Seit über einem Jahr hat Corona die Welt fest im Griff. Während hierzulande viele um ihre Existenz kämpfen und um die Gesundheit ihrer zumeist älteren und risikobehafteten Angehörigen bangen, stehen in ärmeren Ländern ganze Volkswirtschaften vor dem Kollaps. Lieferketten werden unterbrochen und damit auch die Versorgung mit medizinischen Gütern und Lebensmitteln. Es droht eine Krise nach der Krise. Je länger die Pandemie dauert, desto härter werden alle ihre Folgen zu spüren bekommen – weltweit. Alle haben also ein Interesse an einem baldigen Ende der Pandemie. Ein zentraler Baustein dafür ist dabei die globale Verfügbarkeit von Impfstoffen.
»In der Krise beweist sich der Charakter.« Dieser Satz stammt vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt und hat in seiner Aktualität nichts eingebüßt. Beobachtet man das aktuelle Geschehen, fällt Folgendes unweigerlich auf: Statt gemeinsam an einem Strang zu ziehen, dominiert vielerorts eine zerstörerische »Mein-Land-zuerst«-Mentalität. Das zeigt sich insbesondere an der gegenwärtigen Diskussion um die Verteilung von Impfstoffen. Hierbei richtet sich der Blick vieler nach innen. Wann erhalten meine Angehörigen, wann erhalte ich endlich Zugang zu einer Corona-Impfung? Das sind einerseits sehr berechtigte Fragen, auf die die Menschen zu Recht auch eine Antwort verlangen. Die gegenwärtige Debatte ist aber andererseits auch davon geprägt, dass die Politik den Menschen nicht immer die ganze Wahrheit sagt. Denn wenn wir die Pandemie wirklich besiegen wollen, müssen wir von vorneherein global denken und nicht national. Es reicht ja nicht, wenn hierzulande irgendwann alle Impfwilligen geimpft worden sind, sondern erst, wenn alle Menschen auf der Welt Zugang zu Impfstoffen haben und eine kritische Masse die Immunisierung erhalten hat. Das darf nicht irgendwann passieren, sondern muss jetzt angegangen werden. Das muss die Richtschnur für die Politik sein, sowohl in ihrem Handeln als auch im Dialog mit ihren Bürgerinnen und Bürgern.
Anstatt von vorneherein mit allen Kräften darauf hinzuwirken, globale Lösungen zu finden, hat sich leider weltweit ein Impfnationalismus etabliert. Insbesondere reiche Länder horten Impfstoffe – sehr zum Leidwesen der ärmeren Länder. Die Entwicklungsorganisation ONE hat analysiert, dass sich Industrienationen wie die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich, Japan oder Australien, aber auch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammengenommen über eine Milliarde mehr Impfdosen gesichert haben, als sie benötigen, um ihre Gesamtbevölkerung zu impfen. Oder anders ausgedrückt: Reiche Länder haben sich bereits 70 % aller als sicher geltenden Impfstoffe (Stand April 2021) gesichert, die zeitnah ausgeliefert werden können. Das ist einerseits moralisch verwerflich, da damit den ärmeren Ländern der Zugang zu den Impfstoffen erheblich erschwert wird. Andererseits ist es auch in hohem Grade unverantwortlich und zu kurz gedacht, da das Horten von Impfstoffen die Pandemie möglicherweise um mehrere Jahre verlängern wird. Viele Regierungen haben anscheinend noch nicht begriffen, dass sie nicht im Wettbewerb gegeneinander stehen, sondern gegen das Virus. Wenn wir Corona das Handwerk legen wollen, dann geht das nur gemeinsam unter dem Motto: Impfstoffe für alle – und zwar sofort.
Stichwort Mutationen. Je länger sich das Virus ungehindert ausbreiten kann, desto mehr Varianten wird es geben. Das wiederum erhöht das Risiko, dass die Impfstoffe, die wir bereits haben, weniger oder gar nicht mehr wirken. Das ist keine abstrakte Bedrohung, sondern eine reale Gefahr. Bei der südafrikanischen Corona-Variante beobachten wir bereits jetzt, dass der Impfstoff des Herstellers AstraZeneca deutlich weniger schützt als bei anderen Virus-Varianten. Es droht also die Gefahr, den Fortschritt zu verspielen, den uns die Forschung beschert hat. Die Tatsache, dass wir in Deutschland rund ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie bereits vier zugelassene Impfstoffe haben, ist ein absolutes Novum. Im Schnitt dauert der Prozess vom Beginn der Impfstoffforschung bis zur Marktreife zehn Jahre. Es liegt in unserem eigenen Interesse, dass alle Menschen weltweit so schnell wie möglich Zugang erhalten zu den Corona-Impfstoffen.
Was ist zu tun?
Was muss die Politik also tun, damit wir die Impfstoffe auf der Welt gerecht verteilen können? Nun, zuerst einmal sollten die reichen Länder damit beginnen, den Ländern, die besonders von Armut betroffen sind, die überschüssigen Impfdosen zu überlassen. Auch die Bundesregierung hat deutlich mehr Impfdosen geordert, als wir brauchen. Wir können nicht nur, sondern wir müssen überschüssige Impfdosen abgeben – und das nicht irgendwann, sondern so bald wie möglich. Norwegen macht es vor. Dort hat die Regierung bereits begonnen, Impfdosen an die internationale Impfstoff-Initiative COVAX weiterzugeben und gleichzeitig das nationale Impfprogramm aufzustocken. Deutschland sollte sich an dem Osloer Weg orientieren und ebenfalls damit beginnen, sukzessive Impfstoffe an COVAX weiterzugeben, sobald hierzulande die Risikogruppen und das Gesundheitspersonal geimpft wurden. Wir können gleichzeitig weiterimpfen und Impfstoffe abgeben.
Wir brauchen zweitens allerdings auch insgesamt mehr Impfstoffe. Die Hersteller kommen derzeit mit der Produktion kaum hinterher. Das heißt, es müssen Wege gefunden werden, die Produktionskapazitäten deutlich zu steigern. Eine Möglichkeit sind Lizenzvereinbarungen. Pharmaunternehmen, die Corona-Impfstoffe herstellen, können solche Vereinbarungen mit anderen Herstellern treffen, die dann diesen Impfstoff ebenfalls produzieren und vertreiben können. Der britisch-schwedische Hersteller AstraZeneca macht das zum Beispiel bereits. Mithilfe des Serum Institute of India ist es dem Unternehmen gelungen, innerhalb kurzer Zeit deutlich mehr Vakzine herzustellen. Auch die deutsche Pharmafirma CureVac hat bereits signalisiert, über Lizenzvereinbarungen nachzudenken, sobald ihr Impfstoff zugelassen ist. Daran können sich Hersteller wie BioNTech oder Moderna ein Beispiel nehmen.
Allerdings hat Indien nun einen Exportstopp verfügt, sodass der vom Serum Institute of India produzierte Impfstoff erst einmal nicht mehr an COVAX ausgeliefert werden darf. Exportstopps, wie sie in vielen Ländern der Welt verhängt wurden – unter anderem in den USA und im Vereinigten Königreich – zeigen deutlich das Dilemma, in dem sich die Welt befindet: Aus einer nationalen Perspektive scheint es durchaus nachvollziehbar, das rare Gut Impfstoff zunächst für die eigene Bevölkerung einsetzen zu wollen. Für ihre eigene Bevölkerung zu sorgen, ist das Mandat der Regierungen. Doch wird dabei leider zu häufig vergessen, dass Viren keine Grenzen kennen und insbesondere die Mutanten wie ein Boomerang zu uns zurückkommen werden, wenn wir keine Impfstoffe abgeben. Nicht nur Viren sind global aktiv, auch unsere Ökonomie ist globalisiert und Wirtschaftsräume voneinander abhängig. Die Weltwirtschaft kann nur wieder angekurbelt werden, wenn überall ohne Einschränkungen die Wertschöpfungsketten intakt sind. Das geht nur mit einer durchgeimpften Gesellschaft, weltweit.
COVAX – die größte Hoffnung für ein Ende der Pandemie
Ein zentraler Baustein für eine global gerechte Verteilung von Impfstoffen ist die oben bereits erwähnte Impfstoff-Initiative COVAX. Gegründet von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Impfallianz Gavi und dem Impfforschungsverbund CEPI setzt sich COVAX dafür ein, dass insbesondere die Länder Zugang zu Corona-Impfstoffen erhalten, die besonders von Armut betroffen sind. Bis Ende dieses Jahres will die Initiative zwei Milliarden Corona-Impfdosen beschaffen und verteilen. Das Ziel: 20 % aller Menschen in allen Ländern sollen geimpft werden. In erster Linie sollen die Impfstoffe Risikopatientinnen und -patienten sowie dem Gesundheitspersonal in den jeweiligen Ländern verfügbar gemacht werden.
Damit die internationale Impfstoff-Initiative ihrer Arbeit nachgehen kann, braucht sie allerdings Geld – viel Geld. Bisher haben die Staatengemeinschaft sowie private Geber bereits über sechs Milliarden US-Dollar für COVAX bereitgestellt. Alleine Deutschland hat COVAX im letzten und in diesem Jahr zusammen rund eine Milliarde Euro zugesagt. Das ist schon einmal ein guter Anfang. Vor allem die Bundesregierung hat hier ihre Hausaufgaben gemacht. Aber das alleine reicht noch nicht. Gerade von anderen wichtigen Gebern wie China, Japan oder Frankreich sowie von privaten Gebern muss noch mehr kommen, damit die Impfstoff-Initiative ihr Ziel erreichen und die globale Infektionsdynamik spürbar bremsen kann. Ganz gleich, wie hoch die benötigten Investitionen am Ende sein mögen – nichts wird so teuer sein wie Nichtstun. In den kommenden Wochen und Monaten wird es darauf ankommen, ob die Regierungen dieser Welt den Ernst der Lage begriffen haben und dementsprechende Zusagen machen. In der Krise beweist sich der Charakter.
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