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Politisierung von Expertise als neue Herausforderung In der Wissenskrise?

Spätestens durch die intensive mediale Begleitung der Coronapandemie ist der breiten Öffentlichkeit einmal mehr deutlich vor Augen geführt worden, wie sehr die Politik bei der Einschätzung von Problemen und Pro­blemlösungen auf externe wissenschaftliche Expertise angewiesen ist. Dies ist eigentlich alles andere als neu oder gar anrüchig, denn die Einbeziehung von wissenschaftlicher Expertise, von externer Beratung und auch von sogenannten »Stakeholdern«, also von Entscheidungen Betroffenen, in politische Entscheidungsprozesse gehört seit Langem zum Standardprozedere des modernen Politikbetriebs.

Vertrauen in Wissenschaft während der Pandemie deutlich angestiegen.

Im Gegenteil: Für viele Bürgerinnen und Bürger wäre eine Politik untragbar, die wissenschaftliche Fakten und Evidenzen, kundige Expertenurteile und begründete Argumente vollends ignorierte und sich stattdessen allein an ideologischen, parteipolitischen oder machtstrategischen Prämissen orientierte. Umfragen wie das sogenannte Wissenschaftsbarometer der Plattform »Wissenschaft im Dialog« zeigen entsprechend, dass das Vertrauen in Wissenschaft während der Hochphase der Pandemie im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie deutlich angestiegen ist.

Über zwei Drittel der deutschen Bevölkerung waren im Jahr 2022 der Ansicht, dass politische Entscheidungen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen sollten, im Jahr 2019 lag der Anteil erstaunlicherweise nur bei 54 Prozent. Knapp 80 Prozent der Bevölkerung sind sogar der Ansicht, dass sich Forschende öffentlich äußern sollten, wenn wissenschaftliche Forschungsergebnisse in politischen Entscheidungen zu wenig Berücksichtigung fänden.

Die Pandemie hat jedoch auch ganz andere Haltungen und Einstellungen in aller Schärfe zutage gefördert. Und sie hat offenbart, wie kompliziert das Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei genauer Betrachtung ist. Denn in der politischen Debatte und in der täglichen Medienberichterstattung wurde deutlich, dass es keine einfachen – auch keine einfachen wissenschaftlichen – Antworten auf komplexe und größtenteils unvorhersehbare Problemstellungen gibt.

Im Scheinwerferlicht der Medienöffentlichkeit wurde uns nachdrücklich und kontinuierlich vorgeführt, was im gesellschaftlichen Normalbetrieb üblicherweise keiner größeren Aufregung wert ist: dass es nämlich zu einem Thema nicht nur unterschiedliche politische, sondern auch unterschiedliche wissenschaftliche Einschätzungen gibt beziehungsweise geben kann, dass die Wissenschaften in der Regel keine unumstößlichen Gewissheiten und Handlungsrezepte liefern und dass wissenschaftliche Fakten stets auch unterschiedlich gelesen und interpretiert werden können.

»Jegliche Unklarheiten und Handlungsunsicherheiten werden in Krisenzeiten als gefährlich wahrgenommen.«

In gesellschaftlichen Krisenzeiten und Ausnahmezuständen wie einer Pandemie, in denen rasches und konzertiertes politisches Entscheiden und verlässliches behördliches Handeln gefragt sind, werden jegliche Unklarheiten und Handlungsunsicherheiten jedoch als gefährlich und existenzbedrohend wahrgenommen. Hier besteht stets die Gefahr, dass das Vertrauen in die Regierung und ihre Maßnahmen sinkt, je mehr deutlich wird, dass die Wissensbasis für einschneidende politische Entscheidungen nicht eindeutig ist und wenn Politik und Wissenschaft nicht mehr als ein »Fahren auf Sicht« zu bieten haben.

Der Protest am Kurs der Regierung und die Politisierung der Wissensgrundlagen der Pandemiepolitik ging in Teilen der Bevölkerung jedoch weit über einen Dissens bezüglich der Einschätzung adäquater Maßnahmen und politischer Handlungsalternativen hinaus. Gerade in Deutschland legten die Proteste gegen die Pandemiepolitik Stimmungen und Haltungen offen, die von einer tiefen Skepsis, wenn nicht sogar von einer fundamentalen Ablehnung gegenüber jeglicher Form von offizieller Politik und der ihr zugrundeliegenden Expertise, gegenüber der Regierung, der etablierten Wissenschaft, den Medien, den Eliten beziehungsweise dem Establishment im Allgemeinen geprägt sind.

Auch wenn die meisten Proteste zur Verteidigung der Grundrechte aufriefen und im Namen von Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung veranstaltet wurden, so irritierte der hochgradig diffamierende, verachtende und extrem verschwörungsgläubige Impetus doch sehr, mit denen viele Menschen ihre Botschaften zu Markte getragen haben.

Hier gibt es eindeutig Parallelen und Überschneidung zur Rhetorik von neuen politischen Bewegungen und Protestgruppen, die in den vergangenen Jahren mit betont antiliberalen und nicht zuletzt auch wissenschaftsskeptischen Pa­rolen weltweit einen enormen Aufschwung erlebt haben – allen voran Donald Trump und seine Anhängerschaft in den USA, aber auch viele neue populistische Parteien und autoritäre Regierungen auf der ganzen Welt.

Angesichts des nachhaltigen Erfolgs dieser neuen Bewegungen und angesichts einer wachsenden Polarisierung der öffentlichen Meinung stellt sich die Frage, ob wir gegenwärtig die Zuspitzung einer Wissenskrise erleben, die auch die Grundlagen der Demokratie zunehmend infrage stellt. Denn es zeigt sich, dass sich ein nicht geringer Teil der neuen Protestgruppen zunehmend radikalisiert hat und überhaupt nicht mehr durch rationale Argumente und Diskurse – und schon gar nicht durch wissenschaftliche Belege und Faktenchecks – erreichbar ist. Was bedeutet dies für die Stabilität und die Zukunft der Demokratie?

Für die Stabilität der Demokratie muss eine Zunahme von Zweifel, Dissens und Protest zunächst kein grundlegendes Problem darstellen. Im Gegenteil: Gerade Demokratien zeichnen sich gegenüber Autokratien und totalitären Systemen ja dadurch aus, dass Streit, Dissens und auch die Artikulation von Protest möglich sind und in besonderer Weise kultiviert werden. Zur Regulierung von Konflikten und Interessengegensätzen gibt es in Demokratien unzählige Arenen und Institutionen – von Parlamenten, Gerichten und Verfahren der Streitschlichtung bis hin zu Bürgersprechstunden, unterschiedlichen Formen der Bürgerbeteiligung oder eben auch öffentliche Proteste und medial vermittelte Grundsatzdebatten.

Was passiert jedoch, wenn sich Teile der Bevölkerung von der Politik grundlegend im Stich gelassen fühlen, wenn sich widerstreitende politische Lager immer mehr voneinander abschotten und wenn das Vertrauen in die Geltung von offiziellen wissenschaftlichen Expertisen und von Darstellungen der etablierten Medien so stark erschüttert ist, dass es für politische Auseinandersetzungen und Diskurse kaum mehr eine gemeinsame Ausgangsbasis gibt?

»Ein klarer Kipppunkt hin zur Demokratiegefährdung lässt sich aus den bisherigen Entwicklungen nicht seriös ableiten.«

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Denn anders als bei der Analyse chemischer Stoffe oder ökologischer Systeme lassen sich in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen keine eindeutigen Grenzwerte oder Kipppunkte bestimmen, an denen ein Aggregatzustand in einen anderen übergeht. Ein klarer Kipppunkt hin zur Demokratiegefährdung oder eine eindeutige Tendenz lässt sich aus den bisherigen Entwicklungen nicht seriös ableiten.

Zu oft hat die Geschichte schon gezeigt, dass tiefgreifende gesellschaftliche Krisen und Verwerfungen immer auch Anstoß gegeben haben für Widerstände, Gegenbewegungen und ungeahnte Innovationen. Und es spricht durchaus einiges dafür, dass die aktuellen Konflikte und Krisenerscheinungen langfristig zu einer Stärkung und Erneuerung der Demokratie führen können.

Es steht jedoch auch außer Frage, dass das wachsende Misstrauen gegenüber den etablierten Autoritäten und Institutionen – und nicht zuletzt auch die zunehmende Fragmentierung der Öffentlichkeit in Echokammern und Meinungsblasen – nicht zu unterschätzende Gefahren für die Demokratie darstellen – vor allem dann, wenn durch wachsende Verunsicherung, erkenntnisbezogene Verwirrung und gezielte Desinformation der Glaube an den Nutzen der Demokratie immer weiter verlorengeht.

Elitenkritik, eine gesunde Skepsis gegenüber der Regierung und ihre Verlautbarungen, ein abgeklärtes und nüchternes Verhältnis gegenüber vermeintlichen Autoritäten und nicht zuletzt auch gegenüber Expert:innen sind Grundhaltungen, die einer Demokratie prinzipiell gut zu Gesicht stehen. Problematisch wird es jedoch, wenn Kritik ungebremst in Hass umschlägt und wenn die Skepsis in eine Totalablehnung der bestehenden demokratischen Institutionen und ihrer Trägerschichten führt.

Genau dieser Stimmungsumschwung wird von einigen politischen Kräften aktuell ganz gezielt angeheizt und im Dickicht der digitalen Medien vehement vorangetrieben. Deshalb gilt es sich diesen Strategien der gezielten Desinformation, der bewussten Provokation und Grenzüberschreitung entschieden entgegen zu stellen – mit Seriosität, Sachlichkeit, Sachverstand und auch mithilfe von Faktenchecks und gezielter Aufklärung. Dies stellt bereits heute im Zeitalter von Photoshop, Fake News und Twitter-Plebisziten eine enorme Herausforderung dar. Mit der Weiterentwicklung von KI-basierten Chatbots, KI-Video-und Bild-Generatoren und neuen Online-PR-Strategien wird sich diese Herausforderung in naher Zukunft noch weiter potenzieren.

»Symptom tiefergehender gesellschaftlicher Konflikte und politischer Neujustierungen.«

Die Vertrauenskrise der repräsentativen Demokratie wird sich jedoch allein mit einem Mehr an Sachverstand und Expertise nicht bewerkstelligen lassen. Vieles deutet darauf hin, dass die wachsende Skepsis gegenüber etablierten Institutionen, offizieller Expertise und Autoritäten als Symptom von tiefergehenden gesellschaftlichen Konflikten und politischen Neujustierungen anzusehen ist.

Einerseits ist die Nachfrage nach direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung in den vergangenen Jahrzehnten enorm angestiegen. Viele Bürger:innen wollen sich nicht mehr einfach »von oben« vorschreiben lassen, was zu tun ist, sondern sie wollen gehört werden, mitreden, einbezogen werden. Hier nützt häufig auch der Verweis auf Expertise nicht weiter, denn für jedes Expertenurteil lässt sich schnell eine Gegenexpertise herbeizitieren – was im politischen Tagesgeschäft ja laufend passiert.

Wir erleben aktuell andererseits auch eine Krise der demokratischen Repräsentation, die sich mit der Zunahme von Armut und Ungleichheitsentwicklungen in absehbarer Zeit immer weiter zuspitzen wird. Wenn sich Menschen von den Akteuren im politischen System nicht ausreichend repräsentiert fühlen, wenn sie das Gefühl haben, dass die Politik und ihre Protagonisten an ihren Interessen und an ihren Lebenswirklichkeiten vorbeiregieren, verfängt auch keine Expertise mehr, die mit dieser Politik assoziiert wird – auch wenn sie noch so vernünftig oder sachverständig vorgetragen wird. Die Herausforderung der Zukunft wird es sein, auf diese Repräsentationskrise adäquat zu reagieren und Antworten zu finden, die nicht nur – wie so häufig – symbolpolitisch motiviert sind und einfache populistische Reflexe bedienen.

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