Menü

© picture alliance / Eventpress Herrmann | Eventpress Herrmann

Von den Reizen und Unzulänglichkeiten kalendarischen Erzählens In die Gedanken hineinschlüpfen

Es ist Montagmorgen, es ist der 30. Januar 1933, ein lausig kalter Tag. Es ist nicht das erste Buch, das so oder so ähnlich beginnt: Mit dem Blick auf ein Datum, auf ein Kalenderblatt. Doch Wintertag hin, später Vormittag her, von Bedeutung ist in diesem Fall allein der historische Tag, exponiert als einsames Ereignis. Das Datum markiert eine Zäsur, zweifellos: »Adolf Hitler, Reichskanzler«. So kräht's der Zeitungsjunge, der die B.Z. am Mittag hochhält. Und Klaus Mann, der soeben noch lächelt, weil er sich freut, am Berliner Anhalterbahnhof von einem Freund abgeholt zu werden, »schrickt zusammen, sobald er die Schlagzeile der Zeitung entziffert hat«, die ihm auf dem Bahnsteig entgegengehalten wird.

So szenisch, atmosphärisch gibt Uwe Wittstock die Situation wieder in seinem Buch Februar 1933. Der Winter der Literatur. Stutzen, Entziffern und Schrecken formieren sich zu einem Dreischritt, der sich, ohne dass der Berichterstatter dabeigewesen wäre, aus dem Erschließen von Quellen ergibt. Lesend werden wir quasi zu Augenzeugen, ohne es tatsächlich gewesen zu sein. Damit sich dieser Eindruck einstellt, hilft Suggestion: »Das hätte er nie für möglich gehalten. Er starrt auf das Blatt, ohne weiterzulesen.« Der Blick des Berichterstatters über die Schulter seines Protagonisten. „,Das ist furchtbar…‹ Er läuft erst langsam, dann immer schneller, aber selbst ihm ist unklar, wohin eigentlich.« Der Berichterstatter läuft mit, nicht hinterher, und er kann offenbar Gedanken lesen.

Erreicht wird dieser Eindruck durch ein Entschlüsseln, das auf Lektüre basiert, dem Studium von Quellen, von Augenzeugenberichten, Tagebucheintragungen, Memoiren, Dokumenten aus erster Hand. Sie alle versprechen Lebendigkeit, Farbigkeit – Authentizität.

Revival des historischen Erzählens

Keine historische Darstellung ohne gute Story. Das war immer schon so. Auch die vermehrte Konzentration des Geschichtsschreibers auf einen begrenzten Zeitraum ist nicht neu. Annalen und Chroniken sind seit Jahrhunderten bekannt. Jüngst aber zeigt sich ein Revival des historischen Erzählens, das sich beschränkt auf einen Monat, allenfalls ein Jahr, eine Rekonstruktion Tag für Tag, manchmal gar Stunde für Stunde.

Ein Vorgehen ist dabei häufig das kalendarische Erzählen. Ganz ähnlich der Geschichtsschreibung der 50er und 60er Jahre ist dieses Erzählen auf Personen und Ereignisse fixiert, ist diese historische Methode, die sich auf Hermeneutik beruft, vielleicht kein alter Hut, aber doch weitgehend uninteressiert an der Geschichtsmächtigkeit von Strukturen und Prozessen.

Kalendarisch ist kürzlich Uwe Wittstock in Februar 33 vorgegangen, 2019 zogen Rüdiger Barth und Hauke Friedrichs ihr Buch Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik ebenso auf, 2015 nutzte auch Monika Dreykorn in ihrem Buch 30. Januar 1933. Hitler an die Macht! die kalenderorientierte Methode. Vom Film hat diese Art der Darstellung denn auch ihre Erzählweise, oberflächlich betrachtet nicht ganz unähnlich alten Historienfilmen, in denen Kalenderblatt für Kalenderblatt zu Boden fällt. Genauer besehen, entwickelt sich die Geschichte im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren, ähnlich wie bei einem Doku-Drama.

Die Gegenüberstellung ist eine ihrer Stärken, da sie Einblick in Gleichzeitiges ermöglicht: Während etwa der neue Reichskanzler Hitler für ein Foto als Biedermann posiert, lässt Goebbels – wofür Wittstock Indizien anführt –, einen der skrupellosesten Terroristen der SA liquidieren, da dieser damit geprahlt hat, den NS-Propagandachef aus dem Weg zu räumen. Zur selben Zeit, als Goebbels sein Opfer zum Märtyrer erklärt, dringt die von Goebbels gesteuerte SA in Berliner Wohnungen ein, unbehelligt von der preußischen Polizei, auf der Suche nach Regimegegnern.

Gleichzeitigkeiten: Während im Reich eine Grippeepidemie grassiert, die Zahl der Neuinfektionen steigt, und in Berlin über 200 Schulklassen geschlossen werden, schleppt sich der Theaterkritiker Alfred Kerr mit 39 Grad Fieber nur mit einem Rucksack zum Bahnhof. Noch vor zwei Wochen saß er wie viele Oppositionelle nicht auf gepackten Koffern, jetzt rettet sich der gestern noch Wohlhabende ohne Geld nach Prag.

Zu den Gleichzeitigkeiten gehört, dass eine hochpathetische Rede des Schmieranten Hitler die Vorstände der deutschen Wirtschaft und der Banken davon überzeugt, dass die insolvente NSDAP mit Spenden gerettet werden müsse, im Dienst der Diktatur, zur Abschaffung der Demokratie. Ohne die am 21. Februar 1933 auf das Konto der NSDAP überwiesenen drei Millionen Reichsmark wäre der Partei die Wahl zum Fiasko geworden.

Die privilegierte individuelle Stimme

Zur Dramaturgie des Szenenwechsels gehört, zu seiner Überzeugungskraft zählt, dass sich eine Vielzahl von Stimmen äußert. Aber auch wenn mit mehr als einer Stimme gesprochen wird, ist die individuelle Stimme dennoch auf jeden Fall privilegiert – mit Blick auf das Thema, den Totalitarismus der Nazidiktatur ist das unbedingt ein Gewinn. Aus der Vehemenz, die aus der Synchronizität der Ereignisse entsteht, bezieht das kalenderorientierte Erzählen seine Verve. Der Rückgriff auf Tagebuchbuchaufzeichnungen von Schriftstellern, auf die Erinnerungen von Geistesgrößen, gibt dem Buch von Wittstock suggestive Dichte und sprachliche Überzeugungskraft. Die Verdichtung der synchronen Ereignisse verspricht nicht nur Spannung, sondern entwickelt einen Sog, die Dramaturgie Rasanz.

Historiker haben immer wieder auf das »atemberaubende Tempo« (Ludolf Herbst) jener Zeit hingewiesen. Die Rasanz betraf drei Entwicklungen. Zum einen das Tempo, mit dem nach dem 30. Januar die Republik, eine seit Jahren schwer beschädigte Demokratie, die einer »längst halb-faschistischen Atmosphäre« (Martin Broszat) ausgesetzt war, in eine Diktatur gezwungen wurde.

Zweitens, dass noch vier Wochen vor dem Tag der Machtübertragung an Hitler dessen NSDAP wegen Flügelkämpfen und Intrigen vor der Selbstzerstörung stand. Allein diese beiden Faktoren kommen bei der Fixierung auf einen eng begrenzten Zeitraum zu kurz. Schon deshalb stellt sich die Frage, ob eine kalenderfixierte Rekonstruktion, Tag für Tag, Stunde um Stunde, auch kausale Zusammenhänge herstellt.

Zur Rasanz gehört – drittens – die Entwicklung nach dem sogenannten Preußenschlag, der Absetzung der preußischen Regierung, die einen Verfassungsbruch bedeutete. Dem Staatsstreich des reaktionären Reichskanzlers Franz von Papen konnte die SPD wenig entgegensetzen. Es war ein Coup, der sich nicht nur gegen die Verfassung und die Verfassungsorgane Preußens richtete, sondern gegen die Sozialdemokratie selbst, deren Parteimitglieder oder Sympathisanten rigoros gegen Republikfeinde ausgetauscht wurden.

So gewaltig die zahlenmäßige Stärke der Partei auch war – ein halbes Jahr vor der Machtübergabe an Hitler sah sich die SPD außerstande, das umzusetzen, worauf sie ihre Mitglieder und Anhänger permanent eingeschworen hatte: Widerstand. Dass für einen glaubwürdigen Widerstand die KPD nicht infrage kam, zeigte die Entwicklung vor dem 30. Januar. Abhängig von den Dogmen und Direktiven Moskaus propagierte die Partei den Sturz der Weimarer Republik und die Liquidierung der Demokratie.

Immer wieder ist gefragt worden, ob im August 1932 nicht der Gegenschlag verpasst worden war, zumal nach dem Mord im oberschlesischen Potempa. Fünf Nazis hatten dort einen Kommunisten in seinem Haus ermordet, indem sie ihn vor den Augen seiner Mutter zu Tode prügelten.

In einem aufsehenerregenden Prozess wurden die Mörder zum Tode verurteilt, weil die Todesstrafe für politisch motivierten Mord zuvor wieder eingeführt worden war. Einknickend vor einer weiteren infamen Hetzkampagne der NS-Presse gegen eine bereits ausgehöhlte Republik wandelte ihr oberster Repräsentant, der antidemokratisch regierende Reichspräsident Paul von Hindenburg, das Urteil in lebenslanges Zuchthaus um. Damit wurde die bürgerkriegsähnliche Atmosphäre im Reich nicht befriedet, sondern die bürgerkriegsbesessene NSDAP befriedigt. Wer ein intaktes Rechtsbewusstsein hatte, sah bei Hitler klar.

Nicht zuletzt machte Potempa unmissverständlich klar, was von Hitler und seiner Partei erwartet werden musste, sobald diese die Macht übernehmen würde: im Gerichtssaal wüsteste Drohungen durch die SA, im Völkischen Beobachter Hitler, der den Mord zu einer »Frage unserer Ehre« stilisierte, zu einer Etappe nationalsozialistischer Machtergreifung. Wobei er mit seiner mörderischen Legitimation anknüpfte an seine zwei Jahre zurückliegende Ankündigung, mit dem Tag seiner Kanzlerschaft würden »Köpfe rollen«.

Fatalistische Fixierung auf ein Datum

Die Republik hatte schon im August 1932 ihre Zukunft verspielt. Deswegen handelt es sich bei der Fixierung auf den Januar 1933 um ein nicht nur verkürztes Vorgehen, sondern ein fatalistisches. Die Katastrophe wäre abwendbar gewesen, es gab Handlungsspielräume, trotz einer Panik verbreitenden Wirtschaftskrise hätte es Alternativen gegeben. Hintertrieben wurden sie durch die Intrigen einer republikfeindlichen Politik. Die Sicherungen versagten komplett, politische wie rechtliche. Und warum galten kulturelle Normen und Werte nichts mehr?

In seinem Buch Wer waren die Nationalsozialisten? hat Ulrich Herbert 2021 ausgeführt, dass der »Topos des Erwachens, der Wiederauferstehung Deutschlands mehr als ein reiner Propaganda-Begriff« war: »Wie immer man im nationalen Lager im Einzelnen zur Hitlerbewegung stand – sie verkörperte doch, wenngleich roh und ungebärdig, das, was man selbst wollte und fühlte: den Drang zum Wiederaufstieg als Großmacht, den Wunsch nach Revanche und Rache für das erlittene Unheil. Um dieses Ziel zu erreichen, war man zu vielfältigen Zugeständnissen bereit.«

Was Mentalitäten betrifft, so sprechen Rüdiger Barth und Hauke Friedrich in Die Totengräber ausdrücklich davon, in die Gedanken ihrer Protagonisten »hineinzuschlüpfen«. Sie plädieren für nachempfindendes Erzählen, mimetisches Fabulieren, gleichgültig anhand welcher Quellen. Monika Dreykorn gibt am Ende ihres ersten Kapitels, in dem sie sich vom kalendarischen Erzählen verabschiedet, jedoch zu bedenken, wie fragwürdig die »Schilderung eines Tages« sein könne, die »in großen Zügen den Erinnerungen der Beteiligten« folgt, auch denen der Täter.

Weil die Fixierung auf den Kalender in Kalamitäten stürzt, bemüht sich die Autorin um die Darstellung von Zusammenhängen. Denn hineinschlüpfendes Konfabulieren unterscheidet nicht zwischen Tagebucheinträgen, die von einer Selbstaufklärung angeleitet sind oder einer Selbstrechtfertigung dienen sollen – die Folgen können Verklärung und Vertuschung sein. Zur Selbstpreisgabe des kalendarischen Erzählens zählt, dass es sich mit der deskriptiven Nacherzählung begnügt.

»Simpler Antiquarismus«

Dass allerdings das individuelle Lebensschicksal, an dessen Fersen sich das kalenderfixierte Erzählen bevorzugt heftet, von der analytischen Geschichtsschreibung »sträflich vernachlässigt« wurde, war ein Eingeständnis des so analytischen Historikers Hans-Ulrich Wehler. Wehler, der 2014 starb, war bei seiner Konfrontation einer kritischen historischen Analyse mit Formen der literarischen Erzählung in der Geschichtsschreibung ausdrücklich um eine Synthese bemüht. Trotz aller Bewunderung für den »literarischen Glanz« bei Könnern einer »narrativen Geschichtsschreibung« monierte er bissig einen »simplen Antiquarismus, der sich mit der Deskription eines bunten Ausschnitts aus der Vergangenheit begnügte«.

Bunt geht es beim kalendarischen Erzählen zu, daraus erwächst sein Charisma. Mit einem turbulenten Antiquarismus ließen sich Bücher über 1913, 1918, 1936 oder 1947 bestreiten. Hingegen stehen Bücher wie 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart (2021) von Philipp Sarasin oder Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann (2019) von Frank Bösch in einem anderen Regal der kritisch-systematische Analysen, die gleichwohl fabelhaft erzählt sind.

Von dem Historiker Peter Gay, dem Autor eines Standardwerkes über die Geschichte der Gewalt, stammt der Satz, der ein Angebot zur Synthese ist, die allerdings eine enorme Herausforderung darstellt: »Historisches Erzählen ohne Analyse ist trivial, historische Analyse ohne Erzählen ist unvollkommen.«

Das kalendarische Nacherzählen beinhaltet immanente Unzulänglichkeiten. Am Kalender klebend, suggeriert sie: Es musste so kommen! Musste es aber wirklich? Mögen das Gebaren des Reichspräsidenten Hindenburg und des Kabinetts Papen undurchsichtig und intrigant gewesen sein – was sich angebahnt hatte, war nicht unbegreiflich.

Hitler war kein Zufall, ebenso wenig eine Zwangsläufigkeit. Kein Erfolg der NSDAP ohne die »Selbstnazifizierung« (Norbert Frei) breiter Teile der Bevölkerung. Das ist so unbestritten wie Wittstocks Urteil unabweisbar, dass es »vermutlich zur Natur eines Zivilisationsbruchs« gehöre, »schwer vorstellbar zu sein«.

Welche Rückschlüsse lassen sich für heutige Verhältnisse ziehen, wo »die Dinge anders (liegen), glücklicherweise«, doch die »wachsende Spaltung der Gesellschaft«, die »Ratlosigkeit der bürgerlichen Mitte«, die »Lust am Extremismus«, der »zunehmende Judenhass«, die »Risiken für die Weltwirtschaft« an Analogien denken lassen, von der »Dauerempörung im Netz« geradezu aufgedrängt. Der Gedanke, wir trieben auf einen zweiten »Januar 1933« zu, ist so falsch wie fatal – aber ganz im Sinn sinistrer Absichten, der republikfeindlichen Strategien der AfD.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben