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© Foto: picture alliance / Zoonar | Toni Rantala

Identitätsfreiheit statt politisierte Identitäten

Über wenige gesellschaftspolitische Themen wurde in den letzten Jahren so hitzig debattiert, wie über Identitäten. Die Heftigkeit der Debatte leitet sich daraus ab, dass es nicht um personale Identitäten geht, sondern um politisierte Kollektividentitäten. Dabei fällt auf, dass aus ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen abgeleitete Kollektividentitäten schon länger nicht mehr nur im rechten politischen Lager eine dominante Rolle spielen, sondern mittlerweile auch bei einem wachsenden Teil der politischen Linken.

Dieser Teil der Linken (nachfolgend Identitätslinke genannt) hat sich zum Ziel gesetzt, Gerechtigkeit für die von den Rechten abgewerteten Identitätsgruppen, allen voran ethnische, kulturelle und religiöse Minderheiten, herzustellen. Das Problem daran ist, dass sie starr auf die Merkmale fixiert sind, die auch Rechte heranziehen, um die Bevorzugung oder Benachteiligung von Menschen zu rechtfertigen. Identitätslinke entlassen Menschen deshalb nicht aus den von den Rechten erbauten Identitätsgefängnissen, sondern richten – um im Bild zu bleiben – lediglich die Zellen neu ein.

Konkret: Rechte schließen die ethnokulturelle Mehrheit in besser und ethnokulturelle Minderheiten in schlechter ausgestattete Zellen ein. Identitätslinke hingegen verordnen Menschen aufgrund eines ethnokulturellen Mehrheits- oder Minderheitenmerkmals eine Schuld- oder Opferidentität. Angehörige der Mehrheit werden für jedweden statistischen Unterschied zwischen Mehrheit und Minderheiten beim Bildungserfolg, der Arbeitsmarktplatzierung oder bei der politischen Beteiligung verantwortlich gemacht, und in eine Schuldzelle eingesperrt. Angehörige von Minderheiten werden kollektiv als Opfer einer rassistisch strukturierten Mehrheitsgesellschaft betrachtet, und dementsprechend in eine Opferzelle eingeschlossen.

Identitätslinke erteilen allen Schuldidentitätsträgern die Aufgabe, den von Opferidentitätsträgern erhobenen Forderungen nachzukommen. Die Aufgabe von Opferidentitätsträgern ist es, solche Forderungen an Schuldidentitätsträger zu stellen. Häufig an die Mehrheitsgesellschaft gerichtete Forderungen lauten: Zeigt Wertschätzung für die Herkunftskulturen von Migrantinnen und Migranten und stellt möglichst keine Integrationsforderungen an sie – vor allem keine, die Werte und Normen, also den Kern ihrer kulturellen Identität betreffen. Integrieren sollen sich obendrein in erster Linie nicht mehr die Dazugekommenen, sondern die Alteingesessenen.

Mit diesen Forderungen werden die elementaren sozialen Beziehungsregeln verletzt, die der Frankfurter Soziologe Karl-Otto Hondrich prägnant als soziomoralische Grundgesetze bezeichnete. Insbesondere das soziomoralische Grundgesetz »Vorzug für Eigenes« wird geradezu auf den Kopf gestellt. Zudem wird das soziomoralische Grundgesetz der »Gegenseitigkeit« missachtet.

Wer Migrantinnen und Migranten aufgrund eines kulturell-religiösen Minderheitenstatus zuvörderst als Anspruchsberechtigte und die nicht-migrantische Mehrheit als Anspruchserfüllerin behandelt, verletzt das Prinzip der Gegenseitigkeit und treibt so einen mächtigen Keil in die Bevölkerung. Wer der Mehrheit vermittelt, dass ihre kulturellen Werte und Normen weniger bewahrenswert sind als die der zugewanderten Minderheiten, verletzt das soziomoralische Grundgesetz des Vorzugs des Eigenen. Auf diese Weise fördert man in der Mehrheitsbevölkerung die Ablehnung von Migration und migrationsbedingter kultureller Vielfalt. Denn: Warum sollte die Mehrheit Migration begrüßen, wenn sie aufgefordert wird, sich an zugewanderte Minderheiten anzupassen?

Das identitätslinke Modell einer gerechten Migrationsgesellschaft ist aber nicht nur problematisch, weil es Menschen zu Merkmalsträgern degradiert und die zwischenmenschlichen Beziehungen vergiftet, sondern auch, weil es der enormen Komplexität der Realität nicht gerecht wird.

Es sind also Alternativmodelle gefragt, die ohne die Verletzung soziomoralischer Grundgesetze auskommen und die zugleich soziale Integration und kulturelle Identitätsbedürfnisse in Einklang bringen. Das nachstehend vorgeschlagene Modell stellt das Individuum in den Mittelpunkt und ist so angelegt, dass es möglichst wenig in die Freiheiten von Menschen eingreift. Getragen wird das Modell von dem Grundprinzip: individuelle Identitätsfreiheit statt politisierte Kollektividentitäten.

Zunächst einige Überlegungen zu der Frage: Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen sozialer Integration und kulturellen Identitäten? Eine erfolgreiche soziale Integration ist eng mit gleichen Teilhabechancen verbunden. Werden Migrantinnen und Migranten beim Zugang zu den zentralen gesellschaftlichen Ressourcen, also Bildung, Arbeit und Wohnen, diskriminiert, wird der Rückzug in eigenkulturelle Communities befördert, der häufig mit einer emotionalen Abwendung von der Aufnahmegesellschaft einhergeht. Damit verbunden ist eine Rückbesinnung auf die eigene kulturelle Identität, die oftmals, um Zurückweisungen zu kompensieren, als gegenüber der Kultur der Aufnahmegesellschaft höherwertig glorifiziert wird. Große Teile der Aufnahmegesellschaft wiederum sehen darin eine Abwertung ihrer kulturellen Identität und reagieren entsprechend verschnupft.

Diese gegenseitige kulturelle Zurückweisung hat einen negativen Effekt auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt, umso mehr, je größer die migrantische Bevölkerung ist, die sich in identitäre Nischen zurückzieht. Hinzu kommt, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Rückzugs steigt, wenn die Wertedifferenz zwischen Aufnahmegesellschaft und großen migrantischen Communities besonders ausgeprägt ist. Denn in diesem Fall erleben Migrantinnen und Migranten, dass die Aufnahmegesellschaft negativ auf die Werte und Normen reagiert, mit denen sie sozialisiert wurden, und die sie als Teil ihrer kulturellen Identität erachten. Die Aufnahmegesellschaft ihrerseits betrachtet das Festhalten an diesen herkunftskulturellen Werten als irritierend, teilweise sogar als Affront.

Wertekonflikte durch politisierte Kollektividentitäten

Besonders belastend wirkt sich die Politisierung kultureller Identitäten auf die soziale Integration aus. Exemplarisch dafür steht die von Recep Tayyip Erdoğan verfolgte Strategie, die türkischstämmigen Communities in Europa mithilfe einer identitären Politik an sich zu binden, um so aus machtstrategischen Gründen die Unterstützerbasis für seine ethnonational-islamistische Agenda zu verbreitern. Da seine Vorstellung in deutlichem Widerspruch zu den Werten unseres liberalen Verfassungsstaates steht, ist eine mit seinen Zielen konform gehende politisierte Kollektividentität unter Türkeistämmigen in hohem Maße problematisch. Sie untergräbt zudem das Vertrauen der Aufnahmegesellschaft darauf, dass im Konfliktfall alle dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen dem deutschen Staat gegenüber loyal sind. Überdies spaltet Erdoğans identitäres Angebot auch die türkischstämmige Bevölkerung in nahezu unversöhnliche Befürworter und Gegner.

Kulturelle und religiöse Kollektividentitäten sind also vor allem dann problembehaftet, wenn sie mit Wertekonflikten verbunden sind und wenn sie eine politisierte Form annehmen. Integrationspolitik darf diese Kollektividentitäten nicht unterstützen. Im Gegenteil: Sie muss, wie es der Leipziger Staatsrechtler Arnd Uhle vor einiger Zeit in der FAZ ausdrückte, auf die »freiheitsgerechte Regeneration der Zustimmung« zu den Werten der Verfassung hinwirken. Diese Formulierung bringt die Herausforderung, vor der ein liberal verfasstes Gemeinwesen steht, perfekt auf den Punkt: Einerseits kann der freiheitliche Verfassungsstaat niemandem die Verpflichtung auferlegen, sich seine Werte und Normen zu eigen zu machen. Er kann nur diejenigen sanktionieren, die gegen aus seiner Werteordnung abgeleitete Gesetze verstoßen. Andererseits muss er sicherstellen, dass die überwiegende Bevölkerungsmehrheit die freiheitliche Kultur mitträgt, von der sein Fortbestand abhängt. Er muss also darauf achten, dass die ihn tragende freiheitliche Kultur nicht geschwächt wird, beispielsweise durch die Aufnahme großer Zahlen von Migrantinnen und Migranten, denen diese freiheitliche Kultur fremd ist und die auch nur bedingt bereit sind, die grundlegenden Werte dieser Kultur zu verinnerlichen. Dazu gehört die Priorisierung individueller Freiheitsrechte gegenüber kulturellen Traditionen, beispielsweise in Bezug auf das Recht von Frauen und Mädchen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Dazu gehört auch die Vorrangstellung des Grundgesetzes gegenüber religiösen Werteordnungen wie der Scharia.

Abschließend einige Gedanken dazu, wie die »freiheitsgerechte Regeneration der Zustimmung« zu unserer freiheitlichen Werteordnung erreicht werden kann. Der Staat muss offensiv für die ihn tragenden Werte werben, insbesondere in den Bildungseinrichtungen, aber auch im Rahmen von Integrationsprogrammen. Er darf die Verletzung seiner Werte nicht einfach hinnehmen, schon gar nicht honorieren, indem er Vereinigungen, die ebendiese Werte nicht teilen, finanziell fördert oder durch Gesprächsformate aufwertet. Insbesondere sei hier an Verbände gedacht, die eine islamistische Agenda verfolgen.

Die einzige Kollektividentität, die der Staat fördern sollte, ist eine Bürgeridentität. Also eine Identität, die auf dem Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger beruht, dass alle gemeinsam die Verantwortung für den Fortbestand der freiheitlichen Werteordnung tragen. Ethnische, kulturelle oder religiöse Kollektividentitäten sollten hingegen nicht gefördert werden, da dies immer auf eine Parzellierung der Gesellschaft hinausläuft. Außerdem besteht bei der Förderung solcher Kollektividentitäten die Gefahr, dass Menschen sich gegenseitig zunehmend als Kultur- oder Religionsträger wahrnehmen und weniger als Individuen, wodurch zugleich die Bürgeridentität untergraben wird.

Eine freiheitliche Kultur beinhaltet, dass Menschen ihre Identitäten frei wählen können. Dazu gehören selbstredend auch kulturelle und religiöse Identitäten. Wichtig sind dabei zwei Punkte: Erstens, dass Menschen diese Entscheidung wirklich frei treffen können, und zweitens, die Bereitschaft aller, ihre personalen Identitäten auf der gesellschaftlichen Ebene einer gemeinsamen Bürgeridentität unterzuordnen.

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