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Perspektiven für Kultur und Musik in Corona-Zeiten Im digitalen Niemandsland?

Nach der anfänglichen Begeisterung über all das, was in der Coronakrise und den damit einhergehenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens online an kulturell Anregendem geboten wird, macht sich bei vielen Kulturbegeisterten Ernüchterung breit. Denn die Vielfalt der künstlerisch teils hochkarätigen und meist sogar kostenlosen Angebote im Internet mutet nach einigen Stunden am Bildschirm überraschend blutleer an – jedenfalls wird deutlich, dass Kultur im Internet nur ein schwacher Ersatz ist für die sinnlich ästhetische Erfahrung, die ein Live-Ereignis als Präsenzveranstaltung bietet. Nicht viel anders wird das von den Künstlerinnen und Künstlern selbst empfunden. Für ihre Arbeit ist die direkte Kommunikation mit einem konkreten, nicht nur virtuell anwesenden Publikum Inspiration und Antrieb zugleich. Schon deshalb fremdeln viele mit dem digitalen Raum, der sogar den Internetaffinen bestenfalls der Erweiterung analoger Ausdrucksmöglichkeiten dient.

Performative Kunst spricht ihrem Wesen nach eben ganz konkret die Sinne an. Sie braucht die Aura des Hier und Jetzt, des in realer Gemeinschaft sich Ereignenden. Das merken nicht nur Kulturschaffende, die aus ihrem verständlichen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit Konzerte, szenische Aufführungen und Ausstellungseröffnungen online vor leeren Sälen präsentieren. Die Trostlosigkeit dieses Unterfangens wird besonders am Ende der digitalen Events greifbar, wenn sich die Künstler bei völliger Stille vor einem imaginären Publikum verbeugen. Da kann man sich als Zuschauer oder Zuhörerin vor dem Bildschirm fast schon peinlich berührt fühlen. Ja, beinahe sehnt man in solchen Momenten einen Applaus aus der Konserve herbei – wie in amerikanischen Comedy-Serien, die zu ihren Gags Publikumsgelächter einspielen.

Kein Wunder, dass demgegenüber künstlerische Aktionen als geradezu beglückend wirken, die sich im realen Raum ereignen. Den Anfang machten spontane und improvisierte Balkon-Konzerte, Straßenperformances sowie nachbarschaftliches Hinterhof-Musizieren. Es gab aber auch künstlerisch ambitionierte Alternativformate wie die »1:1 Concerts« des Staatsorchesters Stuttgart, die von Marina Abramovićs Performance »The Artist is present« inspiriert sind. Ein spannendes Konzept, das schon vor der Pandemie auf ein ungewöhnliches Kontakterlebnis zwischen jeweils einem Musiker und einem Zuhörer setzte und das sogar bei Einhaltung der Abstandsregeln Intimität entstehen lässt. Derzeit bringen behutsame Lockerungen in der Coronakrise das Publikum allmählich wieder in Museen, Theater und Konzertsäle zurück – allerdings unter strengen Auflagen und in deutlich reduzierter Zahl. Die Angst, dass die Rückkehr zu einem halbwegs normalen Kulturleben jederzeit von einem Wiederaufflammen der Pandemie bedroht ist, schwingt dabei immer mit. Jedenfalls kann der kreative Output von Kulturschaffenden – so erfreulich und wichtig er auch sein mag – kaum darüber hinwegtäuschen, dass die kulturellen Aktivitäten nicht annähernd eine solche Veranstaltungsvielfalt bieten, wie es sie vor Corona gab.

Besonders beunruhigend erscheinen die erwartbaren Konsequenzen des gesellschaftlichen und kulturellen Shutdowns über die akute Phase der Pandemie hinaus: Freie Künstler und Künstlerinnen bangen nicht nur momentan um ihre Existenz, viele von ihnen werden sich auch auf Dauer neue, kunstfremde Einkommensquellen erschließen müssen. Denn es brechen ihnen nicht nur derzeit die Einnahmen weg. Auch die Zukunft ist auf längere Sicht äußerst unsicher geworden: Private, staatliche sowie kommunale Veranstalter werden über deutlich weniger Mittel verfügen. Es bleibt abzuwarten, wie ernst die Beteuerungen von Kulturpolitikern gemeint sind, die in Bezug auf Kunst und Kultur von Systemrelevanz und Lebensnotwendigkeit sprechen. Tatsächlich werden die Ausgaben für Kulturschaffende knapper: ein entsprechender Trend, der seit vielen Jahren zu beobachten ist, droht sich nun drastisch zu beschleunigen. Dafür braucht es keine hellseherischen Fähigkeiten. Spendensammlungen und Stiftungen sind hier zwar lobenswert, werden aber langfristig das große Sterben in der weltweit einmalig reichhaltigen und zu großen Teilen mit öffentlichen Mitteln finanzierten Kulturlandschaft Deutschlands nicht verhindern können. Solche Initiativen können entgegen ihrer Absicht sogar das Gegenteil bewirken, indem sie die Illusion erzeugen, es geschähe etwas gegen die zerstörerischen Auswirkungen der Coronabedingten Ausfälle und für den Erhalt der freien Kunstszene. Realistisch betrachtet werden aber bei weiter schrumpfenden Kulturetats auch der öffentlich subventionierte Kulturbetrieb sowie etablierte Institutionen und Ensembles mit gravierenden Einschnitten rechnen müssen, die weit über die aktuelle Krise hinausreichen.

Der Schaden durch COVID-19 ist für die Kultur genauso unvermeidbar wie für die meisten anderen Bereiche des öffentlichen Lebens. Sehr wahrscheinlich wird es sie sogar noch härter treffen, denn sie ist eben nicht systemrelevant – allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz. Die Sorgen um das wirtschaftliche Überleben und um Bereiche, welche die pure Existenz betreffen, werden das Gros der Gesellschaft weit mehr umtreiben, als die Frage nach kulturellen Erlebnissen. Doch auch wenn sich für die Kunst Systemrelevanz nicht so leicht begründen lässt, ist sie doch unbestritten mehr als nur ein Luxusprodukt: Sie ermöglicht Horizonterweiterung ohne schädliche Nebenwirkungen und stößt Erkenntnisprozesse an, die anders nicht zu haben sind. Daher sollte von politischer Seite, aber auch von den Kulturschaffenden selbst alles versucht werden, sich um eine Schadensbegrenzung im Rahmen des Möglichen zu bemühen.

Wie könnte das für performative Künste wie die Musik konkret aussehen? Große Live-Veranstaltungen wie Opern oder Symphoniekonzerte vor einem üblicherweise großen präsenten Publikum werden wohl noch einige Zeit mit geringerem Zuspruch rechnen müssen. Denn selbst wenn alle Einschränkungen aufgehoben werden, ist es fraglich, ob die Menschen sofort wieder in großer Anzahl zurückkehren. Das Beispiel der Salzburger Festspiele im Corona-Jahr 2020 zeigt, dass selbst ein so renommiertes Festival nicht einmal bei einem deutlich reduzierten Kartenkontingent die volle Auslastung erzielen konnte. Dennoch muss es weiterhin darum gehen, tragfähige Konzepte zu entwickeln, damit sich auch andernorts wenigstens ein Teil der geplanten Aufführungen realisieren lässt. Mutige Schritte in diese Richtung gab es bereits zum Höhepunkt der Krise im Frühjahr, wie das Beispiel des Münchner Volkstheaters mit seinem Intendanten Christian Stückl zeigte. Das Ensemble reagierte flexibel, zog die Theaterferien vor und begann dann mit einer früher einsetzenden Spielzeit, in der Corona-angepasste Formate und Inszenierungen auch ästhetisch neugierig machten. In ähnlicher Richtung einer laufenden Anpassung an die sich ständig ändernde und kaum berechenbare Situation sind mittlerweile weitere Häuser und Veranstalter unterwegs. Mut zur Improvisation, Flexibilität und Fantasie im kulturellen Veranstaltungsbetrieb wird auch künftig gefragt bleiben.

Im digitalen Raum findet man bisher allerdings nur wenige Ansätze, die den künstlerischen Belangen gerecht werden. Einerseits fehlt es an tragfähigen Formaten, die den Kulturschaffenden und ihrer Arbeit Aufmerksamkeit verschaffen, ohne ihre Existenz auszubeuten. Andererseits ist es für die Nutzer recht mühsam, sich im digitalen Niemandsland zahlloser kultureller Angebote zurechtzufinden. Wie wichtig es für ein kulturell interessiertes Publikum wäre, bei der unüberschaubaren Fülle an relevanten Inhalten eine Orientierungshilfe zu bekommen, hat der Musikjournalist Holger Noltze kürzlich in seinem Buch World Wide Wunderkammer deutlich gemacht. Eine sorgfältig kuratierte Plattform, die kulturelle Aktivitäten einer Region bündelt, könnte beispielsweise eine weit attraktivere Alternative zu den beliebig zusammengewürfelt wirkenden Linksammlungen sein, wie man sie derzeit zuhauf im Netz findet. Da ist das Internet-Portal »Club & Kultur Stream Augsburg« für die Augsburger Szene ein Best Practice-Beispiel, das sogar schon seit Vor-Corona-Zeiten funktioniert, als eine von der Stadt Augsburg unterstützte Kooperation von Veranstaltern, Vereinen und Spielstättenbetreibern.

Von der bloßen Übertragung analoger Events im Internet haben die freien Künstlerinnen und Künstler, die angesichts der sich rapide leerenden Fördertöpfe und Veranstaltungsetats einen Existenzkampf auf Leben und Tod führen, allerdings nicht viel zu erwarten. Denn Online-Veranstaltungen gibt es am selben Ort – nämlich im Netz – zuhauf, auch von international renommierten Ensembles und Künstler-Stars und das häufig sogar gratis. Damit können freie Kulturschaffende, zumal aus experimentellen Nischenbereichen, kaum konkurrieren. Ob Formate wie dreamstage.live, eine von dem Cellisten Jan Vogler initiierte Bezahlplattform für Live-Konzerte bekannter und weniger bekannter Musikerinnen und Musiker hier zumindest eine Teillösung bieten, bleibt abzuwarten.

Am ehesten von einer Online-Präsenz profitieren könnten die weniger prominenten Kulturschaffenden mithilfe vermittelnder Formate. Die funktionieren im Internet besser, weil sie mediengerechter sind als analog konzipierte Darbietungen, die ohne die Ereignishaftigkeit der Live-Atmosphäre und die Begegnung mit anderen Menschen im realen Raum wenig Wirkung entfalten. Auf einer kuratierten, vermittelnd angelegten Plattform könnten Künstlerinnen und Künstler dagegen Ausschnitte ihres Schaffens im Rahmen moderierter Show-Acts präsentieren. Für sie selbst wie für das Publikum wäre das ein attraktives Setting, das Aufmerksamkeit für spannende künstlerische Projekte schafft und Interessierte zu Begegnungen und zur gedanklichen Auseinandersetzung einlädt. Neben Gesprächen und einführenden Moderationen ließe sich mit einer Chat-Funktion, die Partizipation und Austausch ermöglicht, die Attraktivität einer solchen Plattform noch steigern.

Eine medienattraktive und zugleich anspruchsvolle Kulturvermittlung kann im digitalen Raum erfolgreich sein und neue Brücken zwischen Kunstproduzenten und Publikum bauen – auch über die Krisenzeit hinaus. Voraussetzung hierfür ist die fundierte Auswahl und Aufbereitung der Inhalte durch erfahrene Akteure, die nicht nur über genügend Kompetenz und eine gute Vernetzung in der jeweiligen Kulturbranche verfügen, sondern auch über kommunikative Fähigkeiten sowie eine authentische Ausstrahlung. Ein solches Onlineangebot kann dann auch performative Elemente integrieren, um die Lust und das Interesse der Zuschauerinnen und Zuschauer an der präsentierten Kunst zu wecken. Nicht außer Acht lassen sollte man dabei aber die Erfahrungen der Vergangenheit. Diese zeigen, dass die (fast) kostenlose Verfügbarkeit von Musik im Internet die Bereitschaft der Menschen deutlich senkt, Geld für solche Inhalte auszugeben. Schon deshalb sollte das eigentliche künstlerische Event – ob als digital konzipiertes Aufführungsformat oder als analoge Live-Veranstaltung – nicht kostenlos angeboten werden. Denn es gilt auch hier, dass nicht viel wert sein kann, was nichts kostet – vor, in und nach der Coronakrise.

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