Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 werden für die Zukunft der EU entscheidend sein, denn der Zusammenhalt Europas wird aktuell stärker denn je durch Populismus und Nationalismus bedroht. Von innen heraus, durch Matteo Salvini, Viktor Orbán, Marine Le Pen oder die Neonazis in Chemnitz, aber auch von außen – durch Donald Trump, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan, Stephen Bannon und viele andere. Sie alle haben das Ziel, die Europäische Union zu schwächen und schließlich zu zerstören. Es stehen somit nicht nur die Werte von 1968 auf dem Spiel, sondern auch die Ideale und Errungenschaften der Zeit zwischen 1945 und 1950, als durch wirtschaftliche und soziale Integration und den Aufbau einer europäischen Demokratie zwischen den Staaten und innerhalb der Staaten Frieden zwischen ehemaligen Gegnern geschaffen wurde.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) werden entscheidend sein, da das EP ein Mitspracherecht besitzt und wichtige Entscheidungen blockieren könnte, sollten die Populisten eine Mehrheit oder eine Sperrminorität erhalten. Rhetorische Diskurse über die »Vereinigten Staaten von Europa« gehören der Vergangenheit an. Das Europa der Kooperation und des Friedens kann nur unter bestimmten Bedingungen gegen die Nationalisten verteidigt werden. Diese müssen aber in den nächsten zehn Jahren auch konkret erfüllt werden.
Jenes Europa, das der extremen Rechten und dem Nationalismus erfolgreich widersteht, existiert aber nach wie vor auch noch. An dieser Stelle gilt es anzusetzen. Das Abschneiden der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Schwedens (SAP) bei der schwedischen Parlamentswahl sei hier erwähnt, die Rückkehr der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) an die Regierung, die Erfolge der Regierungen von António Costa in Portugal und Alexis Tsipras in Griechenland sowie die neue Dynamik des deutsch-französischen Duos lassen auf einen »europäischen Frühling« hoffen.
Die extreme Rechte hat auf europäischer Ebene nichts zu bieten, denn die Legitimität nationalistischer Parteien nach innen beruht ja gerade auf einer Rhetorik gegen die Nachbarn – Italien gegen Frankreich und Deutschland, Österreich gegen Italien, Nordeuropa gegen Südeuropa usw. Es gibt somit zwar noch kein neofaschistisches, populistisches und protektionistisches europäisches Modell, aber es gibt Millionen Europäerinnen und Europäer, die über den Kurswechsel der Europäischen Union seit 2007 bestürzt sind und die ihren Unmut über die Eliten, über Europa, die Globalisierung und die »Anderen« offen äußern. Wie kann es nun gelingen, deren Zustimmung und Vertrauen zurückzugewinnen?
Die fortschrittlichen Kräfte in den europäischen Ländern sollten ihre Aufmerksamkeit vor der Parlamentswahl 2019 darauf richten, eine neue programmatische Basis zu schaffen und eine neue Erzählung von Europa zu formulieren. Es gilt die Frage zu beantworten, wie ein Gleichgewicht zwischen innerer Einheit und Vielfalt geschaffen werden kann.
Liegt Emmanuel Macron richtig, wenn er die Wahl zu einer Abstimmung zwischen Nationalismus und Europa erklärt? Man muss ihm zugutehalten, dass er die Notwendigkeit einer antipopulistischen Einheit, einer Front für Demokratie und ein offenes Europa betont und die Niederlagen derjenigen progressiven Führungen anprangert, welche es versucht haben, die Populisten mit einem moderaten Populismus zu besiegen. Aber Macron irrt, wenn er den notwendigen inneren Pluralismus der EU außer Acht lässt. Dieser muss unbedingt gestärkt werden, indem Diversität klar erkennbar und eine offene Dialektik zwischen unterschiedlichen Ansätzen ermöglicht wird. Sollte dies in Vergessenheit geraten, ist die Niederlage gewiss. Jedes Mitglied der progressiven Front muss seine politische Identität und seine Ziele klar zum Ausdruck bringen. Das betrifft nicht nur die Gruppe um Macron, sondern auch die Liberalen, welche sich von Heinz-Christian Strache (FPÖ) distanziert haben, die Fraktion der Europäischen Volkspartei, die den Mut hatte, sich von Orbán abzuwenden, die grünen sowie die linken Parteien, die sich wie Tsipras vom Populismus verabschiedet haben, sowie die sozialistisch-sozialdemokratischen Parteien und demokratischen Bewegungen.
Gemeinsame Ziele für eine politische Union
Es geht zudem darum, gemeinsame Ziele zu verhandeln, die sich im Wesentlichen um drei Schlüsselthemen drehen: Migrationspolitik, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie eine gemeinsame europäische Außenpolitik. Pro-EU-Verbündete brauchen mobilisierende Ziele, wie sie in dem 1986 erfolgreich von Jacques Delors vorgeschlagenen »Horizont 1992« formuliert waren, der die Beseitigung von Steuergrenzen innerhalb der EU vorsah. Nun ist es Zeit für einen »Horizont 2025«, 75 Jahre nach der Schuman-Erklärung ist es Zeit für eine politische Union. Die Zahl konkreter Ziele auf einer gemeinsamen Basis muss dabei überschaubar bleiben, die Ziele müssen klar formuliert und für viele Millionen von Wählerinnen und Wählern akzeptabel sein. Zudem sollten sie in jedem Land der EU umsetzbar sein.
Es ist erstens für die europäische Wirtschaft, Demokratie und Identität von zentraler Bedeutung zu wissen, wie überschaubare Migrationsbewegungen bewältigt werden können. Zu den innovativsten Ideen zählt hier ein neuer Vorschlag für eine gemeinsame europäische Migrationspolitik, die entscheidend für die Bekämpfung des Populismus ist. Die neue Idee besteht darin, einen europäischen Fonds einzurichten, der es Kommunen und lokalen Behörden ermöglicht, sowohl Projekte zur Integration von Einwanderern als auch lokale Investitionen zu finanzieren. Anstatt sich ausschließlich auf den Solidaritätsidealismus zu verlassen, lohnt es sich, auch an den Marktmechanismus und die Interessen der lokalen Gemeinschaften zu appellieren, zumal wir unbedingt öffentliche Infrastrukturinvestitionen brauchen.
Die Entscheidung über die Aufnahme von Geflüchteten kann zu einer Entwicklungschance für die Kommunen werden, wenn sie durch Einbeziehung von Unternehmen und der organisierten Zivilgesellschaft partizipatorisch vorbereitet und somit in der kommunalen Gesellschaft gut verankert wird. Wenn die Bürgerinnen und Bürger über die Aufnahme von Geflüchteten mitentscheiden können, entzieht man den Rechtspopulisten ihre politische Mobilisierungsgrundlage.
In sozialen Angelegenheiten muss zweitens das ernsthafte Ziel von Partizipationspolitik sein, dem sozialen und beschäftigungspolitischen Europa neue Glaubwürdigkeit zu verleihen, um die Hauptopfer von Krisen und Sparpolitik zu mobilisieren. Dies gilt vor allem für die junge Generation, die auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen hat und daher als eine Zielgruppe populistischer Anti-Einwanderer-Propaganda gilt.
In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig, der Bedrohung durch Rechtspopulisten im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter entgegenzuwirken, beispielsweise durch eine starke Mobilisierung gegen die weit verbreitete Zunahme der Gewalt gegen Frauen.
Was die Wirtschafts-, Handels- und Beschäftigungspolitik anbetrifft, zeigt Schweden den dritten Weg zwischen entfesseltem Liberalismus und wirtschaftlichem Protektionismus auf. Es muss deshalb ein klares Signal in Richtung einer Verallgemeinerung des skandinavischen Modells gegeben werden, welches die Offenheit gegenüber einer reglementierten Globalisierung mit dem dynamischen Schutz der sozialen Errungenschaften und der Umwelt in Einklang bringt. Das bedeutet aktive Beschäftigungspolitik im Rahmen der Öffnung des Handels auf internationaler Ebene, aber nach dem europäischen Ansatz, also einschließlich Sozial- und – sehr wichtig! – Umweltstandards. Zudem muss man auf eine kontinuierliche Investitionspolitik bestehen, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene, und gleichzeitig von der alten »linken Politik der öffentlichen Verschuldung« Abstand nehmen.
Drittens muss eine gemeinsame europäische Außenpolitik entworfen werden, die als Ergänzung zur Innenpolitik – vor allem der Festigung der Eurozone – dient. Hierzu zählt eine gemeinsame Migrationspolitik mit dem Fokus auf Afrika (Libyen, Nigeria, Mali und Eritrea). Aber eine europäische Außenpolitik benötigt zudem eine hohe interne Legitimierung durch die EU und ihre Bürgerinnen und Bürger, die sich zu Recht um die negativen Folgen der Globalisierung, politischer Instabilität und Bedrohungen von außen wie etwa ungeplante Zuwanderung, Wirtschafts- und Handelskrisen sorgen. Macrons Rede vor französischen Diplomatinnen und Diplomaten, das Interview mit dem deutschen Außenminister Heiko Maas im Handelsblatt und die Stellungnahme Federica Mogherinis mit Blick auf Donald Trump gehen in Richtung eines neuen Multilateralismus. Dieser muss aber unbedingt die nationalen und europäischen Zivilgesellschaften miteinbeziehen und mobilisieren, die sich für ein stärkeres und unabhängigeres Europa in der Welt einsetzen.
Wie kann vor diesem Hintergrund eine multilaterale Zusammenarbeit gelingen? Auf der einen Seite durch eine Reform der transatlantischen Allianz hin zu einem gleichberechtigten Bündnis, auf der anderen Seite durch die gezielte Isolierung und Verurteilung des unilateralen Ansatzes, den die USA-Administration aktuell verfolgt – insbesondere im Hinblick auf den Handelskrieg gegen China und die EU. Es liegt an der EU, eine breite Front an Ländern zusammenzubringen, um die multilaterale Kooperation und ihre Errungenschaften zu verteidigen. Anstatt die weltweiten Organisationen der Zusammenarbeit wie die Welthandelsorganisation (WTO), die UN oder regionale Kooperationen zu schwächen, gilt es, diese zu reformieren – etwa durch die Mobilisierung von Nichtregierungsorganisationen und eine »antagonistische Kooperation« mit den Unternehmen.
Die fortschrittlichen Kräfte liegen im Zeitplan deutlich zurück. Es ist ja paradox: Während Hunderttausende gegen ein transatlantisches Freihandelsabkommen zu Zeiten von Barack Obama protestierten, gab es keine Mobilisierung gegen Trumps wirtschaftlichen und politischen Unilateralismus. Dabei ist es nach wie vor möglich, eine große soziale, ökologische und politische Front aufzubauen, als Zeichen für ein offenes, friedliches und kooperatives Europa.
Aber Vorsicht: Es gibt zwei Bedingungen, damit ein »europäischer Frühling« beginnen kann: Man muss die öffentliche Meinung für die europäische Sache gewinnen und so die nationalistische Bedrohung stoppen.
Zuallererst gilt es aber, eine Idee des französischen Präsidenten umzusetzen, nämlich den politischen Willen des Kerns entschiedener Europäerinnen und Europäer (insbesondere Spanien, Frankreich und Deutschland, natürlich mit Unterstützung der Benelux-Länder, Portugals, Griechenlands, Schwedens und anderer Mitgliedsländer) zu stärken und eine fortschrittliche und antinationalistische Vorhut zu bilden. Jürgen Habermas und andere haben die Dringlichkeit einer politischen und strategischen Führungsrolle herausgehoben. In der Vergangenheit hat sich solch eine »differenzierte Integration« bereits als effizient für Europa erwiesen, da so in zunächst euroskeptischen Ländern pro-europäische Kräfte gestärkt werden konnten.
Dieses Kerneuropa wäre zweitens die Basis für eine neue Strukturierung der europäischen Führung, beziehungsweise weiterer Initiativen einer »verstärkten Zusammenarbeit«. Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits 2017/18 unternommen. Eine europäische Verteidigungsunion (die die Abwehr von Cyberangriffen einschließt) startete im Dezember 2017 unter der Bezeichnung PESCO (Permanent Structured Cooperation, dt. Ständige Strukturierte Zusammenarbeit). Aber auch auf der Ebene der Eurozone müssten Reformen entsprechend der deutsch-französischen Erklärung von Meseberg vom Juni erfolgen – ein autonomes Budget, eine Bankenunion und eine kooperative Arbeitslosenversicherung seien hier als Stichworte genannt.
Große Herausforderungen benötigen eine neue EU-Architektur
Im Rahmen einer neu zu schaffenden Architektur des Kontinents liegt es an der Führungsgruppe der EU, eine Einigung mit dem Vereinigten Königreich bezüglich des Brexits auszuhandeln, von der beide Seiten profitieren. Die Verhandlungen mit dem Westbalkan, die Nachbarschaftspolitik, der Status der Ukraine, die kontroversen Beziehungen zur Türkei und die Wiederbelebung des Europarates und der OSZE sollten in diesem Plan für eine Umstrukturierung der europäischen Architektur zur friedlichen Zusammenarbeit eine wesentliche Rolle spielen.
Das Schlüsselwort der Rede von Jean-Claude Juncker am 12. September aber war »Afrika«. Damit es nicht bei reiner Rhetorik bleibt, muss er nun erstens der von Salvini initiierten Anti-Einwanderungspolitik Italiens eine klare Absage erteilen, zweitens erklären, warum alle Handelsabkommen mit afrikanischen Ländern blockiert sind und drittens schnellstmöglich eine strategische Partnerschaft für Afrika, die den Kontinent nicht für eine Abwehr von Flüchtenden instrumentalisiert, zusammen mit China, welches uns mit seinen Investitionen in Höhe von etwa 60 Milliarden US-Dollar objektiv gesehen sehr hilft, auf den Weg bringen.
Eine klare und verständliche Kommunikation trägt wesentlich zum Gelingen dieser differenzierten Strategie für eine politische Union bei. Beispielsweise werden sogar interne Oppositionen in euroskeptischen Ländern (wie Ungarn, Österreich oder Polen) von dieser Strategie profitieren. In diesem Sinne sollte die italienische Bevölkerung ebenso das Recht bekommen, über den deutlichen Kurswechsel der aktuellen Regierung im Hinblick auf die EU mitzuentscheiden. Italien hat sich von einem Vorreiter für europäische Integration zu einem Verbündeten der Visegrád-Gruppe und der Nationalisten gegen Europa, gegen Einwanderer und gegen internationale Zusammenarbeit gewandelt. Bei der italienischen Parlamentswahl am 4. März hatten die italienischen Bürger/innen aber nicht für einen solchen Wandel gestimmt.
Klarheit und eine gute Vermittlung sind des Weiteren ein erforderlicher Teil einer offensiven Debatte für einen »europäischen Frühling«. Das Bewusstsein für die ernste Lage und die Aktualität interner und externer Bedrohungen kann auch etwas anderes hervorbringen als hamletähnliche Zweifel hinsichtlich einer »existenziellen Krise der EU«. Denn noch gibt es durchaus genügend Energie und Dynamik für einen Gegenangriff, für eine Erneuerung und Demokratisierung der EU-Institutionen – aber nur unter der Bedingung neu formulierter Erzählungen über die weltweite Rolle der Europäischen Union.
(Wir danken dem spanischen Außenminister Josep Borrell, Ruth Rubio Marín, Professorin für Verfassungsrecht an der Universität von Sevilla und anderen Teilnehmer/innen der Summer School 2018 in Santander der Universidad Internacional Menéndez Pelayo für konstruktive Impulse.)
(Aus dem Französischen von Alissa Trouillet.)
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!