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Zum 250. Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel Im Reich des spekulativen Idealismus

Er war ein Jahrgangsgenosse von Friedrich Hölderlin und Ludwig van Beethoven: der am 27. August 1770 in Stuttgart als Sohn eines Beamten geborene Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Nach dem Besuch des Gymnasiums trat er 1788 mit einem »stipendium theologicum« in das Tübinger Stift ein – die herzogliche Kaderschmiede für den Kirchendienst – und immatrikulierte sich an der Universität, an der er bis 1793 Philosophie und Theologie studierte. Im Tübinger Stift wohnte er zeitweise mit Hölderlin und dem fünf Jahre jüngeren Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zusammen. Dem für Stiftsangehörige vorgesehenen Kirchendienst nach dem Studienabschluss entzog er sich, indem er – wie Hölderlin – bescheiden dotierte »Hofmeister-« bzw. Hauslehrerstellen dem landesväterlich kontrollierten Kirchendienst vorzog und emigrierte. Von 1793 bis 1796 wurde er Hauslehrer bei der Berner Patrizierfamilie des Hauptmanns Carl Friedrich von Steiger und von 1797 bis 1800 beim Frankfurter Weinhändler Johann Noë Gogel. Der gebildete Hauptmann von Steiger besaß eine Bibliothek, in der sich der früh politisch interessierte Hegel mitden Klassikern von Niccolò Machiavelli über Thomas Hobbes und Hugo Grotius bis zu Montesquieu, Jean-Jacques Rousseau und Adam Smith vertraut machte.

Von einem genialischen Fragment abgesehen, »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« (1796/97), dessen Autorschaft umstritten ist und das auch von Hölderlin oder Schelling stammen könnte, deutete nichts im Leben des mittlerweile 30-jährigen Hegel darauf hin, dass er wenige Jahre später das philosophisch wichtigste und einflussreichste Werk für das 19. und 20. Jahrhundert vorlegen würde – die Phänomenologie des Geistes von 1807. Vorzeichen für diesen großen Wurf sind jedoch bereits im »Systemprogramm« des Tübinger Trios enthalten, lassen aber in ihrer wuchtigen Diktion sowohl auf Hegel als auch auf Hölderlin als Autoren schließen: »Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muss freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. Ihr seht von selbst, dass hier alle Ideen vom ewigen Frieden usw. nur untergeordnete Ideen einer höheren Idee sind. Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung bis auf die Haut entblößen. (…) Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst. – Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.« Von theologischen Traktaten abgesehen, handeln fast alle frühen Schriften Hegels von skandalösen politischen und sozialen Zuständen in Württemberg, im dahinsiechenden Reich (»Deutschland ist kein Staat mehr«) und im Waadtland, einem südlich von Bern gelegenen Okkupationsgebiet des Berner Patriziats.

Denker der Moderne

Eine Erbschaft nach dem Tod des Vaters ermöglichte es Hegel, die unbefriedigende Hauslehrertätigkeit in Herrenhäusern aufzugeben und 1801 eine Stelle als Privatdozent (ohne Besoldung) und später als außerordentlicher Professor in Jena anzunehmen – auf Goethes Intervention für 100 Taler Lohn im Jahr.

In der Jenaer Zeit entstand – bis zur Flucht aus der am 13. Oktober 1806 von französischen Truppen besetzten Stadt – das Manuskript der Phänomenologie des Geistes. Es erschien 1807, als erstes größeres Werk des 37-Jährigen, der sich bisher wie ein Berserker an kleinen Schriften und Aufsätzen abgearbeitet hatte. Er übernahm in diesem Jahr als Kriegsflüchtling in Bamberg die Redaktion der Bamberger Zeitung, geriet so statt unter Napoleons unter das »Zeitungsjoch« und durchlitt darunter »jede Minute« als »verlorenes, verdorbenes Leben«, wie er in einem Brief schrieb.

Die Phänomenologie des Geistes, die Herbert Marcuse als »eines der größten philosophischen Unternehmen aller Zeiten« bezeichnete, deutet die Epoche des Übergangs vom Ancien Régime über die Revolutionen in den USA und in Frankreich zur imperialen Herrschaft Napoleons und bis zur Restauration als Eintritt in die Moderne. Der ursprünglich geplante Buchtitel »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« verwies auf diesen Zeitbezug. Als Philosoph des Übergangs zur Moderne begriff Hegel Philosophie als ein Medium, das »ihre Zeit in Gedanken erfasst«. Hegel wollte Philosophie, Geschichte, Natur und Welt als ein »System« darstellen. Das gelang ihm nur fragmentarisch. Er interpretierte die Bewegung von Geschichte und Bewusstsein als zielgerichteten, aber nicht-linear verlaufenden, sondern dialektischen, sich in Widersprüchen bewegenden Prozess. Den beschrieb er als gleichzeitiges und gegenläufiges Stimulans für Zerstörung und Erzeugung – als »bacchantischen Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist«. Er verwendete dazu den Begriff der Aufhebung, d. h. der »bestimmten Negation«. Damit meinte er die gleichzeitige Überwindung von Altem und Falschem, die Bewahrung von Wahrem und das Emporheben von Neuem. In der dialektischen Bewegung des Denkens vom bloß sinnlich Wahrgenommenen – und insofern Abstrakten – zum vernünftig geprüften, vielgestaltigen und schließlich begriffenen Konkreten sollte sich ein entzweites Bewusstsein, die von Gegensätzen zersetzte Wirklichkeit (»gedoppelte Welt«) zwischen Diesseits und Jenseits, Glauben und Wissen, Freiheit und Terror zu einem Ganzen vereinigen und in der Einheit des absoluten Wissens versöhnen.

Mit dem Gang durch die »Erfahrung des Bewusstseins« hat Hegel der Geschichte zu philosophischem Rang verholfen und damit ein wechselseitiges Verhältnis von Geschichte und Bewusstsein hergestellt, das Philosophie und Wahrheit, aber auch Wissenschaften und Politik historisch imprägniert. Dieser Zeitkern manifestiert sich in gesellschaftlichen Formen, Institutionen und Normen, in Recht, Moralität und Sittlichkeit, in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Hegel begriff diese gesellschaftlichen Formen als »objektiven Geist« im Gegensatz zum bloß »subjektiven« (Anschauung, Vorstellung, Denken, Fühlen). Mit der Reflexion des realen Gegenstandsbereichs des »objektiven Geistes« zielte Hegel – und das war seine epochale Leistung – auf die Herausbildung des Geschichtsbewusstseins und schuf damit auch die Basis für die Integration der historischen Dimension in Philosophie und Sozialwissenschaften im modernisierten Universitätsbetrieb.

»Das Wahre als Totalität«

In seiner Zeit als Gymnasiallehrer in Nürnberg von 1808–1816 entstanden neben Rektoratsreden und anderen offiziellen Schriften Entwürfe und Fragmente zur Logik, zur Naturphilosophie und zur »Geisteslehre als Einführung in die Philosophie«, zur »Psychologie« sowie zur »Rechts-, Pflichten- und Religionslehre«. Hegel änderte die Entwürfe oft von Schuljahr zu Schuljahr. 1813 erschien der erste Band der Wissenschaft der Logik.

Ende 1816 wurde Hegel an die Universität Heidelberg berufen, wo er zwei Jahre unterrichtete. Hier veröffentlichte er die zum Teil bereits in Nürnberg entstandenen drei Bände der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse mit 577 Paragrafen. Den Anspruch, »das Wahre als Totalität« in einem »System« darzustellen, konnte Hegel freilich nur bruchstückhaft erfüllen. Das riesige Werk beschränkte sich auf »Anfänge und Grundbegriffe« und sollte als »Vorlesebuch dienen, das durch mündlichen Vortrag seine nötige Erläuterung zu erhalten hat«. Einige Passagen verwickelten Hegel in einen Streit mit strenggläubigen Pietisten, die ihm Pantheismus und Spinozismus vorwarfen.

1818 wurde Hegel an die Universität Berlin berufen, wo er am 22. Oktober seine Antrittsvorlesung in einem Klima der politischen Restauration hielt. Die Ermordung des russischen Staatsrats August von Kotzebue durch einen deutschen Studenten führte zu den Karlsbader Beschlüssen (1819) mit ihren Zensurmaßnahmen und der rasch einsetzenden »Demagogenverfolgung«. In dieser Situation erschienen Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820). Diese Rechtsphilosophie ist bis zu John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1971) und Jürgen Habermas’ Faktizität und Geltung (1992) der philosophisch wichtigste und einflussreichste Versuch, vernünftige Freiheit und Gerechtigkeit für alle, mit dem Ziel, die Emanzipation der Individuen als sozialen Prozess, also durch Vergesellschaftung aller in Freiheit, zusammenzudenken. »Das Recht des subjektiven Willens« war Hegels Ausgangspunkt. Im § 132 der »Rechtsphilosophie« heißt es bündig: »Das Recht, nichts anzuerkennen, was ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjekts, aber durch seine subjektive Bestimmung zugleich formell, und das Recht des Vernünftigen als des Objektiven an das Subjekt bleibt dagegen bestehen.« Hegel vermochte jedoch das Recht des Subjekts und das Vernünftige der Allgemeinheit noch nicht zu koppeln zum demokratischen und öffentlichen Prozess der Aushandlung und Entscheidung. Er verordnete deshalb Individuen und ihren Rechten sowie der »bürgerlichen Gesellschaft« den Staat als »sittlich gesetzgebende Autorität der Obrigkeit als zähmende und versöhnende Macht« (Habermas). Hegels Staat bezog seine integrative Kraft und Legitimität nicht von der Zustimmung der zwanglos vergemeinschafteten Bürger, sondern war dafür auf Religion als Ressource angewiesen. Deshalb hielt es Hegel für opportun, von den Staatsbürgern »irgendeine« (!) Religionszugehörigkeit »zu fordern« (§ 270).

Hegels Provokation in der Vorrede (»Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«) hat ihm den Ruf eingetragen, ein Apologet des autoritären preußischen Staates gewesen zu sein. Diese Lesart verkennt, dass Hegel Wirklichkeit und Vernünftigkeit nicht gleichsetzte, weil er mit »Wirklichkeit« nicht einfach das Existierende meinte, sondern das mit Vernunft erst zu Verwirklichende. Zum 250. Geburtstag darf daran erinnert werden, dass es Hegel wie jeder ernstzunehmende Philosoph explizit ablehnte, »jede noch so verkümmerte und vergängliche Existenz« mit dem Etikett »Wirklichkeit« zu adeln. Der »böse Blick« (Theodor W. Adorno) der Kritik war auch für ihn elementar.

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