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Die Lage vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen Im wilden Westen

Die Zeiten, in denen in Nordrhein-Westfalen die Opposition die Regierung erst nach Jahrzehnten ablöste, gehören dem 20. Jahrhundert an. Seitdem geht es in NRW zu wie im Wilden Westen: Eine Regierung jagt die andere. Die Koalitionsvarianten wechseln von Wahl zu Wahl. Zwischen 2000 und 2005 regierte das Land eine rot-grüne Koalition, die zwischendurch in eine tiefe Krise geriet, aber dann doch noch hielt. 2005 gelang der CDU der Durchbruch. Nach fast 40 Jahren stellte sie wieder den Ministerpräsidenten; fünf Jahre später wurden sie und die FDP wieder abgewählt. 2010 kam es zu einer rot-grünen Minderheitsregierung, die zwei Jahre später in vorgezogenen Wahlen eine deutliche Mehrheit erzielen konnte. Doch wie gewonnen so zerronnen: Ihr widerfuhr dasselbe Schicksal wie der Vorgängerregierung. Bereits 2017 kam das Aus und Schwarz-Gelb übernahm erneut.

In der nun zu Ende gehenden Legislaturperiode verfügte die Regierungskoalition bereits kurz nach ihrer Bildung zu keinem Zeitpunkt mehr über eine Mehrheit in den Meinungsumfragen. Sie verlor darüber hinaus aber auch ihre politischen Architekten: Christian Lindner und Armin Laschet wechselten von der Landes- in die Bundespolitik – der eine mit mehr, der andere mit weniger Erfolg. Schwarz-Gelb erschien deshalb von vornherein als Auslaufmodell, ohne dass eine andere Mehrheitskonstellation greifbar wurde. Spekuliert wurde vor allem über eine kommende schwarz-grüne Mehrheit oder ein Jamaikabündnis. Die Regierungszeiten schienen für die Sozialdemokratie vorerst beendet, war es doch nach Ansicht der politischen Beobachter ausgemacht, dass es mit der CDU nur noch eine Volkspartei geben würde.

Die Erfahrung, dass Amtsinhaber nicht wiedergewählt werden, war vielleicht für das Saarland neu. In Nordrhein-Westfalen ist dies längst die Regel. Ob Peer Steinbrück, Jürgen Rüttgers oder Hannelore Kraft (nimmt man das kurze Interregnum der Minderheitsregierung einmal aus) – sie alle konnten von ihrem Amtsbonus nicht ausreichend profitieren, in der Regel deshalb, weil dem mächtige bundesweite Trends entgegenstanden, aber auch, weil Wahlen immer noch mehr sind als ein reines Duell zwischen Amtsinhaber und Herausforderer. Und so sorgten immer auch landespolitische Ereignisse, bildungs- und innenpolitische Themen sowie Unzulänglichkeiten in der Regierungsführung für rasche politische Wechsel.

Wie volatil die politischen Verhältnisse im größten Bundesland seit über 20 Jahren sind, zeigt auch ein Blick auf die Entwicklung der kleineren Parteien. Die Linke (PDS/WASG) war lediglich zwei Jahre lang im Landtag vertreten, von 2010 bis 2012, die Piraten schafften es fünf Jahre (2012–2017). Erfolgreicher scheint sich die AfD im Landtag festgesetzt zu haben, wenngleich ihr Höhenflug nicht lange anhielt und ihre Fraktion von inneren Verwerfungen tief zerfurcht ist.

Allein Grüne und FDP sind seit 1995 bzw. 2000 ununterbrochen im Landtag vertreten; die Grünen 2017 mit einem ihrer schlechtesten Ergebnisse (6,4 Prozent), die Freien Demokraten mit einem ihrer historisch besten (12,6 Prozent). Doch dies scheint sich den jüngsten Umfragen zufolge innerhalb von nur fünf Jahren wieder umzukehren. Es belegt aber auch, dass die kleineren Parteien politisch bedeutender geworden sind und es eben nicht nur auf ein Personenduell zwischen Kandidaten der beiden größeren Parteien ankommt.

Psychologischer Umschwung zugunsten der SPD

Für die entscheidende Schubumkehr in Nordrhein-Westfalen sorgte die Bundestagswahl im September 2021, aus der die SPD – ganz anders als allgemein erwartet – als führende politische Kraft hervorging. Diese Wahl klärte nämlich zweierlei. Erstens, dass die SPD die dominierende Kraft diesseits der Union bleiben kann und, zweitens, dass ihr wieder zugetraut wird, eine Regierung führen zu können. Eine wenige Wochen vor der Landtagswahl vom WDR in Auftrag gegebene Umfrage bestätigte eben dies für das Land an Rhein und Ruhr. Weil sich eine klare Mehrheit der Befragten für eine von der SPD geführte Landesregierung aussprach, bewirkte dies einen bedeutsamen politisch-psychologischen Umschwung. Auf einmal lag wieder ein Stimmungswechsel in der Luft. In den landespolitischen Fachpolitiken bescheinigte die Umfrage der schwarz-gelben Koalition allenfalls eine gemischte Bilanz und sagte ansonsten ein Kopf-an-Kopf-Rennen von SPD und CDU voraus.

Es ist bemerkenswert, dass die expandierende und immer stärker exponierte Meinungsforschung in einem entscheidenden Punkt sprachlos blieb, nämlich inwieweit der Krieg in der Ukraine das Wahlverhalten beeinflussen könnte. Dass die Regierung Krise nicht konnte, hatte sie mehr als einmal auf ebenso eindrückliche wie bedrückende Art und Weise unter Beweis gestellt. Umso verwunderlicher, dass die Wahlforschung auch an diesen zentralen Fragen der Effektivität und Effizienz von Regierungshandeln kaum Interesse zeigte.

Und dann sind da noch die langen Linien, die bei rein situativen Betrachtungen leicht übersehen werden, für das Wahlverhalten aber durchaus eine Rolle spielen. Die schwarz-gelbe Regierung war immerhin mit einer gewissen Ambition (»Maß und Mitte«) gestartet und Armin Laschet, der im linkskatholischen Spektrum der Union zu Hause ist, hatte sich selbstbewusst in eine Reihe mit dem Zentrumspolitiker und Kurzzeit-Reichskanzler in der Weimarer Republik, Joseph Wirth, und dem früheren Ministerpräsidenten von NRW (1947–1956) und Vertreter eines Christlichen Sozialismus Karl Arnold gestellt.

Doch dann kam der Wechsel von Laschet auf Hendrik Wüst. Einerseits war er eine Verlegenheitslösung, denn die aus dem Ruhrgebiet stammende, tatkräftig und konzentriert agierende Bau- und Kommunalministerin Ina Scharrenbach konnte gar nicht erst antreten, weil sie kein Landtagsmandat mehr besaß. In Nordrhein-Westfalen muss der Ministerpräsident jedoch aus dem Landtag kommen. So kam der aus dem Münsterland stammende, hochkonservative und wirtschaftsliberale Verkehrsminister nach einiger Kabale zum Zuge, auch wenn er keine besondere Leistungsbilanz vorweisen konnte: Als Generalsekretär musste er wegen einer Affäre zurücktreten und als Minister konnte er keinen Durchbruch bei der Behebung schwerwiegender Infrastrukturdefizite erzielen.

Innerparteilicher Richtungswechsel bei der CDU

Anderseits war die Ablösung von Laschet durch Wüst denn doch keine Zufallsentscheidung, sondern ein undeutlich ausgesprochener innerparteilicher Richtungswechsel, wie von Angela Merkel auf Friedrich Merz. Nicht unerheblich für die Personalentscheidung war die Unterstützung aus der Verlegerszene. Wüst, der neben seinem Landtagsmandat von 2010 bis 2017 als Geschäftsführer des nordrhein-westfälischen Verlegerverbandes tätig war, saß schon als Minister neben seinem Kollegen Stephan Holthoff-Pförtner, der bis 2017 Präsident des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) gewesen war und der nach nur zwei Monaten seine Zuständigkeit für die Medienpolitik wegen anhaltender Kritik an seiner Rolle als Medienunternehmer abtreten musste.

Mächtige Medienhäuser waren nicht unglücklich über die Personalia und kommentierten die Wahl Wüsts zum neuen Ministerpräsidenten entsprechend freundlich. Aber auch sie konnten das Mallorca-Gate nicht unkommentiert lassen. Die Unverfrorenheit der Umweltministerin Ursula Heinen-Esser, die bis zum Schluss glaubte, sie könne ihr Amt weiterführen, hat Wüst und Scharrenbach gleichermaßen beschädigt. Den einen, weil er als Ministerpräsident nicht entschieden handelte, die andere, weil sie als Heimatministerin die Heimat verließ, um sich während der Bewältigung der Flutkatastrophe ein Wochenende auf Mallorca bei ihrer Kollegin Heinen-Esser zu gönnen und dies dann noch als Missverständnis abtat.

Die NRW-SPD tat sich nach der verlorenen Landtagswahl schwer, einen personellen Neuanfang zu bewerkstelligen, der die Erneuerung der Partei, die Neuaufstellung ihrer Fraktion und die fällige politische Neuausrichtung glaubwürdig unterstrich. Mit der Wahl von Thomas Kutschaty zum Fraktionsvorsitzenden und dann auch zum Landesvorsitzenden geschah dies erst relativ spät. Kutschaty, der nicht zu den Poltergeistern der Politik zählt, sondern klug, kompetent und smart auftritt und überlegt handelt, ist lange Zeit unterschätzt worden. Die Wahlkampagne (»Für euch gewinnen wir das Morgen«) unterstützt einen Sympathieträger und ein mondänes Wir-Gefühl, das medial zwar schwerer durchdringt als ein egomanisches Haudrauf, sich aber letztlich auszahlen dürfte.

Die Coronapandemie, der Krieg in der Ukraine und die Inflationstendenzen haben die Koordinaten der deutschen Politik nachhaltig verschoben. Sie haben das Bewusstsein für den Wert eines demokratischen Rechtsstaates geschärft und das Bedürfnis nach wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit vermehrt. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen richten ihre Kompetenzerwartung eher auf die SPD als auf die anderen Parteien.

Dies ist nicht nur bedeutsam für die bevorstehende Wahlentscheidung, sondern auch für die nachfolgende Koalitionsbildung. Die FDP hat sich von ihrem Koalitionspartner freigeschwommen. Die grüne Landtagsfraktion hat bislang stark mit dem Gedanken einer schwarz-grünen Option gespielt. Ihre Mitglieder und Wähler denken aber anders. Und schließlich bleibt zu bedenken: Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen den Regierungsfarben im Bund und in den Ländern – gerade im größten Bundesland.

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