Wie eine Sagengestalt aus längst vergangenen sozialdemokratischen Jahrzehnten scheint die Skulptur Willy Brandts alles zu überschatten, was sich bis heute auf dem Podium im großen Saal des Willy-Brandt-Hauses, der Parteizentrale der SPD, abspielt. Neben dem bronzenen Koloss, der da drei Meter vierzig hoch aufragt und 500 Kilo schwer ist, von Rainer Fetting geschaffen (und Brandts Hang zu gepflegter Kleidung schwerlich gerecht werdend), wirkt jeder politische Kandidat beinahe winzig, ja muss notwendig winzig wirken, und sei er noch so qualifiziert. Die Frage stellt sich: Ist dies auch gerecht?
»(…) besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll«, rief der todkrank darniederliegende Brandt im Herbst 1992 noch als Präsident der Sozialistischen Internationale seinen Freunden zu, die ohne ihn im Reichstagsgebäude tagen mussten. Der historische Rückblick zeigt, dass es seit Mitte des blutigen, von Kriegen zerrissenen 20. Jahrhunderts vor allem zwei deutsche Sozialdemokraten gegeben hat, die auf dieser »Höhe der Zeit« standen, die richtigen Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit fanden und deshalb mit der Kanzlerschaft belohnt wurden: Der eine war Willy Brandt selbst, der die Bundesrepublik mit seiner Ost- und Entspannungspolitik vor drohender Isolation bewahrte und mit dem Abbau der Feindbilder im Osten eine wichtige Grundlage für die spätere Einheit schuf. Der andere war Gerhard Schröder, der mit seiner rot-grünen Koalition den langjährigen innenpolitischen Reformstau der Ära Kohl beendete und mit seiner Agenda 2010 die Bundesrepublik, die mit ihrer damals hohen Arbeitslosigkeit zu Recht als »kranker Mann Europas« galt, wieder auf gesunde Beine stellte. Dass überzogene Details dieser Agenda inzwischen korrigiert wurden, ändert nichts an seinem überragenden Verdienst: einen Reformkatalog zu schaffen, um den uns viele Nachbarländer beneiden und von dem die Bundesrepublik, vor allem auch seine christdemokratische Nachfolgerin im Kanzleramt, über mehr als ein Jahrzehnt ökonomisch profitierten. Wenn hier nur zwei sozialdemokratische Regierungschefs genannt werden, schmälert das die Verdienste des Dritten nicht. Helmut Schmidt, der populäre Kanzler der administrativen Kompetenz, der das Ruder nach Brandts Rücktritt übernahm, lotste die Bundesrepublik mit sicherer Hand durch die schweren ökonomischen Krisen, die der Ölschock von 1973 für die Weltwirtschaft brachte. Schmidt führte klug und entschieden auch durch den »Deutschen Herbst« 1977 und die Terrorjahre der RAF insgesamt. Weichenstellungen aber, die seine Partei aus anderthalb Jahrzehnten der Opposition erst ans Mitregieren und dann ins Kanzleramt brachten, hatte er natürlich nicht mehr vorzunehmen – das hatte sein Vorgänger Willy Brandt, wenn auch im engen Zusammenspiel mit Herbert Wehner, besorgt.
Aus der Geschichte der bedeutenden Sozialdemokraten ragt Brandt hervor als die »sozialdemokratische Jahrhundertfigur« (Hans-Peter Schwarz) nicht nur, weil er alle Epochen dieses Jahrhunderts durchlebte, sondern weil er ein Stück ungebrochener – und leider rarer – deutscher Freiheitstradition verkörperte. Mit seiner Person stand er gegen die beiden Totalitarismen, die Verantwortung für die großen Tragödien und Massenmorde dieses Jahrhunderts tragen. Als junger demokratischer Sozialist kämpfte er in Lübeck und im skandinavischen Exil gegen den Nationalsozialismus und leitete einige Monate in Berlin eine sozialistische Untergrundorganisation; und als Regierender Bürgermeister verteidigte er die Interessen des eingeschlossenen, belagerten, von Nikita Chruschtschow mit Ultimaten bedrohten Westberlin gegen Stalinisten und Realsozialisten; ebenso entschieden wie geschickt vertrat er die Sache der Berliner Freiheit auf westlichen Außenministerkonferenzen und vor internationalen Gremien.
Vor allem für Jüngere ist der Name Willy Brandt heute oft ein Synonym für den Begriff des »Friedenskanzlers«, so als ob er nur ein Mann der Versöhnung und des Ausgleichs gewesen sei. Darüber gerät dann gern in Vergessenheit, dass dieser Willy Brandt auch ein Kämpfer war, ein hochtalentierter, vor allem rhetorisch begabter »Kalter Krieger« in einer Zeit, als der Stalinismus in Europa auf dem Vormarsch und die westliche Insel Berlin sein sicheres Opfer schien. Wir mussten damals um unsere Freiheit kämpfen, so erinnerte sich Brandts enger Mitstreiter Egon Bahr einmal, deshalb blieb uns gar nichts anderes übrig, als »Kalte Krieger« zu sein.
Ohne Zweifel haben nicht nur das skandinavische Exil mit seinem Außenblick auf das nationalsozialistische Deutschland, sondern vor allem die Berliner Nachkriegsjahre Brandt und seine Politik geprägt. Noch seine ersten Reden nach dem Mauerbau zeigen rhetorische Züge des brillanten Kalten Kriegers, der von der »Sperrwand eines Konzentrationslagers« quer durch die Stadt, von »Betonpfählen, gerammt mitten ins deutsche Herz« spricht und die »Mächte der Finsternis geißelt«, die Millionen Deutscher »auf die Dauer in Sklaverei« halten wollen. Seine Sätze mögen aus heutiger Perspektive an Ronald Reagans Rede im Jahre 1983 vom »Kreuzzug« gegen das »Reich des Bösen« erinnern, sind aber an eine aufgewühlte, von der Hinnahme des Mauerbaus durch die Westalliierten enttäuschte, wütende und ratlose Menge vor dem Schöneberger Rathaus gerichtet, die er moralisch aufrichten und zugleich vom Sturm auf die Mauer abhalten, also im Zaum halten musste. Aber diese »Mauer der Schande«, wie er und sein Schöneberger Team sie zu Recht nennen, dieses steingewordene Symbol einer gescheiterten Deutschlandpolitik, steht zugleich am Anfang seiner Ostpolitik, die mit »kleinen Schritten« eben in Berlin begann. Genauer: mit Passierscheinverhandlungen, die es ermöglichen sollten, dass die Menschen aus beiden Teilen der Stadt wieder zueinander kommen können. Politik, die den Menschen nicht nutzt, taugt nichts – dies war ein Grundaxiom Brandtscher Politik. Und so markiert die Erkenntnis, dass eine solche Politik ohne Gespräche mit den verhassten Machthabern auf der anderen Seite nicht möglich ist, den Anfang jener Ostpolitik, die schließlich mit der Anerkennung des zweiten deutschen Staates enden wird. Erst diese, seine Politik verwandelte die Bundesrepublik vom Mündel der westlichen Alliierten zum ernstzunehmenden Mitspieler auf der internationalen Bühne, machte Bonn handlungsfähig nach West und Ost, erst mit dem Eintritt in die Vereinten Nationen 1973 konnte es in der internationalen Liga mitspielen und an politischem Gewicht gewinnen. Und erst die Versöhnungspolitik nach Osten, so der sowjetische Diplomat Valentin Falin einmal, schuf eine Atmosphäre in Moskau, in der die Wahl eines Michail Gorbatschow möglich wurde. Von den Jüngeren wird heute oft das nationale Motiv dieser Politik des Modus vivendi, einer deutschen Zweistaatlichkeit auf Zeit verkannt, denn sie wollte die Begegnung der durch Mauer und Stacheldraht getrennten Deutschen wieder ermöglichen und so das Bewusstsein lebendig erhalten, dass sie einer Nation angehören. »Wandel durch Annäherung« – Egon Bahrs Formel für eine Politik der Auflockerung der Grenzen und der Mauer war ursprünglich durch und durch national gedacht: Sie zielte auf eine Transformation der DDR, auf eine Umarmung, in der dem realsozialistischen deutschen Gegenüber langsam, aber sicher die Luft ausgehen würde.
Bahrs Rechnung ist aufgegangen, aber Willy Brandts Erfolge sind nicht denkbar ohne seine Zähigkeit und Ausdauer, vor allem nicht ohne seinen Mut zum Wagnis, der ihn auszeichnete. Zweimal zog er in die Wahlschlacht, gewann zwar jeweils einige Prozente hinzu und holte seine Partei aus dem roten Turm – und unterlag dennoch. Erst im dritten Anlauf errang er die Kanzlerschaft – wenn auch nur auf eine hauchdünne Mehrheit von zwölf Abgeordneten gestützt, unter denen sich von vornherein einige unsichere Kantonisten befanden. Es war dieses »Jetzt oder nie« der Wahlnacht 1969, das ihn auf der »Höhe der Zeit« zeigt, denn was ihm als Außenminister in drei Jahren Großer Koalition unter Kurt Georg Kiesinger nicht gelang, die schmerzhafte Anpassung der deutschen Politik an die Wirklichkeit, wollte er nun in einer kleinen Koalition mit der geschrumpften FDP nachholen – gegen die Überzeugung Herbert Wehners, der in der Wahlnacht von einem Bund mit der »alten Pendlerpartei« abriet. Auch Helmut Schmidt, der Brandt so gern als zögerlich und entscheidungsunfähig kritisierte, duckte sich eher weg, als es wirklich darum ging, eine für die Partei und ihre Zukunft existenzielle, für die Republik und ihre künftige außenpolitische Grundorientierung lebenswichtige Entscheidung zu treffen. Vor dem Wahlgang hatte er eine solide Mehrheit von etwa zwei Dutzend Mandaten für eine SPD-FDP-Koalition gefordert. Jetzt sagte er halb mürrisch, halb resignierend: »Wenn Du’s willst, mach’s doch« – was distanzierend hieß: auf Deine (nicht meine) Verantwortung.
Aber Brandt ging das Wagnis mit unerhörtem Mut ein, weil er wusste, wie sehr die Zeit für eine Revision der Außenpolitik drängte, und dazu kam wohl die Erkenntnis, dass für ihn als Person eine solche Chance nie wieder kommen würde. In seiner ersten Regierungserklärung will er »Mehr Demokratie« wagen, ein Kanzler innerer Reformen sein, und er konnte auch auf dem Feld der Justiz, bei der Mitbestimmung, dem Ausbau und der Reform der Hochschulen Etliches bewegen – bis die Ölkrise mit ihren Haushaltszwängen hochfliegenden Plänen ein Ende setzte. Aber es war seine Ostpolitik, es war vor allem die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie in den Moskauer und Warschauer Verträgen und das Akzeptieren der deutschen Zweistaatlichkeit, die für die großen Dramen seiner ersten Amtszeit sorgten. Seine Mehrheit bröckelte, fast täglich stellte sich die Frage: Hält sie (die Koalition) noch? Nachrichten über Abwerbung, Übertritt oder gar Abkauf einzelner Abgeordneter überschlugen sich bis hin zu jenem Misstrauensvotum, das Brandts Abwahl bringen sollte und die, wie wir heute wissen, DDR-»Meisterspion« Markus (»Mischa«) Wolf durch Bestechung zweier CDU-Abgeordneter verhinderte. Wer die heutigen Pegida-Demonstrationen mit den Galgen für angebliche »Volksverräter« wie Angela Merkel oder Sigmar Gabriel im Blick hat, sollte die Hetzkampagnen nicht vergessen, denen Willy Brandt sich vor Jahrzehnten ausgesetzt sah – als Emigrant, der angeblich gegen sein Vaterland geschrieben und gekämpft habe, und der mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze nun sein Vaterland verrate. An etlichen Wänden im Ruhrgebiet fand sich damals die Losung: »Brandt an die Wand!«. Wer nach den Gründen dieser extremen Polarisierung sucht, sollte allerdings bedenken, dass Brandt den außenpolitischen Kurswechsel zwar mit einer winzigen Mehrheit an Abgeordneten anstrebte, sich aber nur auf 48,5 % der Wählerstimmen stützen konnte. Die bisherige Staatspartei CDU/CSU hatte zwar 1969 mit 46,1 % die Wahlen gewonnen, aber die Herrschaft über den Staat verloren, weil die NPD mit 4,3 % der Stimmen entweder zu wenig oder zuviel der Stimmen erhielt. Zu wenig, um im Bundestag mit der CDU die kleine Koalition zu verhindern, zu viel, um die CDU/CSU jene Stimmen zu kosten, die eine absolute Mehrheit für Kiesinger verhinderte. Die CDU fühlte sich mithin als Opfer der NPD, um diese niederzuhalten sie mit allen Kräften gekämpft hatte – und diese Erkenntnis mag mit dazu beigetragen haben, den Sturmlauf der Konservativen und ihre Kampagne unter der Gürtellinie gegen Brandt zu forcieren. Aber die vorgezogenen Wahlen vom November 1972 brachten schließlich eine triumphale Bestätigung für Brandts Politik: Erstmals zog die SPD mit 45,8 % der Stimmen vor der CDU/CSU als stärkste Fraktion in den Bundestag ein, und die Kleine Koalition sah ihre Politik mit 54,2 % nahezu plebiszitär bestätigt.
Es gibt viele Gründe, Willy Brandt, der am 8. Oktober 1992 starb, noch heute als Vorbild zu preisen – sein Bemühen etwa, die Partei trotz Flügelstreits in den 23 Jahren seines Vorsitzes zusammenzuhalten, oder die Arbeit des Friedensnobelpreisträgers als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission, die mehr Anstrengungen der Industrieländer gegenüber unterentwickelten Weltregionen forderte. Brandts Ost- und Versöhnungspolitik hatte ihn ja zu einer weltweit geachteten moralisch-politischen Instanz gemacht.
Aber wenn künftige Kanzlerkandidaten zum Koloss in der Parteizentrale aufblicken, sollten sie sich vor allem den Kämpfer Willy Brandt und seinen Mut zum Wagnis zum Vorbild nehmen. Nur wer wagt, kann gewinnen – vorausgesetzt allerdings, er ist auf der Höhe der Zeit und hat die richtigen Antworten auf ihre brennenden Fragen parat.
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