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»Identitätspolitik« – ein heikles Feld

Die ungewöhnlich heftigen Konflikte auf dem neuen Kampfplatz der »Identitätspolitik« gründen zum guten Teil in dessen Unübersichtlichkeit, die oft zu Unklarheiten führt, wo sich die Freunde und wo die Gegner befinden. Auch die Konturen der eigentlichen Ausgangsfragen des Themas werden hier regelmäßig undeutlich. Das ganze sprachliche Feld ist mittlerweile stimmungsmäßig überhitzt. So kommt es denn, dass oft schon kleine Randbemerkungen, eine ungeschickte Wortwahl oder die bloße Unvertrautheit mit den jüngsten Verdikten der »woken« Avantgarde der Regelsetzer schwerste Folgen haben können, wodurch die bestehenden Scheingegensätze sich freilich eher vertiefen als aufgeklärt zu werden. Inzwischen hat diese Verwirrung unter anderem zu dem Vorwurf geführt, die Sozialdemokratie sei in wichtigen Ländern, voran die USA, Großbritannien und Deutschland deshalb so tief in die politische Defensive geraten, weil sie sich von ihrem historischen Kampfplatz der nüchternen sozialen Klassenpolitik auf das schillernde Spielgelände der Identitätspolitik habe locken lassen. Die bisherige Debatte darüber hat bislang zu keiner Klärung geführt.

Erinnern wir uns daher zunächst. In Europa trat der Begriff »Identitätspolitik« mit einer scharf-kritischen linken Note zuerst in den 90er Jahren auf den Plan, als es darum ging, das ganz unverhoffte Wiederaufleben nationalistischer und ethnischer Strategien der kulturellen und politischen Verfeindung am Ende des »Zeitalters der Ideologien«, zu verstehen und einzuordnen, das vielerorts in Osteuropa zu beobachten war. Einer der Höhepunkte dieser neuen Konfliktlage war die blutige ethnische »Säuberungspolitik« in den verschiedenen Landesteilen des zerfallenden multiethnischen, multilingualen und multireligiösen Jugoslawien. Diese ethnisch-nationalistische Spielart von Identitätspolitik erschien linken Intellektuellen, Wissenschaftlern und Politikern als eine Wiedergeburt des extremistischen Nationalismus, in Teilen sogar Faschismus der Vorkriegszeit. Weitgehende strukturelle Ähnlichkeiten zeigte dieses Denken und Handeln mit dem gleichfalls zu dieser Zeit erstarkenden politisch-religiösen Fundamentalismus, durchaus nicht nur islamischer Provenienz, dem es ebenfalls um eine Politik der Reinhaltung seiner selbst definierten, vermeintlich ursprünglichen religiösen Identität als unanfechtbaren Legitimationstitel für die eigene politische Vorherrschaft und die Unterwerfung aller Abweichenden ging. Diese beiden ideologisch-politischen Strömungen schienen damals als widerspruchsvolle Begleiterscheinungen, als die innere »dialektische« Gegenbewegung der großen Globalisierungswelle weltweit Macht und Bedeutung zu gewinnen. Sie wurden ganz zu Recht gemeinsam mit einem stark negativen Vorzeichen als Varianten einer neuen »Identitätspolitik« auf den Begriff gebracht und seitens der demokratischen Linken einer vernichtenden Kritik unterzogen.

Das war die eine, die rechte Quelle der neuen Prominenz des Identitätsbegriffs im linken Diskurs. Es konnte nicht den geringsten Zweifel geben, dass diese Art von exklusiv-hegemonialen »Identitäts-«Ansprüchen allem krass widersprach, was linkes Denken immer ausgemacht hatte: Universalismus, Menschenwürde, Pluralismus, Demokratie und Grundrechte. Etwa zur gleichen Zeit begann aus einer zweiten, ganz anderen Quelle das Thema »Identitätspolitik« in die europäischen Debatten einzufließen, und zwar in zwei Schüben. Nachdem niemandem zuvor eingefallen war, den nunmehr schon mehr als zwei Jahrhunderte währenden Kampf der Afroamerikaner in den USA »Identitätspolitik« zu nennen, gewann dieser Begriff zunächst durch das Manifest einer schwarzen lesbischen Aktivistinnengruppe (The Combahee River Collective Statement 1977) seit dem Ende der 70er Jahre Bedeutung und wurde von dort aus auf die Bestrebungen aller sexuellen Identitätsgruppen sowie schließlich auch auf die Politik der Gleichstellung für die Afroamerikaner und aller anderen ethnischen Minderheiten bezogen. Die Betroffenen selbst begannen im Zuge dieser Entwicklung das bis dahin eher negativ geprägte Wort »race« durch den selbstbewussten Begriff »people of color« zu ersetzen. Das gemeinsame Thema all dieser Gruppen war die gleiche gesellschaftliche und politische Anerkennung ihrer Rechte und Lebensformen. Einen äußerst kritischen Beigeschmack gewann die »Identitätspolitik« in diesem »linken«, inklusiv-egalitären Gebrauch erst unter dem Einfluss der zweiten Quelle, des amerikanischen Intellektuellen Marc Lilla, der sie in seinem einflussreichen Buch The Once and Future Liberal: After Identity Politics als Hauptursache des Niedergangs der demokratischen Linken gebrandmarkt hatte. Dieser sei durch ihre allzu demonstrative und begeisterte Identifikation mit den identitätspolitischen Projekten und Gruppen ihr universalistisches Ziel einer Gesellschaft der rechtlichen und sozialen Gleichberechtigung für alle aus dem Blick geraten. In diesem veränderten Profil könnten sich aber ihre traditionellen Wähler aus der Arbeiterklasse nicht mehr wiedererkennen. Der Niedergang der Sozialdemokratie sei die verständliche Quittung dafür, solange sie nicht ihrer identitätspolitischen Fixierung abschwört.

Die Verhältnisse in den USA unterscheiden sich gewiss von den hiesigen, aber doch nicht vollständig. Daher ist die Diskussion über das Thema, wie die Beiträge in dieser Ausgabe zeigen, auch bei uns und in anderen europäischen Ländern entbrannt. Um einer Klärung der offenen Fragen näher zu kommen und eine rationale Perspektive erfolgversprechenden Handelns der Sozialdemokratie zu gewinnen, sind drei Fragen zuerst zu unterscheiden und dann zu beantworten:

Erstens: Widersprechen die Positionen der heute zu beobachtenden »Identitätspolitik« dem Selbstverständnis der demokratischen Linken?

Zweitens: Was sind die zentralen Unterschiede zwischen linker und rechter Identitätspolitik im Hinblick auf die demokratischen Grundwerte?

Drittens. Trifft die Beobachtung für die Bundesrepublik und Europa zu, dass die traditionelle sozialdemokratische »Klassenpolitik« der Umverteilung und Demokratisierung für alle sich in eine Palette separater Identitätspolitiken für einzelne Gruppen aufgelöst hat?

Links und rechts

Sobald Identitätspolitik eine Strategie verfolgt, die die eigene, selbst-definierte Identität als einen Legitimationstitel zur kulturellen und politischen Vormachtstellung vor allen anderen in Stellung bringt, ist sie im Kern exklusiv, ausschließend, ganz gleich, worauf sie sich inhaltlich stützt: ob Ethnie, Religion, Geografie oder sexuelle Orientierung. In dem, in jüngster Zeit allerdings häufiger werdenden Extremfall kann eine solche Position noch durch den Anspruch verschärft werden, niemand dürfe die besondere Legitimation und die Forderungen der entsprechende Identitätsgruppe beurteilen, außer die ihr Zugehörigen selbst. Eine perfekte zirkuläre Selbstimmunisierung. Die freilich ins Abseits führt. Denn sobald rechtfertigungsbedürftige soziale Diagnosen und auf sie gestützte politische Forderungen in der öffentlichen Arena einer gleichberechtigten Prüfung und Entscheidung durch die Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger entzogen werden, verlassen ihre Verfechter eindeutig das Spielfeld der Demokratie, unabhängig davon, wie berechtigt ihr eigentlicher Anspruch besteht. Der eigentliche Sinn des universalistischen Prinzips der Demokratie besteht ja gerade darin, einerseits die Vielfalt des Glaubens, der Überzeugungen, Eigentümlichkeiten, Wahrnehmungen, Erlebnisweisen und Interessen der Bürgerinnen und Bürger nicht nur zu respektieren, sondern zu schützen. Das sichert die Freiheit aller Menschen im gesellschaftlichen Leben. Andererseits beruht aber die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger im politischen Raum auf der Voraussetzung, dass in den Prozessen, in denen sie gemeinsam Entscheidungen fällen, die für alle verbindlich sein sollen und darum von allen als gültige akzeptiert werden, nur diejenigen Argumente einen Geltungsanspruch erheben können, die prinzipiell von allen nachvollzogen und beurteilt werden können. Jede »Identitätspolitik«, die sich als demokratisch und links versteht, muss das in Rechnung stellen. Dass nur Schwarze über ihre Rechte debattieren und entscheiden dürfen, desgleichen die diversen neuerdings sichtbarer werdenden sexuellen Identitätsgruppen, läuft auf einen identitätspolitischen Fundamentalismus hinaus, der ebenso wie die flapsige Invektive, »weiße alte Männer« sollten möglichst gar kein Gehör mehr finden, demokratie- mitunter sogar menschenfeindlich ist. Solche Positionen stehen quer zu allem, was eine demokratische Linke ausmacht. Und, was ebenso schwer wiegt, sie stellen die Legitimation der in der Sache ja höchst berechtigten Forderungen der betroffenen Gruppen nach gleicher Anerkennung wider Willen infrage.

Ein doppeldeutiger Begriff

»Identitätspolitik« erscheint im Lichte der jüngsten Entwicklungen als ein zu weit gefasster Begriff. Während rechte Identitätspolitik – nicht die Identität selbst – nur als exklusives Projekt möglich ist, wie die völkischen Träume der Neuen Rechten zeigen, kann jede konsequente »Identitätspolitik« der demokratischen Linke nur auf Inklusion zielen. Die bisher von der gleichen Teilhabe an den Rechten, Ressourcen und der Anerkennung ihrer Gesellschaft Ausgeschlossenen sollen nun einbezogen werden. Dabei handelt es sich immer um ein universalistisches Projekt, denn es geht ja um Gleichheit für alle. Das schließt nicht aus, dass zur Erreichung dieses Ziels auch dosierte und zeitweilige Maßnahmen »positiver Diskriminierung« zum Zuge kommen, bis die Gleichstellung erreicht ist, soweit die Grundrechte anderer dabei nicht verletzt werden. In Rechnung zu stellen ist dabei freilich auch das Risiko, dass in den Handlungsfeldern außerhalb der rein sozialen Ungleichheit dadurch Tendenzen zur fortdauernden gesellschaftlichen Separierung solcher Identitätsgruppen gefördert werden können. Ein in dieser Hinsicht lehrreicher Spezialfall ist die indische Verfassung von 1948, die in ihrem Anhang über 1.000 Unterkasten und -klassen (scheduled casts and backward classes) aufführt, deren Angehörige Anspruch auf einen festen Prozentanteil der Studienplätze und der Stellen im öffentlichen Dienst haben. Was die Kasten überwinden soll, führt aber in der Praxis eher zur Zementierung des Gefühls der Kastenzugehörigkeit und zur Verschärfung der Ungleichheit innerhalb der Kasten beim Kampf um die stets knappen Vorzugsplätze.

Der sowohl in der US-amerikanischen wie in der europäischen Debatte in kurzer Zeit zu großer Prominenz gelangte Vorwurf von Mark Lilla, die Linke habe die Klassenfrage vergessen und sei jüngst fast nur noch mit identitätspolitischen Forderungen oder Erfolgen, symbolisch komprimiert in der Ehe für alle, hervorgetreten, überzeichnet zumindest für die Bundesrepublik die Situation. Tatsächlich zu beobachten war hierzulande eine gewisse Asymmetrie des sozialdemokratischen Jubels über Erfolge rund um die Ehe für alle und ihr schmerzlich empfundenes Defizit bei einer wirksamen Gleichheitspolitik, trotz mancher Schritte in die richtige Richtung. Das kann ja korrigiert werden, in der Sache und in der Kommunikation. Zur Schieflage in diesem Bild tragen aber am meisten medial verschärfte gesellschaftliche Debatten über heikle Einzelfragen bei wie die über die zunehmende Ausdifferenzierung der Geschlechtszuschreibungen und deren Folgen für das Angebot an öffentlichen Toiletten. Da hilft tatsächlich nur eine bessere Gewichtung der Probleme und öffentlichen Aufmerksamkeit für sie. Zwischen dem Universalismus der Grundwerte der Sozialen Demokratie und einer konsequent linken »Identitätspolitik« muss kein Widerspruch sein.

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