Männlich, Glatze, Springerstiefel, Thor-Steinar-Hemd, grölend mit Bierflasche und Kippe in der Hand unter seinesgleichen. So weit, so überholt der Phänotyp »deutscher Neonazi«. Spätestens seit der Aufdeckung der NSU-Morde, bei der die Angeklagte Beate Zschäpe eine – wie man heute weiß – zentrale Rolle spielte, sind Frauen in der rechten Szene vermehrt ins Blickfeld des öffentlichen Interesses gerückt. Andererseits werden auch heute noch Frauen eher Attribute wie »friedfertig«, »fürsorglich« und »harmlos« zugeschrieben. Die weit verbreitete Vorstellung von der »freundlichen Mutter von nebenan« trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass Frauen oft leichter als Männer Vertrauen und gesellschaftliche Akzeptanz erlangen, wie Andrea Röpke und Andreas Speit in Mädelsache! Frauen in der Neonazi-Szene, ihrem Reportage-Band von 2011 beschreiben. Das macht sie für rechte Rattenfänger besonders dann interessant, wenn es um das Rekrutieren neuer Anhänger geht.
Davon, dass Frauen einerseits der rechtsextremen Szene als Bindeglieder zur bürgerlichen Welt, als Brückenbauerinnen in Kindergärten und Schulen, Sportvereinen und in die Kommunalpolitik fungieren, andererseits aber den Männern hinsichtlich ihres radikalen Gedankenguts in nichts nachstehen, erzählt auch Heidi Benneckensteins Aussteigergeschichte Ein deutsches Mädchen. Mein Leben in einer Neonazi-Familie. Die autobiografischen Aufzeichnungen gewähren einen fesselnden Einblick in das Leben der heute 25-Jährigen, die 1992 in einem Münchener Vorort in eine rechtsextreme Familie hineingeboren und völkisch erzogen wird, als Jugendliche immer tiefer in die Fänge der rechten Krake gerät und die menschenverachtende Ideologie der Neonazis schließlich gänzlich verinnerlicht hat. Nach mehreren Anläufen gelingt Heidi Benneckenstein, die damals noch ihren Mädchennamen Redeker trägt, mit 19 Jahren der Ausstieg aus der rechten Szene.
Ihr Insiderbericht fällt in eine Zeit, die Benneckenstein als »Schwelle« bezeichnet. Es komme heute ganz besonders darauf an, schreibt sie im ersten Kapitel mit dem programmatischen Titel »Meine zwei Leben«, die richtigen Weichen zu stellen und für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu kämpfen. Angesichts des Einzugs der AfD in den Deutschen Bundestag, der noch immer nicht vollständig aufgeklärten Verbrechen des NSU, laut Bundesamt für Verfassungsschutz steigender antisemitisch motivierter Straftaten, Rechtsrock-Konzerten – wie jenem im thüringischen Themar –, bei denen unter anderem der Hitlergruß gezeigt wurde und der Staatsschutz dennoch nicht eingriff, und einem in vielen Länderparlamenten der EU zu verzeichnenden Rechtsruck erscheint dieser Appell keineswegs übertrieben.
Von Runenbildern im Salzteig zu Hakenkreuzfahnen
Ein deutsches Mädchen schlägt den Bogen von der Kindheit Heidrun Redekers, die sich zuhause zwischen Salzteigrunenbildern, mit völkischen Sprüchen bestickten Tischdecken und rechter Lektüre im elterlichen Wohnzimmer abspielt, über Schulausflüge zum Konzentrationslager Dachau, bei denen die Achtklässlerin den Holocaust anzweifelt, bis hin zum Ausstieg aus der rechten Szene mit annähernd 20 Jahren. Dazwischen liegen Freizeiten in konspirativen Ferienlagern der heute verbotenen »Heimattreuen Deutschen Jugend« (HDJ) und des »Bundes Heimattreuer Jugend«, einer Nachfolgeorganisation der neonazistischen »Wiking-Jugend«, die wahlweise als Pfadfindergruppe oder katholischer Jugendtreff getarnt werden, Neonazi-Aufmärsche, bei denen die Autorin eine Hakenkreuzfahne schwingt, und zahlreiche Gewaltexzesse ihrer rechten Kameraden.
Das liest sich ebenso aufschlussreich wie beklemmend. Benneckenstein findet unerwartet unaufgeregte Worte. Sie erliegt nicht der Versuchung, die ersten 19 Jahre ihres Lebens reißerisch als Höllenritt durch den braunen Sumpf darzustellen, in dem sie von einer Horde primitiver und gewaltbereiter Neonazis umgeben gewesen wäre, wenngleich sie die Gewalt zwischen militanten, vorbestraften Kameraden, ihr eigener Aufenthalt in polizeilichem Gewahrsam infolge einer Schlägerei und die Haft ihres späteren Ehemanns Felix Benneckenstein nicht ausspart. Vielmehr schlägt die Autorin einen ruhigen Ton an, der die rechte Szene umso gefährlicher erscheinen lässt. Es ist vor allem das nach außen transportierte Heile-Welt-Bild, das erahnen lässt, wie gut sich die rechte Szene zu tarnen weiß und wie schwer es infolgedessen ist, ihren kruden antidemokratischen Parolen und ihren oft an der Grenze zum Nicht-Mehr-Erlaubten operierenden Versammlungen mit den Mitteln des Rechtsstaats beizukommen.
In 18 episodenhaften Kapiteln, deren Erzählfluss streckenweise etwas ins Stocken gerät, weil die Kapitel in sich nicht streng chronologisch strukturiert sind, gewährt Benneckenstein den Leser/innen einen seltenen Einblick in das Innenleben des rechtsextremen Milieus. Sie zeichnet das für Außenstehende kaum zu durchdringende Geflecht diverser Kameradschaften der ebenso straff organisierten wie effektiv vernetzten rechten Szene nach. Dabei wirkt die menschenverachtende und rassistische Ideologie von Rechtspopulisten, Rechtsextremen und Rechtsradikalen tief in die Gesellschaft hinein – auch weil viele ihrer Anhänger immer salonfähiger werden und heute nicht mehr nur betrunken und stumpf pöbelnd in einer Dorfkaschemme sitzen. »Es sind die Unscheinbaren, die gefährlich sind«, heißt es in Anlehnung an Hannah Arendts Bericht Eichmann in Jerusalem aus dem Jahr 1963 denn auch bei Benneckenstein.
Blick hinter die bürgerliche Fassade
Die Autorin stammt aus einem eher bürgerlichen Elternhaus. Die Redekers sind keine klassische Bilderbuchfamilie, geben sich aber alle Mühe, nach außen als »normale« Familie zu erscheinen. Der Vater Helge, ein ebenso strammer wie bekannter Rechter mit eigenen Ferienlagern für den rechten Nachwuchs, Holocaustleugner und Mitbegründer der »Gesellschaft für Siedlungsförderung in Trakehnen mbH«, die auf die »Regermanisierung Ostpreußens« in einem »Vierten Reich« hinarbeitet, schikaniert ständig die Familie. Heidi Benneckenstein beschreibt ihn als autoritär, patriarchalisch und sadistisch, als Tyrannen, der seine Töchter mit psychischer und körperlicher Gewalt fügsam machte. Helge Redeker ist Dreh- und Angelpunkt in Heidi Benneckensteins Leben; zumindest so lange, bis die junge Frau nach ihrem Ausstieg aus der Szene mit ihm bricht.
Heidis Mutter wirkt dagegen blass und unscheinbar und kommt auf den knapp 250 Seiten des Buches allenfalls am Rande vor. Sie schaut weg, wenn der Vater wieder mal zu seinen »Psychospielchen« ansetzt und ist das, was man eine klassische Mitläuferin nennt. Unklar bleibt, ob sich die Eltern trennen als Heidi zwölf ist, weil die Mutter die Quälereien ihres Mannes nicht mehr erträgt oder ob die Freundin des Mannes der Grund für die Trennung ist.
Fortan zwischen beiden Elternhäusern pendelnd, verschlechtern sich Heidis Schulnoten rapide. Aus dem »eingeschüchterte[n] Mäuschen« von einst wird eine rebellische, renitente Jugendliche, die sich zunehmend in eine Außenseiterrolle manövriert. In ihrer Freizeit sprüht sie Rudolf-Heß-Parolen an die Schulfassade, besucht Veranstaltungen der NPD oder von deren Jugendorganisation »Junge Nationaldemokraten«, sie trifft auf den damaligen NPD-Landtagsabgeordneten Udo Pastörs, einer der »Helden [ihrer] Jugend«, der 2010 wegen Volksverhetzung verurteilt wurde, auf den späteren NSU-Mitangeklagten Ralf Wohlleben und auf viele weitere »Größen« der rechtsextremen Szene. Immer mit im Spiel: eine gehörige Portion Alkohol. Mit 15 erhält Heidi Benneckenstein infolge einer Schlägerei am Rande der Erdinger »Tage der Toleranz« ihre erste Anzeige wegen Körperverletzung. Zu der Zeit hat sie ihren Hauptschulabschluss in der Tasche und verlässt die Schule.
In den Kapiteln, in denen die Autorin ihre von Langeweile, Rebellion und Hass geprägte Jugend und Schulzeit schildert, hätte man gerne mehr erfahren. Unwillkürlich fragt man sich, ob die Lehrer, die Therapeutin und der Familiengutachter, den ein Familiengericht bestellt hatte, um zu prüfen, ob die Kinder durch die Gesinnung des Vaters Schaden nehmen könnten, nicht bemerkten, dass etwas bei den Redekers nicht stimmte. War nach außen nicht erkennbar, dass hier Kinder völkisch, nach zum Teil streng militanten Ritualen erzogen wurden? Ließ sich auch nichts erahnen oder haben weite Teile des Umfelds einfach weggeschaut? Benneckenstein belässt es dabei, nur anzureißen, dass die rechte Gesinnung ihres Elternhauses eigentlich nicht hätte unbemerkt bleiben können.
Sozialisation in rechten Ferienlagern
Neben dem Vater, der die Tochter immer wieder ermuntert, als »gesellschaftlicher Störfaktor« zu agieren, ist die völkische und rechtsnationale HDJ prägend für Heidi Benneckensteins Leben. Die Ferienlager der elitären rechten Kinder- und Jugendorganisation, bei der ein strenges Auslese- und Leistungsprinzip gilt und deren Mitglieder überwiegend aus der oberen Bildungs- und Einkommensschicht stammen, zeichnen sich durch die Vermittlung radikaler Systemkritik und einen wirksamen Drill aus. Schon Sechsjährige müssen an 20-Kilometer-Märschen und paramilitärischen Übungen teilnehmen. Man hört Vorträge über »Rassenkunde«, liest den NS-Dichter Heinrich Anacker und sieht sich den heute verbotenen nationalsozialistischen Propagandafilm Der ewige Jude an. So wird die ideologische Indoktrination der Minderjährigen vorangetrieben, deren geistige und körperliche Wehrhaftigkeit der Vorbereitung auf den Tag X, den Tag der Machtergreifung, und der Rekrutierung von Personal für das angestrebte »Vierte Reich« dienen soll.
Trotz des ungemeinen Drucks, der auf den Kindern und Jugendlichen lastet, bildet sich ein Gefühl der Stärke und so etwas wie eine eingeschworene Gemeinschaft aus, an dem man sich – so beschreibt es Benneckenstein – habe wärmen können. In der Rückschau erscheinen ihr die ehemaligen Kameraden als »Haufen skurriler Verlierer«, die sich mit ihrem Gerede von der »Islamisierung des Abendlandes« und von den »Scheißkanaken«, die an allem schuld seien, lächerlich machten. Überhaupt ist für die bemerkenswert offene und couragierte junge Frau heute kaum mehr nachvollziehbar, wie sie sich damals verhalten hat. Bei einer HDJ-Aussteigerquote, die ihr zufolge gegen Null tendiert, ahnt man jedoch schon, dass ein Verlassen der sektenartigen rechten Szene, das sich bei Heidi Benneckenstein immer wieder ankündigte, letztlich aber erst nach der Geburt ihres Sohnes gelang, sehr unwahrscheinlich ist: »Die rechte Szene ist wie ein Krake mit tausend Fangarmen. Wer von ihr weg will, den packt sie und zerrt ihn zurück.«
Dass Heidi Benneckenstein dennoch den Absprung schafft, ist nicht etwa einem einschneidenden Erlebnis, sondern mehr einer sich langsam abzeichnenden Entfremdung von dem zu verdanken, was immer mehr als Parallelwelt erscheint, und was sich nicht zuletzt mit der Frage nach der richtigen Erziehung des eigenen Kindes verbindet. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Felix, der viele Jahre unter seinem Künstlernamen Flex als rechter Liedermacher durch die Republik tourte, baut sie nach und nach ihre eigene kleine Kameradschaft auf, die lediglich aus ihnen beiden bestand und den endgültigen Ausstieg aus der rechten Szene vorbereitete.
Aus Angst vor Rache musste das Paar eine Weile untertauchen und lebt heute mit dem gemeinsamen Sohn an einem unbekannten Ort in Süddeutschland. 2012 gründeten Heidi und Felix Benneckenstein in Kooperation mit der bundesweiten Aussteigerorganisation »Exit« die »Bayerische Aussteigerhilfe«. Heidi Benneckenstein arbeitet als Erzieherin, womit ein ebenso erstaunliches wie versöhnliches Ende dieser schonungslosen und oft verstörenden Autobiografie eingeleitet wird. Hier hat die Gesellschaft offenbar einer einst überzeugten Rechtsextremen, die auch vor Gewalt nicht zurückschreckte, eine zweite Chance gegeben. Auch deshalb liest sich Ein deutsches Mädchen nicht als bittere Abrechnung mit den ehemaligen Kameraden, sondern als bewegende und Mut machende Lebensgeschichte einer noch jungen Frau, die zu gleichen Teilen informieren, aufarbeiten und warnen will.
Heidi Benneckenstein: Ein deutsches Mädchen. Mein Leben in einer Neonazi-Familie. Tropen, Stuttgart 2018 (5. Aufl.), 252 S., 16,95 €.
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