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© picture alliance / Zoonar | Elnur Amikishiyev

Ein Gespräch mit dem Internet-Theoretiker und Techkritiker Evgeny Morozov über eine Alternative jenseits des digitalen Kapitalismus »Ich würde nicht in Panik geraten«

NG/FH: Sie haben angesichts einer Handvoll Monopolisten gesagt, das Internet sei ein öffentliches Gut.

Evgeny Morozov: Ich benutze den Begriff »Internet« nicht, würde ihn sogar verbieten. Man sollte ihn nur in Anführungszeichen verwenden. »Internet« ist nützlich, um die technologischen Infrastrukturen um uns herum zu beschreiben. Das Konzept eines öffentlichen Gutes verwende ich auch nicht, zumindest nicht in der Art und Weise, wie es Ökonomen tun. Ich spreche lieber von öffentlichen Infrastrukturen.

Es gab auch schon vor dem »Internet« unterschiedliche Infrastrukturen: Wissens-, Kommunikations- oder physische Transportinfrastrukturen. Ich sehe keinen Grund, warum die Verbindung unserer heutigen digitalen Wissensinfrastrukturen einem imaginären globalen Netzwerk unterstellt werden sollte.

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, »Internet« sei eine öffentliche Infrastruktur?

Die meisten unserer Infrastrukturen sind lokal oder national und dienen sehr spezifischen Zielen. Auch die Vorgänger des »Internets« wie Cybersyn in Chile oder Minitel in Frankreich waren so konzipiert. Es gibt keinen automatischen universellen Marsch hin zu einer globalen, privat geführten Infrastruktur, die unwiderstehlich oder alternativlos ist. Man kann ihr widerstehen.

Es stellt sich die Frage, warum europäische Regierungen, Parteien, Gewerkschaften und Institutionen wie die Europäische Kommission keine anderen Optionen verfolgen oder mit alternativen Modellen experimentieren. Es gibt absolut nichts in unserer Vorstellung von öffentlichen Infrastrukturen, das uns davon abhalten würde.

Die Annahme, dass es global sein muss, ist eher eine technische Anforderung. Bibliotheken zum Beispiel sind bisher größtenteils lokal, aber sie sind mit einem internationalen System verbunden. Wenn ein Buch in Berlin fehlt, kann man es aus einer Bibliothek in Harvard ausleihen. Aber deshalb haben wir noch keine globale Bibliothek, wir haben nationale Wissensinfrastrukturen, wie wir sie schon immer hatten. Ich sehe daher keinen Grund, warum wir wegen einer digitalen neoliberalen Ideologie, die in den 90er Jahren aufkam und das Internet als eine Art unaufhaltsame Kraft präsentierte, deren Terminologie und Annahmen übernehmen sollten.

Sie haben gerade Cybersyn in Chile als einen der Vorgänger des »Internets« erwähnt. Im Sommer 2023 haben Sie den Podcast »The Santiago Boys« gestartet, der die wenigen Jahre, in denen Technologie genutzt wurde, um eine politische Idee zu unterstützen, und deren Nachwehen zum Thema hat. Was hat es damit auf sich?

»The Santiago Boys« ist eine Erzählung über die Bemühungen chilenischer Technokraten in den 70er Jahren, Ordnung in eine sehr chaotische wirtschaftliche Situation zu bringen. Das Wirtschaftsprogramm war ehrgeizig: Man wollte eine Vielzahl von Unternehmen in Chile verstaatlichen. Gleichzeitig hatte man viele Gegenspieler. Unter schwierigen Bedingungen wandte man sich an den kybernetischen Pionier Stafford Beer, der dann in Chile zusammen mit Einheimischen ein System aufbaute, bei dem es nicht vorrangig um die Verteilung von Waren ging, sondern um Management. Der Markt blieb zumindest während der Regierungszeit Allendes erhalten.

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Man wollte ein System aufbauen, um Probleme vorherzusagen, indem man den Datenfluss analysiert. Das war bereits ein interessanter Wechsel gegenüber dem traditionellen, sozialistischen Denken über den Markt. Die Annahme von Cybersyn beziehungsweise von Stafford Beer war, dass die Komplexität wirtschaftlicher und politischer Beziehungen unvermeidlich ist und wir einfach bessere Werkzeuge finden müssen, um sie zu verwalten.

Das soll nicht heißen, dass er den Markt befürwortete. Aber es war eine sehr interessante Haltung gegenüber Komplexität. Denn wenn man davon ausgeht, dass auch eine sozialistische Gesellschaft von Komplexität geprägt sein wird, dann wird man Werkzeuge wie Cybersyn benötigen, auch wenn es in einem sehr spezifischen Kontext für das Management der chilenischen Baumwollindustrie oder Gemüsekonservenproduktion gebaut wurde. Später wurde das Projekt Cybersyn eigentlich im Silicon Valley weiterverfolgt.

Können wir heute noch etwas aus dem Projekt lernen?

Beim Projekt Cybersyn ging man nicht von der Frage nach der Technologie aus, sondern von der Annahme, dass man etwas gegen eine zusammenbrechende Wirtschaft unternehmen muss. Und Stafford Beer entschied, dass sie Software dafür verwenden müssten. Aber sie hätten auch drei Leute mit Taschenrechnern einsetzen können, und sie hätten wahrscheinlich viel mehr herausholen können als von den beiden spärlichen Computern, die sie zur Verfügung hatten. Es gab eben noch nicht viel Technologie, es war mehr eine Idee.

Sie haben auch vom digitalen Kapitalismus und von der Alternative eines »digitalen Sozialismus« gesprochen. Was ist aus dieser Debatte geworden?

Der Begriff geht zurück auf den Artikel »Digital Socialism? The Calculation Debate in the Age of Big Data«, den ich für die New Left Review 2019 verfasst habe – digitaler Sozialismus, aber mit Fragezeichen. In dem Aufsatz argumentiere ich, dass die Vision digitaler Infrastrukturen Möglichkeiten eröffnet, den Kapitalismus zu überwinden. Meine Aussagen gelten mit vielen Vorbehalten, Bedingungen und Einschränkungen. Die Vision ist, dass, wenn man sich auf den Versuch einlässt, den Kapitalismus und die Wettbewerbslogik zu überwinden, es alternative Mechanismen der Koordination notwendig machen würde, die nicht auf dem Markt und dem Preissystem als Hauptinfrastrukturen beruhen.

Ist das Thema neu?

Das Thema beschäftigte seit über einem Jahrhundert die Debatten, von Max Weber bis Otto Neurath, Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek. Die sozialistische Seite bestand immer darauf, dass man diesen alternativen Mechanismus der sozialen Koordination braucht, um die Unvernunft des Marktes zu vermeiden und Güter besser zu verteilen. Also brauchen wir einen Plan, weil dieser uns ein rationales Güterallokationssystem beschert. Folglich können wir uns Möglichkeiten überlegen, wie neue technologische Infrastrukturen wie Computer oder Kybernetik eine Rolle dabei spielen könnten, dieses Allokationsproblem zu lösen.

Der Computer sollte einspringen und die Probleme der »zentralen Planer« lösen. Künstliche Intelligenz und Kybernetik würden noch mehr Daten hinzufügen und das System in Echtzeit laufen lassen.

Welche anderen, nichtkapitalistischen Alternativen stünden zur Diskussion – und welche Rolle könnten dabei digitale Infrastrukturen spielen?

Später kam ich zu etwas anderen Schlussfolgerungen, hinsichtlich der Rolle der Technologie und des Computers und hinsichtlich dessen, wie dieser alternative Mechanismus sozialer Koordination aussehen sollte. Der Markt ist nämlich nicht einfach nur ein Allokationsinstrument. Märkte haben weiterreichende Funktionen, sind im neoliberalen Verständnis Instrumente der Entdeckung, der Schöpfung, sie ermöglichen es, neue Produktionsmethoden zu etablieren.

Die nichtkapitalistische Alternative sollte daher versuchen, Instrumente sozialer Koordination zu finden, die in der Lage sind, ebenfalls Neuheiten zu generieren und die Funktionen des Werdens und der Entdeckung zu erfüllen, die Neoliberale gerne dem Markt zuschreiben. Digitale Infrastrukturen müssten soziale Innovationen von der lokalen Ebene auf die globale übertragen, indem sie verschiedenen Gruppen, Gemeinschaften und Menschen ermöglichen, zusammenzukommen und zu experimentieren, zu koordinieren und Feedback über verschiedene Projekte auszutauschen. Durch diese »Feedback-Infrastruktur« gelingt es tatsächlich die Funktionen zu substituieren, die derzeit den Markt legitimieren.

Eröffnet die künstliche Intelligenz Chancen für eine Welt jenseits des Kapitalismus?

Selbst Neoliberale geben zu, dass dies Aufgaben sind, die von Computern oder KI übernommen werden können: Wenn man sich die Analytics-Tools in einem Amazon- oder Walmart-Lager ansieht, dann hat man den Verdacht, dass man die Grundbedürfnisse befriedigen sowie die Vorhersage von Grundbedürfnissen auch mit irgendeiner Art von prädiktivem analytischen Modell, das auf einem Computer der Regierung läuft, erledigen könnte.

Die Frage ist aber, ob man dieses Big Data und auch Big Tech oder die KI-Infrastruktur für etwas ganz Neues im Allgemeinen, für die Förderung von »Werden und Entdecken« nutzen können?

Ich denke, dass es möglich ist. Wir reden hier aber nicht davon, Plattformen wie Amazon oder Google einfach umzufunktionieren, oder davon, ob KI die Tür zum Sozialismus öffnet. Bevor wir anfangen können, Fragen zu stellen, wie Computer und Technologie bei der Mission helfen können, muss die Mission klar sein. Solange wir die Probleme in dem, was Marx in der deutschen romantischen Tradition als »Reich der Notwendigkeit« bezeichnete, zu lösen versuchen, wird sich unsere Freiheit irgendwie von selbst organisieren. Ich denke, dass wir im Reich der Freiheit beginnen müssen, auch, weil sich derzeit der Kapitalismus und der Neoliberalismus über die Freiheit legitimieren. Erst dann werden wir auch einen Weg finden, die Probleme im Reich der Notwendigkeit zu lösen.

Gibt es eine Alternative zum digitalen Sozialismus?

Vielleicht ist es an der Zeit, neue Bezeichnungen zu kreieren. Wenn man heute den Begriff »Sozialismus« für ein Konzept verwendet, wollen viele Menschen es nicht unterstützen.

Die FDP, eine der drei Regierungsparteien in Deutschland, hat kürzlich angekündigt, KI in der politischen Arbeit zu nutzen: Tools wie ChatGPT sollen eingesetzt werden zum »Reden schreiben oder Bürgerbriefe beantworten«. Eine gute Idee?

Man dürfte sicherlich nicht alle Entscheidungen, wie solche über die Inhaftierung oder Freilassung von Menschen einem Algorithmus überlassen. Solange wir aber in diesem weberschen Eisenkäfig der Moderne leben kann man fragen: Wo ist eigentlich der Unterschied? Man ist eh in den Mühlen der deutschen Bürokratie. Ich glaube nicht, dass es weniger menschlich oder gar unmenschlich sein würde, wenn man sie durch einen Algorithmus ersetzte.

Wenn es je nach politischer Konstellation dazu führt, noch mehr Geld an Mi­crosoft, OpenAI, Google oder andere zu geben, um die KI weiterzuentwickeln, dann ist es natürlich ein Problem. Genauso ist die sich fortsetzende Abhängigkeit etwa von Cloud-Computing-Infrastrukturen dieser Unternehmen, der Software und Bürosoftware ein großes Problem. Daran, dass wir innerhalb von Grenzen und Einschränkungen eine Unterstützungsfunktion haben können, die von der KI innerhalb des bürokratischen Systems betrieben wird, sehe ich aber nichts Falsches.

Generative Sprachsysteme wie ChatGPT werden nicht nur als Mittel politischer Kommunikation der Zukunft gesehen, sondern auch der politischen Information und Desinformation …

Desinformation, das hat die Vergangenheit gezeigt, hat eher mit der voreingenommenen Anreizstruktur der heutigen digitalen Öffentlichkeit zu tun, die sich um Werbung dreht. Daneben gibt es eine Werbeinfrastruktur, die im Wesentlichen die Herstellung und Verbreitung falscher Informationen unterstützt, weil sie leicht mit Anzeigen monetarisiert werden können. Ich würde daher nicht wegen ChatGPT in Panik geraten. Prädiktive Textmaschinen haben vielmehr einen echten Wert. Sie sollten allerdings nicht von Firmen aus dem Silicon Valley angeboten werden.

Eine prädiktive Textmaschine sollte ein öffentlicher Dienst sein, der von öffentlicher Infrastruktur angeboten wird. Man könnte zwar verschiedene Unternehmen mit finanziellen Mitteln dazu bewegen, Grundmodelle zu entwickeln. Aber dann müssen wir einen Weg finden, diese Funktionen in eine öffentliche Infrastruktur zu übertragen. KI kann im öffentlichen Sektor so viel besser sein.

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