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picture alliance/dpa | Markus Scholz

Ein Gespräch mit Christina Morina über rote Linien und die Anpassung an die Mächtigen »Ich wünsche mir Respekt für das Recht, so wie es gilt«

NG/FH:Frau Morina, gibt es eine rote Linie zwischen Demokratie und Faschismus?

Christina Morina: Es gibt da viele rote Linien, bestimmt durch unsere demokratische Verfassungsordnung, durch die politische Kultur und Praxis. Es gab historisch immer wieder entscheidende Momente, in denen sich die Frage stellte, ob eine politische Ordnung ins Autoritäre oder auch Faschistische abrutscht. Solche Momente haben zu tun mit Fragen der Gewaltenteilung, der Rechtsstaatlichkeit, dem staatlichen Gewaltmonopol, dem Respekt vor der parlamentarischen Demokratie. Wenn da bewusst beeinträchtigt oder zerstört wird, sind schnell viele Linien überschritten.

Ein zentraler Punkt dabei – für Sie persönlich?

Für mich ist die Grenze zu einer autoritären Ordnung überschritten, wenn man Angst hat, zu sagen, was man denkt, weil man staatliche Verfolgung fürchtet und sich dagegen nicht effektiv – also auf rechtsstaatlich gesicherte Weise – wehren kann. Da ist für mich eine rote Linie überschritten.

…wobei nun gerade die autoritären Rechten behaupten, so etwas gehe von links aus und von sogenannten Eliten. Eine Fehlwahrnehmung? Und wieso hat sie Erfolg?

Ich mache da einen Unterschied zwischen den Menschen allgemein und denen, die so etwas in rechten Parteien und Bewegungen behaupten. Bei Letzteren ist es Strategie und keine Fehlwahrnehmung. Es gehört zum Rezept, sich als ausgegrenzt zu präsentieren und als Feindbild irgendwelche angeblich alten Eliten an allem für schuld zu erklären. Auf der alltäglichen Ebene sind solche Behauptungen entweder nicht richtig durchdacht, oder sie dienen dazu, Frust zu äußern oder zu überdecken, dass man sich selbst gar nicht besonders einbringt oder auch nur informiert. Man macht es sich leicht, wenn man sich auf dieses Argument zurückzieht. Wer behauptet, er könne in unserer Demokratie mit ihrem weiten Meinungsspektrum und ihren umfassenden Freiheiten nicht sagen, was er denkt, widerspricht sich in diesem Moment durch sein Sprechen selbst.

International sehen wir eher die Verfestigung repressiver Strukturen. Massiv in Russland, neuerdings auch in den USA mit einer schlagartigen Wende hin zum Autoritären. Merken solche großen Gesellschaften es eigentlich selbst noch, wenn sie Linien übertreten, die bis dahin als unberührbar galten?

Schlagartig passiert da selten etwas. Es braucht vielfältige gesellschaftliche und systemische Voraussetzungen, um die Verwandlung einer liberalen in eine autoritäre Ordnung zu erreichen und zu betonieren. Grundsätzlich ist die Demokratie- und Kulturgeschichte je sehr eigen, nicht nur national, sondern auch regional sehr unterschiedlich. Die USA haben eine 250-jährige republikanische Tradition mit einer demokratieerfahrenen Zivilgesellschaft, die mit autoritären Angriffen anders umgehen kann als die in Russland, wo es eine vorsichtige Demokratisierung nur im Frühling 1917 und in den frühen 90ern gab. Die Demokratieerfahrungen dort sind schwächer, entsprechend leichter haben es dort die Autoritären.

Aber sind Anpassungsprozesse an autoritäre Vorgaben nicht doch überall massiv?

Die machen sich dann eher im Alltäglichen fest. Einschließlich im Alltag von Parlamenten – wie in Thüringen, wo der AfD-Alterspräsident des neuen Landtags versucht hat, die gültigen Verfahrensregeln außer Kraft zu setzen. Was nicht funktioniert hat, weil es einen wirksamen Rechtsstaat gibt. Aber man sah da ganz klar, dass letztlich das System als Ganzes zersetzt und zerstört werden soll. Wenn ich – zumindest als weiße Frau – bei uns Polizei auf der Straße sehe, habe ich keine Angst, denn ich gehe davon aus: Sie handelt nicht willkürlich. In Russland, wo der Staat mörderisch auftritt, ist das anders. In den USA wird gegen mutmaßlich undokumentierte Migranten, politische Gegner und Demons­tranten inzwischen auch mit wachsender Willkür vorgegangen, und auch das wirkt im Alltag. Die Leute fragen sich zunehmend: Wann wird es für mich selbst gefährlich?

Merkt die US-Gesellschaft in ihrer Breite, was da gerade mit ihr passiert oder verschwimmen die roten Linien völlig?

Es gibt vielfältige Anpassungsprozesse, aber auch vielfältigen Widerspruch. Beides schließt sich übrigens nicht aus. Es gibt Leute, die davor warnen, massenhaft Protest auf der Straße zu organisieren, weil Trump genau das möchte. Er hat inzwischen ein Umfeld um sich herum, das ihn nicht mehr bremst, sondern ihn eher anstachelt. In Bezug auf den Nationalsozialismus sprechen wir in der Forschung von einem Radikalisierungsprinzip – dem Führer entgegenarbeiten. Skrupelloser vorauseilender Gehorsam ist sichtbar etwa beim Vizepräsidenten oder beim Verteidigungsminister, der jetzt Kriegsminister heißen soll. Wenn es um Widerstand geht, ist es tatsächlich klug zu überlegen, was man tut und auch provoziert und was besser nicht. Was man von Deutschland aus zu wenig sieht, ist der auf allen Ebenen gründlich überlegte rechtliche, finanzielle, zivilgesellschaftliche Widerstand, der einen Haufen Geld, Zeit, Energie und Mut kostet. Und die Gerichte urteilen immer wieder gegen Trump …

…aber ihre Urteile werden am Ende vom höchsten Gericht aufgehoben?

Die entscheidenden Fälle erreichen den Supreme Court erst noch. Im Herbst und im nächsten Frühjahr wird sich das zuspitzen. Dann erst entscheidet sich, ob das höchste Gericht dem Präsidenten weiterhin derart viel Macht zuspricht wie zuletzt. Oder ob der Druck aus der demokratischen Öffentlichkeit doch etwas bewirkt.

Ist Anpassung der Normalfall, wie es sich auch in der deutschen Geschichte zeigte? Erleben wir gerade unter autoritären Regimen wieder, wie Menschen mitmachen um des Dabeiseins willen? Sind rote Linien also naiv? 

Das ist mir für das Beispiel USA zu pauschal. Ob das Liberale kaputt geht und das Autoritäre sich durchsetzt, ist von Fall zu Fall zu betrachten, die Unterschiede sind da enorm. Trump kommt nicht widerstandslos durch. Im Gegenteil: Er steckt fest und fängt dann in bester autoritärer Manier an, zu eskalieren – etwa indem er Chicago den Krieg erklärt, was klassisch faschistische Taktik ist, die Bewegung braucht den vermeintlichen Notstand zum Überleben. Anpassung an Herrschaftsveränderungsprozesse gibt es aber natürlich in allen Gesellschaften…

…zum Beispiel in der DDR, in der Sie aufgewachsen sind?

Was die Kommunisten nach 1945 unter sowjetischer Besatzung in Ostdeutschland aufbauten, basierte auf einer komplett anderen Vorgeschichte und politischen Kultur, es stand auch eine andere Absicht dahinter. Diktaturen stabilisieren sich leichter, wenn die Idee, die dahintersteht, auch wenn sie nur Propaganda ist, viele Menschen anzieht. Der Sozialismus, der Antifaschismus, der bessere deutsche Staat – auch das stützte, zumindest anfänglich, den Staat, nicht nur Mauer und Gewalt. Ideale geben einer Diktatur ein Extra an Haltbarkeit und auch Durchschlagskraft. Wenn man nun wieder den Bogen zu den heutigen USA schlägt: Die Frage ist, ob das, wofür Make-America-great-again steht, für die Mehrheit der Bevölkerung so attraktiv ist, dass MAGA noch mehr Wirkmacht erreicht. Es gibt tatsächlich noch sehr viel Rassismus, Chauvinismus und Antifeminismus. Aber ob sich da der Weg rückwärts dauerhaft als Mehrheitsprojekt etabliert, möchte ich nicht glauben.

Sehen Sie in Deutschland 35 Jahre nach der Vereinigung zwischen Ost und West immer noch unterschiedliche Grundorientierungen, unterschiedliche Schmerzgrenzen? 

Es gibt unterschiedliche Haltungstraditionen. Gewisse AfD-Positionen zum Beispiel sind in Ostdeutschland weniger anstößig, weil sich die Art und Weise, wie dort der Nationalsozialismus aufgearbeitet worden ist, deutlich vom Westen unterscheidet. Die jetzt von rechts wieder forcierte Verbindung von nationaler Einheit und sozialer Sicherheit und Wohlstand – Stichwort »solidarischer Patriotismus« – hat den Nationalsozialismus ja auch ausgemacht. In Westdeutschland wird da früher eine rote Linie gesehen als im Osten. Anders bei der Haltung zu Russland. Da gibt es im Osten häufiger eine Mischung aus Angst und Autoritätsbewunderung, weshalb man früher rote Linien zieht, wenn es um eine Abwehr von Putins Aggression geht…

…während im Westen die Tradition des Antikommunismus die Ablehnung und Polarisierung erleichtert?

Auch da gibt es historisch gewachsene Einstellungsmuster, die mobilisiert und unterschiedlich wirksam werden können. Andererseits ist der spezifische westdeutsche Nachkriegspazifismus, den ich nicht unproblematisch finde, in unserem Diskurs nicht mehr wegzudenken. Im Westen wurde die Militärdebatte zur Ukraine nun wirklich nicht im Beschleunigungsmodus geführt, sondern eher im Bremsmodus.

Können klare rote Linien in ein Spannungsfeld geraten zu dem Ziel, die Mitte zu stärken und die Gesellschaft zusammenzuhalten – wie es sich die schwarz-rote Koalition in Berlin ja vorgenommen hat?

Was heißt Stärkung der Mitte? Momentan bewegt sich die Gesellschaft als Ganzes nach rechts. Wer im Alltag auf extremistische, populistische Positionen trifft, hört sie von Leuten im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, beim gemeinsamen Sport. Das sind dann keine Netzwerke vom Rand, sondern Einstellungen in der Breite der Gesellschaft. Ich fürchte, dass die gut gemeinte Rede vom Zusammenhalt am Ende nicht sehr hilfreich ist. Demokratie heißt vor allem, Konflikt friedlich auszutragen. Wir brauchen Konflikte, Differenzen sind essenziell – genauso wie Kompromissfähigkeit. Rote Linien sind da, wo die freiheitlich-demokratische Grundordnung infrage gestellt wird. Wo Rassismus, Hypernationalismus, Diskriminierung greifen. Da kann und muss ich dann aufs Recht als Rahmen pochen. Auch, an der Hochschule zum Beispiel, mittels des Hausrechts.

Verschieben sich nicht gleichwohl nach und nach die Maßstäbe und damit auch rote Linien?

In der Tat: Was als undenkbar galt, ist mit dem Entschließungsantrag im März im Bundestag ja trotzdem passiert, ein Zusammenwirken von Union und AfD…

… und mit der Eskalation im Gazakrieg der Israelis wird es auch schwieriger, Grundsätze in konkretes Handeln zu übesetzen?

»Politisch Handelnde sollten vorsichtig mit roten Linien sein.«

Grundsätze müssen wir ohnehin immer wieder daraufhin befragen, ob sie im Wandel der Zeit noch die richtigen sind. Hinsichtlich Israels gibt es da in der Gesellschaft im Moment keinen klaren Konsens mehr. Was das für die deutsche Regierungslinie bedeutet, ist Sache des politischen Aushandlungsprozesses. Das Moratorium bei den Waffenlieferungen an Israel war eine richtige und wichtige Entscheidung, die vielen auch Hoffnung gibt, auch mit Blick auf die veränderten Umstände in Israel selbst und einer rechtsnationalistischen, teilweise rechtsextremen Regierung. Veränderliche Umstände verschieben also Maßstäbe. Barack Obama hatte einst als rote Linie ausgegeben, dass im Syrienkrieg keine Chemiewaffen eingesetzt werden dürften. Als das dann ein Jahr später tatsächlich passiert ist, hat er nicht eingegriffen. Das Kalkül, auf dem er die Linie gezogen hatte, war nun ein anderes. Rote Linien erlauben es in der politischen Kommunikation Grundpositionen und Werte schmissig auf den Punkt zu bringen. Aber politisch Handelnde sollten vorsichtig damit sein. Die syrische Opposition war damals erschüttert und bitter enttäuscht.

Gibt es eine rote Linie, die Sie für sich persönlich gerne verstärken würden?

Nein. Letztlich hat eine rote Linie auch immer etwas Autoritäres, etwas von Basta-Haltung. Sie kann auch unflexibel machen – zumal wenn man bedenkt, wie veränderlich komplexe Gesellschaften wie die unsrige sind mit ihren vielen unterschiedlichen Interessen und Herausforderungen. Ich wünsche mir Respekt für das Recht, so wie es gilt. Wer es ändern will, weil sich die Umstände ändern, muss dafür demokratische Mehrheiten finden.

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