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© Mina Gerngross

Ein Gespräch mit der SPD-Bundestagsabgeordneten Reem Alabali-Radovan über die Erwartungen und Ziele der vielen Jüngeren im Parlament Im Zauber des Neuen

So schnell hat an der Bundestagspforte selten jemand sein Ziel erreicht. Frau Alabali? Noch bevor die Dame aus der sicherheitsglasgeschützten Kabine antworten kann, ruft eine forsche Stimme von hinten: »Hier bin ich!« Die Abgeordnete persönlich wartet auf den Besuch, wo in normalen Zeiten erst mal umständlich nach Mitarbeitenden telefoniert wird, die die Gäste dann abholen und in die Büros bringen.

Normale Zeiten sind das aber noch nicht. Reem Alabali-Radovan, brandneue Abgeordnete aus Schwerin, ist deshalb selbst gekommen. Es sei eben viel Chaos in diesen ersten Wochen, sagt sie auf dem Weg ins Übergangsbüro, »Organisationschaos«. Die Dame am Empfang hat noch schnell gebeten, für solche Fälle doch bitte eine Telefonnummer zu hinterlassen. Bisher wisse man an der Pforte ja nur, dass es diese Abgeordnete gibt, aber nicht, wie sie erreichbar ist. Kunststück: Sie hat noch gar keine Telefonnummer, jedenfalls keine im Festnetz des Bundestags.

Es ist Mitte November. Das Parlament ist seit ein paar Wochen durch Wahl des Präsidiums »konstituiert«. Es ist offiziell arbeitsfähig, aber faktisch im Durcheinander des Neubeginns. Der Koalitionsvertrag wird noch ausgehandelt, ob er Euphorie oder Frust auslösen wird, ist noch offen. Beim »Übergangsbüro« der Neuen aus Schwerin handelt es sich um drei enge Räume, die sie mit zwei anderen SPD-Abgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern teilt. Die Computer der Vorgängerin stehen noch auf dem Boden rum, die Regale sind leer – Umzugsatmosphäre. Der einzige Wandschmuck: eine Landkarte des Heimatlandes. Ein Erbstück, das zeigt: Hier saß auch vorher schon jemand aus Mecklenburg-Vorpommern. Kahl sieht es aus, dieses Büro mitten im Zauber des Neuanfangs.

Ob es schon eine Enttäuschung gab in diesen ersten Wochen? Sie nennt die Enttäuschung »Umgewöhnung«. Nach den Monaten eines engagierten Wahlkampfes, in dem es immer und immer wieder um Politik ging, geht es jetzt um Räume, Möbel, Telefonnummern. Schon mal so richtig Bundestagsluft geschnuppert? Einmal im Plenarsaal gewesen, im Rahmen der ersten Fraktionssitzung. Alle 104 Neuen haben sich in dieser Sitzung vorgestellt, 104 mal eine Minute lang. Sie ist eine von ihnen. In mancher Erfahrung steht sie für alle, in vielem sind sie sehr unterschiedlich.

Die SPD hat in diesen Tagen die jüngste Fraktion ihrer Republikgeschichte. 49 unter 35 Jahren, 80 unter 40. Es ist wie die Rache der Realität für die Thesen jener Jugendforscher, die seit Jahrzehnten die Vergreisung von Parteien und Politik behaupten. Im Netz haben die 49 Abgeordneten im Juso-Alter nun auch gleich ihren Auftritt inszeniert, mit Gruppenbild auf der Treppe des Reichstagsgebäudes, Überschrift »49 junge Abgeordnete machen Zukunft«, Text an die Adresse der Jungen im Wahlvolk (»eine Politik, die an Dich denkt«), dann die 49 Einzelfotos. Ganz oben natürlich die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal und ihr Vorgänger Kevin Kühnert. In Reihe zwei gleich Reem Alabali-Radovan aus Schwerin.

Auch Sie also eine Juso-Abgeordnete? Nun ja, sie fühlt da schon eine gewisse Nähe, bei aller Unterschiedlichkeit. Sie zögert etwas und nimmt dann die Kurve: Zuerst ist sie Abgeordnete des Wahlkreises. Nochmal ein Internetauftritt, diesmal der lokale: »Als Schwerinerin möchte ich die Anliegen und Themen meines Wahlkreises in den Bundestag tragen und mich für gute Lösungen einsetzen.« Und ihr Blick auf jenen »Sozialismus«, der bei den Jusos immer wieder mal in den Beschlüssen auftaucht? Sie hat da ihren eigenen, »gefühlt neutraleren« Blick. Im Osten, wo die SPD nun plötzlich flächendeckend Wahlkreise vertritt, ist der Begriff negativ geprägt. Sie selbst, sagt sie, sei vielleicht »etwas pragmatischer als andere«. Keine Theoretikerin. Eine, für die Politik, neben allen Idealen, letztlich meist aus Kompromissen besteht. Aus vielen kleinen Dingen. Jetzt ist sie Vertreterin des deutschen Volkes im Parlament – und zwar eine sehr besondere.

Wenn sie da sitzt in der kahlen Büroecke unter der MV-Karte und redet, sparsam mit Gesten und Emotionen, ohne Geschwafel: Sicher hat ihre Lebensgeschichte zu dieser Ernsthaftigkeit beigetragen. Geboren 1990 in Moskau, wohin die Eltern aus Bagdad geflüchtet waren. Später, als das russische Visum abgelaufen war, Wechsel nach Deutschland und Anerkennung als Flüchtlinge. Die Eltern, ausgebildete Ingenieure, konnten mangels Anerkennung ihrer Moskauer Abschlüsse nie mehr im gelernten Beruf arbeiten. Reem machte in Schwerin Abitur, als der Kanzler Schröder schon Geschichte war. Dann Politikstudium in Berlin. Berufserfahrung ab 2012 in Berlin (Orient-Institut, Nah- und Mittelost-Verein) und wieder Schwerin. Dort zuletzt Integrationsbeauftragte der Landesregierung. »Eine deutsche Politikerin der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands«, schreibt lapidar Wikipedia. Eine, die neu ist in so vieler Hinsicht.

Was sie sich am Allermeisten wünscht in diesen Berliner Startwochen? Es ist ein Sitz im Innenausschuss. Zuständigkeit für ihre persönlichen Hauptthemen: Migration, Kampf gegen rechts. Oft sind das nicht zwei Themen, es ist eines. In der beginnenden Ampelzeit könnte sich da etwas mehr tun als bisher, liegen SPD, Grüne und FDP weit weniger auseinander als in anderen Bereichen. Das Demokratiefördergesetz endlich durchsetzen, das zum Beispiel. Staatsbürgerschaftsrecht, Fachkräfteeinwanderung. Konsequentere Schritte gegen Alltagsrassismus. Sie sieht da vieles, was junge Abgeordnete miteinander verbindet. Ähnlich wie bei den Themen Arbeitsplatzgerechtigkeit, Wohnen, Digitalisierung, Klimaschutz. Der Unterschied zu den Alten? »Wir sprechen mehr miteinander, wir sind gut vernetzt.«

Eher ein Generationengefühl also beim Start in die Parlamentswelt, mehr jedenfalls als eine Einordnung nach Parteiflügeln und klassischen Richtungsthemen. Wie überhaupt in dieser Generation Kühnert+ anders kommuniziert und organisiert wird als alteingefahren. Ob man das offener nennen kann? Unentschiedener? Unpolitischer nach den bisherigen starren Maßstäben? Klar ist, dass es ihnen ziemlich egal ist, wie die Alten es nennen. Ein Neuanfang ist ein Neuanfang. Reem Alabali-Radovan aus Schwerin sagt an dieser Stelle einen sehr entschlossenen Satz. Einen, der Ungewissheit und Herausforderung gleichermaßen ausdrückt. Sie sagt: »Wir müssen dann auch zeigen, dass wir`s draufhaben.« Was auch bedeutet: Erreicht ist noch gar nichts.

Was auf diesem politischen Weg auf keinen Fall passieren darf? »Ein Weiter-so.« Ob die Große Koalition realpolitisch wirklich so schlimm war? »Zuviel Stillstand.« Ob Angela Merkel nicht in gewisser Weise auch sozialdemokratisch war? »Mag sein, dass sie in der CDU auf dem sozialdemokratischen Rand stand. Aber es war immer noch die CDU, die sich jetzt wieder deutlicher zeigen wird.« Sagt eine junge Abgeordnete, die sich selbst manchmal noch zu rücksichtsvoll, zu nett findet. Die in aller Ruhe aber festhält: »Ich kann schon in den richtigen Momenten laut sein.« Und die gerade zu ahnen beginnt, dass mehr Härte zu jenen Eigenschaften zählt, die sich im Abgeordnetenleben meistens wie von selbst einstellen.

Im Abgeordnetenleben? Noch nimmt sie die U-Bahn und vermeidet nach Möglichkeit die Fahrbereitschaft des Bundestags. Noch taucht sie problemlos wieder ein in den alten Bekanntenkreis aus Berliner Studienzeiten. Schwerin ist nur um die zwei Reisestunden weit weg. Und im Bundestag soll es sogar eine Sporthalle geben. Hat sie noch nicht ausgekundschaftet, wird sie aber tun. Wobei der Sport, um den es da geht, für Bundestagsverhältnisse alles andere als gewöhnlich ist, im Unterschied zu den ihm entliehenen Verhaltensweisen.

Die neue Abgeordnete boxt, wobei sie die Bezeichnung Boxerin falsch findet, weil sie nicht in Wettkämpfen mitmacht. In Berlin während des Studiums kam sie zu den »Box-Girls«, für die sich sogar eine Professorin engagiert hatte. In Schwerin (»auch das bin ich«) hat sie sich dem Boxclub Traktor angeschlossen. Und sagt sehr entschlossen, geradezu trotzig, einen Satz voller Entschiedenheit und Lebenserfahrung: »In diesem Sport fragt keiner, wer Du bist und woher Du kommst.«

Bis auf einmal. Da hatte sie den Kanzlerkandidaten Olaf Scholz in den BC Traktor Schwerin gelotst. Die Fotos mit Scholz und den Boxhandschuhen gingen gut durch die Medien. So gesehen: ein erfolgreicher Auftritt. Aber auch so gesehen: Diesen Termin wird selbst ein Kanzler so schnell nicht vergessen.

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