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© picture alliance / dpa Themendienst | Franziska Gabbert

Warum der Kapitalismus nicht geschlechtsneutral ist Im langen Schatten des Patriarchats

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Entgegen den Behauptungen neoklassischer Ökonomen führt das kapitalistische System zu einer Benachteiligung von Frauen. Globale Statistiken, etwa von der Weltbank und dem Weltwirtschaftsforum, zeigen diesbezüglich ein weltweites Muster. Forschungen über zwei Jahrzehnte belegen, dass durch Gesetze, religiöse Vorschriften, Familiennormen, Beschäftigungspraktiken, soziale Vorurteile und finanzielle Barrieren die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen in allen Ländern massiv eingeschränkt wird.

Die geschlechtsspezifischen Beschränkungen der wirtschaftlichen Teilhabe von Frauen haben historische Wurzeln, die bis zu den antiken Rechtssystemen der sumerischen und babylonischen Herrscher Ur-Nammu und Hammurabi zurückreichen. Diese Beschränkungen entwickelten sich im Laufe der Zeit zu einem komplexen weltweiten System, das Frauen den Zugang zu Landbesitz, Krediten, finanzieller Beteiligung, Beschäftigung und Investitionen verwehrte und das heute noch fortbesteht.

Männer besitzen mehr als 80 Prozent des Grundbesitzes, der beständigsten Quelle von Reichtum und Macht. Wahrscheinlich seit der Erfindung des Ackerbaus, auf jeden Fall aber seit den ersten Gesetzesbüchern ist Land in praktisch jeder bekannten Gesellschaft nur von Mann zu Mann weitergegeben worden.

»Die Ungleichheit ist weltweit ziemlich einheitlich.«

Die Regeln, die ursprünglich zu diesem krassen Ungleichheitsmuster geführt haben, reichen von der Primogenitur (dem Vorrecht des Erstgeborenen) der früheren europäischen Nationalstaaten bis zur Scharia im Islam. Infolgedessen ist diese Ungleichheit auch weltweit ziemlich einheitlich: So liegt der Anteil der Frauen an den Landbesitzern in Westeuropa und in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara bei 16,1 Prozent – europäische Frauen besitzen heute etwa genauso wenig Land wie im 8. Jahrhundert.

Kapital bringt Kapital hervor und es wechselt nur sehr langsam den Besitzer. Letztendlich führte das männliche Monopol auf Land zur Kontrolle des weltweiten Reichtums. Am Anfang eines jeden Unternehmens oder Investitionsplans sind Frauen daher systematisch benachteiligt.

Die Ehegesetze erlaubten den Ehemännern in der Vergangenheit, zu entscheiden, ob eine Frau arbeiten durfte oder nicht, und entschieden oft dagegen. Wenn sie arbeiteten, mussten Frauen ihren Verdienst an ihre Ehemänner abtreten – eine Praxis, die nicht nur in Entwicklungsländern üblich war, und zum Teil noch ist. In Europa und den USA gewährten sogenannte »Head and Master Laws« den Männern die Verfügungsgewalt über das Haushaltsvermögen und das Einkommen, unabhängig von dessen Herkunft, und zwar von den Zeiten des Gewohnheitsrechts bis zum Informationszeitalter.

In der Schweiz erhielten Frauen erst 1985 in einer knappen Abstimmung das Recht, zu arbeiten und ihr Einkommen und Vermögen ohne die Zustimmung ihrer Ehemänner zu verwalten. US-amerikanische Frauen erhielten erst 1981 die verfassungsmäßige Kontrolle über ihr Einkommen und Vermögen. Diese Bedingungen führten bei Frauen im Laufe der Geschichte weltweit zu chronischer Geldarmut und zur Abhängigkeit von Männern, die ihre Entscheidungsfreiheit stark einschränkte.

Fehlender Zugang zum Finanzsystem

Auch vom Finanzsystem wurden Frauen ausgeschlossen, seit es erfunden wurde. Ihnen wurde das Lesen und Schreiben verboten, sodass sie daran nicht teilnehmen konnten. In der Folgezeit behinderten Männer weltweit den Zugang von Frauen zu Bildung, insbesondere in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften, und erließen Gesetze, die sie vom Bankensystem ausschlossen.

So hatten Frauen über Jahrtausende hinweg keine Möglichkeit, das wenige Geld, das sie erwerben konnten, sicher aufzubewahren, zu sparen oder zu investieren. In vielen Ländern, auch in den Industriestaaten, war es Frauen bis vor relativ kurzer Zeit nicht gestattet, Banken zu nutzen, nicht einmal für ein Girokonto. In den muslimischen Ländern des Nahen Ostens ist es immer noch verbreitet, dass Frauen keine Bankkonten haben dürfen.

Frauen hatten auch keinen Zugang zu Krediten, meist aufgrund gesetzlicher Grundlage. Als die Mikrofinanzierung in den Nullerjahren aufkam, bestand die Innovation nicht wirklich in der Kreditvergabe an die Armen – Kredithaie standen den Verarmten schon immer zur Verfügung –, sondern darin, dass Banken zum ersten Mal Kredite an Frauen in Ländern vergaben, in denen sie eigentlich keine Kredite erhalten durften. Aber auch hier handelt es sich nicht um ein Problem, das auf arme Länder beschränkt ist: Frauen in Nordamerika und Westeuropa konnten bis in die 70er Jahre hinein keinen Kredit auf ihren Namen bekommen.

Ohne die Möglichkeit, Vermögen oder Einkommen zu besitzen und zu kontrollieren, zu sparen, zu investieren oder Kredite aufzunehmen, hatten Frauen somit nicht die gleiche Verfügungsgewalt über produktive Ressourcen wie Männer. Tatsächlich hatten Frauen überhaupt nur selten finanzielle Macht.

Die Industrialisierung eröffnete alleinstehenden Frauen im 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika erstmals die Möglichkeit zu arbeiten, insbesondere in der Textil- und Bekleidungsindustrie. Doch noch in den 1960er Jahren wurden Frauen in den USA und im Vereinigten Königreich gezwungen, ihre Arbeit aufzugeben, wenn sie heirateten, spätestens, wenn sie schwanger wurden. Heute wird in den Industrieländern nicht mehr erwartet, dass verheiratete Frauen nicht arbeiten, aber Mütter werden immer noch durch intolerante Arbeitgeber und Kollegen, ungleiche Aufstiegschancen (sogenanntes Mommy-Tracking) und Regierungen, die sich weigern, berufstätige Mütter durch Investitionen in die Kinderbetreuung angemessen zu unterstützen, rücksichtslos in den Hausfrauenstatus zurückgedrängt.

»Mutterschaft führt zu Benachteiligungen.«

Globale Daten belegen, dass Mutterschaft bei der Entlohnung zu Benachteiligungen führt. Da der Kampf gegen berufstätige Frauen in den Industrieländern vor allem um die Kinderbetreuung geführt wird, ist die »Mutterschaftsstrafe« in den Ländern am stärksten ausgeprägt, die ansonsten die weitestgehende Gleichstellung der Geschlechter aufweisen – und macht einen größeren Teil der Geschlechterdiskriminierung aus. Es scheint, dass so, nachdem Männer das Recht verloren haben, Frauen per Gesetz zwingen zu können zu Hause zu bleiben, ein letzter Versuch unternommen wird, die Gleichstellung der Geschlechter zu unterwandern, über die Köpfe der Kinder hinweg.

Und obwohl beide Geschlechter wichtige Arbeit leisten, wird der Beitrag von Frauen oft nicht wahrgenommen und nicht oder nur schlecht entlohnt. So waren beispielsweise während der Coronapandemie 80 Prozent der Gesundheitshelfer Frauen, die durch ihre schwierige und gefährliche Arbeit Leben retteten und dennoch unterbezahlt wurden.

Der Kapitalismus basiert auf der Vorstellung, dass rationale Individuen mit uneingeschränktem Zugang zu Informationen und Entscheidungsfreiheit das beste Ergebnis für alle erzielen. Diese Prämisse steht jedoch in krassem Gegensatz zur wirtschaftlichen Realität von Frauen. Ihnen fehlt es oft an individueller Handlungsfähigkeit, sie haben nur begrenzte Wahlmöglichkeiten, sind Zwang, Fehlinformationen und gesellschaftlichem Druck ausgesetzt.

Diskrepanzen zwischen den Geschlechtern sollten in jeder echten Wissenschaft zu einer Neubewertung führen. Die kapitalistische Wirtschaftswissenschaft scheint jedoch bereit zu sein, ein System aufrechtzuerhalten, in dem Männer über Reichtum und Macht verfügen. Dadurch wird der Glaube gestärkt, dass Frauen und andere Benachteiligte nicht in der Lage seien, ihre Lebensumstände selbst zu verbessern.

Dies sind einige der Gründe, warum niemand behaupten sollte, der Kapitalismus sei geschlechtsneutral. Sie bilden eine gute Basis, um sich gegen ein System zu wehren, das die Reichen und Mächtigen – und damit die Männer – zu lange begünstigt hat. Es ist längst an der Zeit, daran etwas zu ändern.

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