europäische Entwicklungsstränge, die teilweise erst im 20. Jahrhundert und hier vor allem in Westeuropa zueinander gefunden haben.

 

»Herkunft darf den Aufstieg in der Arbeitswelt wie im

sozialen Leben nicht blockieren.«

 

NG|FH: In Ihrem Buch skizzieren Sie eine substanzielle Idee: Folgende Elemente machen danach das Deutschsein aus: dass sich jemand wirtschaftlich selbstständig betätigt, sich für sich selbst in erster Linie verantwortlich fühlt; dass man der Gemeinschaft vertraut, sich auf sie bezieht; dass Religion, Liebe und Familie Privatangelegenheiten sind; und dass das Grundgesetz respektiert wird.

 

Münkler: Ich würde noch hinzufügen, dass wir unsere Vorstellung des Für-sich-selbst-aufkommen-Könnens als Ideal ansehen, und dass es natürlich darunter ein Netz in Gestalt des Sozialstaates gibt. Und: Die Herkunft darf den Aufstieg in der Arbeitswelt wie im sozialen Leben nicht blockieren.

Das, was unsere Gesellschaft von den Neuankömmlingen erwartet, muss ergänzt werden durch die Erwartung, die die Neuankömmlinge gegenüber unserer Gesellschaft haben und haben dürfen, nämlich, dass ihnen, wenn sie leistungsfähig und tüchtig sind, Anerkennung zuteilwird und dass perspektivisch, wenn vielleicht nicht für sie selbst, dann doch für ihre Kinder, sozialer Aufstieg möglich ist.

 

NG|FH: Aber fehlt da nicht unter anderem ein gewisses Maß an Identifikation mit bestimmten Erfahrungen oder Grundelementen der deutschen Geschichte? Das ist ein altes Thema. Der britische Ökonom Paul Collier würde wahrscheinlich fragen: Wenn viele aus jenen Kulturen kommen, in denen es keine Staatlichkeit gibt und sich die Menschen vollkommen auf das Überleben der Familie oder Clans konzentrieren mussten, und wenn keine Sozialkultur, keine soziale Gesamtverantwortung, keine Solidarität ausgebildet wurde, wo sollen die dann herkommen?

Oder die Frage, wie wir uns im zivilgesellschaftlichen Raum bewegen. Gibt es nicht noch ein paar weitere wichtige Dinge dieser Art, die zur gemeinsamen Kultur dazugehören, bei denen man aber nicht voraussetzen kann, dass jeder sie im Handumdrehen übernimmt, wenn er mal eine Zeitlang hier ist?

 

Münkler: Da muss man auf die gesellschaftliche Entwicklungsdynamik setzen. Nehmen wir den Übergang von der Großfamilie als einen Kernbestand der sogenannten moralischen Ökonomie zur Kleinfamilie als Element der Marktökonomie, die nicht durch mafiöse Strukturen blockiert wird. Diesen Übergang kann man nicht verordnen. Man kann allenfalls sanktionieren, wenn Großfamilienverbände kriminell werden. Aber ansonsten muss die Dynamik der Moderne greifen, um die Menschen aus bestimmten Traditionen herauszuführen. Da bin ich eher bei der französischen Annales-Schule. Deren Erkenntnis lautet: »Mentalitäten sind die Gefängnisse der langen Dauer«. Das Alte also, das nur mühselig zu transformieren ist, kann man schon gar nicht administrativ beseitigen.

Fasst man also Leitkultur eng, dann wird sie im Prinzip zu einem Ausbürgerungsprogramm für relativ viele Deutsche, die hier geboren sind, weil sie diesen Anforderungen selbst nicht genügen. Wenn man sie nicht eng fasst, dann wird sie zu einer Banalität wie etwa das Händeschütteln – was im Übrigen bei Jüngeren gar nicht mehr zu beobachten ist, die klatschen sich eher ab. Das heißt, man versteinert einen Augenblick und stellt ihn auf Dauer und dann wird das von irgendwelchen Bürokraten überwacht. Das blockiert Integration, weil es Symboliken der Verweigerung provoziert.

Also da habe ich ein größeres Vertrauen in die gesellschaftliche Dynamik.

 

NG|FH: Im Grunde sagen Sie, wenn die Integrationsbedingungen in den verschiedenen zentralen Feldern geschaffen sind, die Menschen eine vernünftige, akzeptable Arbeit und Aufstiegsmöglichkeiten haben und in die Zivilgesellschaft einbezogen sind, dann funktioniert auch die Integration in den Klassen und in den Wohnumwelten. Das ist aber eine schwer zu schaffende Realbedingung dafür, dass eine vernünftige gemeinsame Kultur, eine Wir- oder Leitkultur, mehr oder weniger von selbst entsteht.

Nils Minkmar hat in der Rezension Ihres Buches konstatiert, dass Sie damit das geleistet hätten, was die Aufgabe der Bundesregierung, eigentlich des Bundestages gewesen wäre. Es hätte eine große Legitimations- und Zieldiskussion geben müssen, die es aber nicht gab. Sollte man die jetzt nachholen, damit sich Handlungsbereitschaft und Einsicht im diskutierten Sinne bilden können? Oder ist das, nachdem es nun einmal verpasst wurde, jetzt entbehrlich?

 

Münkler: Dafür ist es nie zu spät. Der tiefste Punkt war da erreicht, als man die Menschen, die über die Balkanroute unter äußersten Strapazen hierhergekommen sind, von jetzt auf gleich stillzustellen und in den Lagern zu passivieren versuchte. Man hätte damals besser auch seitens der Politik eine Aufforderung kommunizieren müssen, dass etwa Handwerker in Rente sich zur Verfügung stellen, um am Tag wenigstens ein paar Stunden den jungen Leuten z. B. die Arbeit mit Holz und Metall zu erklären. Damit hätte man ihnen vom ersten Tag an deutlich machen können, wie diese Gesellschaft funktioniert und, in der Form spielerischen Lernens, Perspektiven entwickeln können.

So etwas kann und muss man immer noch machen. Und natürlich wird der Wahlerfolg der AfD zwangsläufig dazu führen, dass sehr viel mehr über Integration nachgedacht wird. Da kann man nicht mehr sagen: Wenn wir ihnen subsidiären Schutz gewährt haben, dann müssen sie wieder zurück. Das gilt vielleicht für ein halbes oder ein ganzes Jahr. Wenn die Betroffenen aber schon länger hier sind, wenn es möglicherweise Kinder gibt und wenn Integration schon begonnen hat, dann ist das keine kluge Regelung. Deutschkurse müssen für alle angeboten werden und nicht nur für Syrer. Alle sollen tendenziell so behandelt werden, als würden sie hierbleiben. Wenn sie nicht hierbleiben, dann gehen sie wenigstens mit gewissen Fähigkeiten in ihre Herkunftsländer zurück.

 

NG|FH: Wenn man das alles bedenkt, muss man zu dem Schluss gelangen, es gäbe durchaus so etwas wie eine Aufnahmekapazität von Gesellschaften, wenn Integration gelingen soll.

 

Münkler: Die gibt es, ja.

 

NG|FH: Wenn die Integrationsbedingungen, die Sie nannten – Arbeitsplätze, Wohnung, Zivilgesellschaft, Schule usw. – quantitativ nicht ausreichend zur Verfügung gestellt werden können, dann kann auch der Integrationsprozess nicht wirklich in Gang kommen, oder?

 

Münkler: Genau. Das haben wir in unserem Buch auch beschrieben. Frei nach Umberto Eco: »Migration ist in Immigration zu verwandeln.« Man muss beides, Migration und Integration, in einem systemischen Zusammenhang denken. Immigration muss anhand der Fähigkeiten der aufnehmenden Gesellschaft kontrolliert und gesteuert werden. Sowohl im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, den demografischen Aufbau einer Gesellschaft, die Absorptionsfähigkeit von Dörfern, Klein- und Großstädten bis hin zum Wohnungsmarkt. Das ist gar keine Frage. Und die Deutschen werden mit denen, die ab 2015 hierhergekommen sind, auch noch sehr lange beschäftigt sein, um das erfolgreich zu gestalten.

Wir hatten damals jedoch eine Ausnahmesituation, in der es darum ging, zu verhindern – was ja durch das Schließen der Grenzen in Bayern, Österreich oder Ungarn die Alternative gewesen wäre –, dass Südosteuropa in einen Zerfallsprozess taumelt, weil die Menschen ja in fragile Staaten und wenig leistungsfähige Gesellschaften gekommen wären, die teilweise gerade erst ethnisch-religiöse Bürgerkriege überstanden hatten. Ein Schließen der Grenzen hätte zum Chaos in Südosteuropa geführt.

Da hat die Bundesregierung bzw. Deutschland gewissermaßen Europa gerettet. Aber natürlich muss man dieses Problem langfristig denken, ausgehend von den Fähigkeiten, sicher auch von den Bedürfnissen dieses Landes, Menschen aufzunehmen. Deswegen muss man auch ein Einwanderungsgesetz auf den Weg bringen, das allerdings durch eine kluge wie am humanitären Recht orientierte Praxis im Bereich der Asylgesetzgebung ergänzt werden muss.

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