Das Wahlrecht ist der Maschinenraum der Demokratie. Richtungsweisende Fragen mögen auf höheren Ebenen beantwortet werden, aber dort unten werden die Entscheidungen bis auf die Ebene mathematischer Details heruntergebrochen. Dabei werden Höchstleistungen erbracht, und manchmal geht es auch schmutzig zu. Hehre Ziele und harte parteipolitische Interessen gilt es in Einklang zu bringen. Und selbst die hehren Ziele arbeiten mitunter in entgegengesetzte Richtungen.
Die jüngsten Reformen des Bundestagswahlrechtes haben es gezeigt: Der Bundestag darf, erstens, zwar groß sein, so groß wie jetzt darf er nicht bleiben. Die Zusammensetzung des Bundestages soll, zweitens, die (bundesweite) Verteilung der Zweitstimmen widerspiegeln (Proportionalität). Und jeder der 299 Wahlkreise soll, drittens, durch eine:n direkt gewählte:n Abgeordnete:n in Berlin vertreten sein (Wahlkreisrepräsentanz). Alle drei Ziele sind nachvollziehbar – und doch nicht gleichzeitig zu garantieren. Über viele Jahre waren wir (unausgeglichene) Überhangmandate gewohnt: Gewann eine Partei mehr Wahlkreise als ihr gemäß Zweitstimmenanteil zustanden, so durfte sie diese behalten – auf Kosten der Proportionalität. Anders formuliert: Ziel drei schlägt Ziel zwei.
Quadratur des Kreises
Im Kontext einer Nachwahl in einem Wahlkreis zur Bundestagswahl 2005 wurde das Phänomen des »negativen Stimmengewichts« evident, das ursächlich mit unausgeglichenen Überhangmandaten zusammenhing. Wähler:innen konnten einer Partei schaden, indem sie dieser ihre Stimme gaben. Konkret durften damals in Dresden bei der Nachwahl nicht zu viele Leute der CDU ihre Stimme geben, sonst hätte die Partei tatsächlich ein Mandat verloren. Das darf nicht sein, urteilte das Bundesverfassungsgericht. Nach zähen Verhandlungen stand am Ende ein Wahlrecht, das zwar weiterhin Überhangmandate kannte, diese aber so ausglich, dass der Bundestag in seiner Zusammensetzung grundsätzlich die (bundesweite) Verteilung der Zweitstimmen widerspiegelte.
Der Preis dafür wurde mit der Aufblähung des Bundestags bezahlt: Nach den Wahlen 2017 und 2021 zogen jeweils über 700 Abgeordnete ins Parlament ein, bei einer Sollgröße von 598. Und einige Simulationen im Vorfeld der Wahlen hatten sogar ein noch größeres Parlament erwarten lassen. Anders formuliert: Die Ziele zwei und drei schlugen Ziel eins. Solche »XXL-Bundestage« schadeten aber dem Ansehen der Parteien und der Demokratie; nicht zuletzt verschiedene Bundestagspräsident:innen (von Norbert Lammert über Wolfgang Schäuble bis Bärbel Bas) haben daher Reformen immer wieder angemahnt. Und so hat die Ampel schließlich ein Wahlrecht verabschiedet, das die Größe des Bundestages fixiert und die Proportionalität zwischen seiner Zusammensetzung und dem Verhältnis abgegebener Zweitstimmen garantiert.
Zielkonflikte
Der Preis? Wahlkreise wurden in ihrer Bedeutung herabgesetzt: Es gibt keine Garantie mehr, dass der/die Kandidat:in mit den meisten Stimmen in einem Wahlkreis in den Bundestag einzieht; dafür muss vielmehr genügend Platz (gemäß Zweitstimmenanteilen) sein. Anders formuliert: Die Ziele eins und zwei schlagen Ziel drei. Und im Zuge dieser Abwertung von Wahlkreisen sah der Ampelvorschlag auch gleich die Abschaffung der – an Wahlkreissiegen orientierten – Grundmandatsklausel vor. Zukünftig werden drei gewonnene Direktmandate nicht mehr die gleiche Wirkung haben wie ein Überschreiten der Fünf-Prozent-Hürde, nämlich das Recht, in voller Stärke in den Bundestag einzuziehen. Zusammengefasst könnte man sagen: Wie das so ist, wenn drei Dinge zusammenkommen – zwei verbünden sich gegen den Dritten.
Die Komplexität und Kompliziertheit von Wahlsystemen wird übrigens auch deutlich, wenn man sich entweder die Vielfalt von Wahlsystemen und ihren Detailregelungen bei Landtags- und Kommunalwahlen in Deutschland oder auch die Vielfalt von Wahlsystemen weltweit anschaut. Und das wiederum heißt wohl auch, dass so manche Äußerung in der jüngsten Wahlrechtsdebatte etwas über das Ziel hinausschoss. Über Wahlsysteme lässt sich trefflich und länglich streiten – die letzten Jahre haben es gezeigt. Aber von einem »Wahlbetrug mit Ansage« sollte kein verantwortlicher Politiker sprechen.
»Von fundamentaler Bedeutung sind Fragen rund um die Repräsentationslogik im Parlament.«
Gegen das jüngst beschlossene Wahlrecht ist wieder einmal vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt worden, und man darf gespannt sein, was dort final entschieden wird. Aber unabhängig davon werden die Debatten rund um das Wahlrecht nicht aufhören, im Gegenteil. Von fundamentaler Bedeutung sind dabei die aufgeworfenen Fragen rund um die Repräsentationslogik im Parlament. Im bisherigen Wahlrecht spielen Regionen eine wichtige Rolle – allen voran Wahlkreise, aber auch Landeslisten (siehe CSU). Von besonderer Bedeutung sind aber Parteien, die wir mit unseren Zweitstimmen wählen. Aber reicht das? Paritätsgesetze, die eine gleiche Repräsentation von Frauen und Männern im Parlament garantieren sollen, sind keine graue Theorie mehr, sondern wurden in zwei Bundesländern – Brandenburg und Thüringen – schon auf den Weg gebracht, wenn auch zwischenzeitlich vom Bundesverfassungsgericht gestoppt.
Schaut man ins Ausland, so stellt man fest: Frankreich hat längst ein solches Gesetz. Auch andere Gruppen – junge Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen aus bestimmten sozialen Schichten – sollen stärker im Parlament vertreten sein, ist oft zu hören. Was soll, was kann ein Wahlsystem hier leisten? Streit ist programmiert.
Bei der konstituierenden Sitzung des 20. Deutschen Bundestags sagte der damalige Alterspräsident Wolfgang Schäuble: »Wir alle repräsentieren als Abgeordnete das Volk. Wir vertreten die legitimen Interessen unserer Wähler und Parteien. Aber: Wir haben immer auch das Gemeinwohl im Blick zu behalten. Verwechseln wir Repräsentation nicht mit Repräsentativität. (…) Auch wenn sich natürlich die gewachsene Vielfalt unserer Gesellschaft in der Volksvertretung wiederfinden soll: Der Bundestag wird nie ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung sein. Wer Repräsentation mit Repräsentativität gleichsetzt, wird eine Fülle eklatanter Abweichungen finden: in beruflicher, in regionaler, in kultureller oder religiöser Hinsicht. Und er leistet dem irrigen Verständnis Vorschub, dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten.« Und er bekam dafür, wie dem Protokoll zu entnehmen ist, Beifall von der AfD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP.
Vielfalt tut dem Land gut
Kurz darauf sagte die frisch gewählte Präsidentin Bärbel Bas Folgendes: »Meine Damen und Herren, dieses Parlament ist besonders jung, und es tut unserem Land gut, dass sich gerade jüngere Menschen für Veränderung und Innovation starkmachen. Außerdem ist dieses Parlament besonders vielfältig. Das war bei der Verlesung der Namen unserer Schriftführer deutlich zu hören. Auch das tut unserem Land gut. Die Zusammensetzung des 20. Deutschen Bundestages zeigt, dass seine Mitglieder in ganz verschiedenen Teilen der Gesellschaft verwurzelt sind. Sie bringen unterschiedliche Berufserfahrungen und Herkunftsgeschichten mit. Ihre Lebensläufe und Lebenswege werden unsere Debatten bereichern. Die Vielfalt ist eine Chance für uns alle – in diesem Haus, aber auch außerhalb.«
Bärbel Bas bekam dafür Beifall von der SPD, der CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, der FDP und der Partei Die Linke. Wahlsysteme bilden letztlich nur Debatten ab, die viel fundamentalere Fragen – in diesem Fall die Frage, wie eigentlich eine Gesellschaft bestmöglich repräsentiert wird – berühren.
Übrigens wird die Diskussion hoffentlich auch noch einmal die Wahlkreise erreichen. Dass eine regionale Einheit durch eine Person vertreten wird, kennen wir: Direkt gewählte Präsidenten, Landräte, Bürgermeisterinnen, Abgeordnete. Aber wie wird eine solche Einheit eigentlich am besten vertreten – und wie kann ein Wahlsystem das sicherstellen? Um in einem Bundestagswahlkreis direkt gewählt zu werden, reicht aktuell die einfache Mehrheit der abgegebenen Erststimmen. Und das sind zum Teil erschreckend wenige. Einem einzigen Kandidaten ist es bei der Wahl 2021 noch gelungen, mehr als 50 Prozent der Erststimmen auf sich zu vereinen: Johann Saathoff (SPD) im Wahlkreis Aurich – Emden. Dagegen reichten dem Abgeordneten Lars Rohwer (CDU) gerade einmal 18,6 Prozent für Platz 1 im Wahlkreis Dresden II – Bautzen II.
Wäre es nicht um die 299 Wahlkreise des Deutschen Bundestags gegangen, sondern um die Wahl von Bürgermeister:innen oder Landrät:innen, hätte nur Johann Saathoff im ersten Wahlgang genügend Stimmen erreicht. Alle anderen wären typischerweise in eine Stichwahl gegangen – und wir haben gerade in jüngerer Vergangenheit immer wieder erlebt, dass aus diesen Stichwahlen nicht derjenige als Sieger hervorgegangen ist, der in der ersten Runde noch die Nase vorn hatte. Das haben wir übrigens gerade auch bei kommunalen Wahlen mit AfD-Kandidaten gesehen.
Auch wenn eine relative (und mitunter recht kleine) Mehrheit gerne einen Kandidaten für den eigenen Wahlkreis im Bundestag sehen würde, so gäbe es wohl oft absolute und damit sehr große Mehrheiten, die lieber jeden anderen Kandidaten anstelle eines AfD-Kandidaten als ihren Vertreter für den eigenen Wahlkreis im Bundestag sehen würden. Eine solche Diskussion scheint überfällig und hatte auch bei der kurzzeitigen Diskussion um eine mögliche »Ersatzstimme« schon einmal begonnen.
»Europawahlen werden die Breite wahlsystemischer Möglichkeiten aufzeigen.«
2024 werden Europawahlen stattfinden, die europaweit, aber gerade auch in Deutschland nochmals die Breite wahlsystemischer Möglichkeiten aufzeigen werden. Keine Sperrklausel, keine Wahlkreise, dafür aber erstmals bei einer bundesweiten Wahl ein Wahlrecht für 16- und 17-Jährige sowie – wenn auch nicht neu – für EU-Ausländer:innen. Und auch über letzteres – nämlich die Frage, wie eigentlich die vielen Nicht-Deutschen im Land in den Wahlprozess eingebunden werden können – scheint eine Diskussion überfällig. Schauen wir noch einmal auf die Rede der frisch gewählten Bundestagspräsidentin Bärbel Bas im Oktober 2021: »Duisburg, wo ich geboren bin, hat übrigens auch noch nicht erlebt, dass ein Kind der Stadt in ein so hohes Staatsamt gewählt wird. (…) Ich verspreche, meine Stadt nicht aus dem Blick zu verlieren.«
Dabei hatte der Wahlkreis Duisburg II bei der Bundestagswahl 2021 die niedrigste Wahlbeteiligung: Nur 63 Prozent der Wahlberechtigten machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch; in Duisburg insgesamt waren es über alle Wahlkreise hinweg 68 Prozent. Und hinzu kommt noch: Wenn man sich die Kreise und kreisfreien Städte in NRW anschaut, dann ist Duisburg auch diejenige Stadt mit dem geringsten Anteil an Wahlberechtigten bezogen auf die Menschen, die in der Stadt leben: Rund 64 Prozent. Und das liegt nicht primär daran, dass sie zu jung sind, sondern dass sie keinen deutschen Pass haben.
Machen wir es konkret: In Duisburg leben rund 500.000 Menschen. Von ihnen sind 64 Prozent wahlberechtigt – bleiben 320.000. Von ihnen haben 68 Prozent gewählt, bleiben 217.600 Menschen. Das sind gerade einmal 43,5 Prozent der Menschen, die in der Stadt leben. Das kann man schulterzuckend hinnehmen – oder auch nicht. Und im letzteren Fall bietet ein Wahlrecht auch dafür Ansatzpunkte: Gäbe es etwa ein Wahlrecht ab Null Jahren für alle Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben, und noch dazu eine Wahlpflicht, dann hätte Duisburg 500.000 Stimmen statt bloß 217.600.
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