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Neue Bücher über Amerika »In God we trust«

»They killed us«, sagt der alte Mr. Anadio in Richard Russos Debütroman Mohawk: »All them Years. They just plain killed us«. Zehnmal so hoch wie im nationalen Durchschnitt sei die Krebsrate in ihrer Stadt. Mohawk im Staat New York war einst ein Zentrum der Lederwarenindustrie, doch inzwischen ist ein Großteil der Produktion ins Ausland abgewandert. Geblieben sind die Folgen jahrzehntelanger Umweltvergiftung, ein schmutziges Geheimnis, das jeder kennt, aber kaum einer anspricht.

Lee Sherman hätte damit keine Probleme. Er lebt im Süden der USA, in Louisiana, und hat dort lange in der Industrie gearbeitet. Lake Charles zählt zu den US-Landkreisen mit den höchsten toxischen Emissionen pro Kopf: »Nach Angaben der American Cancer Society hat Louisiana bei Männern die zweithöchste Krebsrate und die fünfthöchste Todesrate durch Krebs in den USA«, schreibt die Soziologin Arlie Russell Hochschild in ihrem Buch Fremd in ihrem Land. Einmal ist Lee einem schweren Unfall nur knapp entkommen, dem fünf seiner Kollegen zum Opfer fielen. Gefunden hätten sie nur noch zwei von ihnen. Säure hätte die Leiche des einen der drei Vermissten so zerfressen, dass seine Überreste stückweise in das Abflussrohr gespült wurden, das in den Bayou d’Inde mündete. Was Chemikalien anrichten können, hat Lee auch am eigenen Leibe erfahren: »Die Chemikalie fraß meine Schuhe weg. Sie fraß meine Hose, mein Shirt. Meine Unterhose war weg. Von meinen Socken und meiner Unterhose blieb nur etwas Gummiband übrig.« Dem Bayou d’Inde kam er zeitweise täglich nahe, wenn er Überstunden machte, um dort einen Behälter mit konzentriertem Restmüll zu entleeren.

Am Bayou d’Inde lebt die Familie Areno und erinnert sich an die riesigen Sumpfzypressen, die diese Schwemmlandschaft über Tausende von Jahren prägten: »Wir hatten Hühner, Schweine, Kühe und einen Garten. Wir lebten vom Bayou. Zum Sonntagsessen gab es Ochsenfrösche und die Woche über Welssuppe.« Geblieben ist davon, was Hochschild »eine grauenhafte Inventarliste« dessen nennt, was die Industrie dort angerichtet hat: »Uns fiel auf, dass die Augen der Schildkröten weiß geworden waren (…) Sie waren blind geworden und verhungerten (…) Mein Dad fand seine Kühe, wie sie umgekippt dalagen (…) Sie hatten das Wasser getrunken. Und die Hühner. Zuerst liefen sie mit hängenden Flügeln herum. Dann lagen sie tot da.«

Amerikanische Paradoxe

Nicht nur was Umweltschutz angeht, zählt Louisiana zu den Schlusslichtern der Bundesstaaten, auch was Bildung, Gesundheit und Einkommen angeht, hinkt es weit hinterher. Gleichwohl hätten die Arenos bei der Gouverneurswahl zweimal für Bobby Jindal gestimmt, der sich explizit gegen Umweltschutz ausgesprochen und 2014 der Industrie 1,6 Milliarden US-Dollar als »Investitionsanreize« gegeben, aber 30.000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst entlassen habe.

»Sie waren geblieben, aber ihre Umwelt war verschwunden«, schreibt Hochschild über die Arenos. Weil der Fracking-Boom ihre Heimat in eine Schwerindustriezone verwandelt, hat ihr Anwesen rapide an Wert verloren, sodass sie es sich nicht einmal leisten könnten, fortzugehen und anderswo einen Neuanfang zu versuchen. Man sollte meinen, dass für sie und die anderen frankophonen Amerikaner im Süden Louisianas die Frontlinien klar wären. Das sind sie auch. Aber sie verlaufen anders, als man denken würde. Arlie Russell Hochschild ist aus dem liberalen kalifornischen Berkeley »ins Herz der amerikanischen Rechten« gereist, um ein Paradox zu verstehen: Warum gerade die Amerikaner, die am ehesten auf staatliche Unterstützung und Umweltschutz angewiesen wären, zu den glühendsten Anhängern der Tea-Party-Bewegung und Donald Trumps zählen.

Dabei ist sie auf nette und nachdenkliche Menschen gestoßen, auf Gastfreundschaft und Humor, sentimentale Erinnerungen und immer wieder auch auf schockierende Schlussfolgerungen. So lässt Mike Schaff, »ein großer, freundlicher Weißer von 64 Jahren«, sie an seinen Jugenderinnerungen teilhaben. Zucker- und Baumwollfelder haben sie geprägt, von Maultieren gezogene Pflüge. Später hat er auf Bohrplattformen im Golf gearbeitet. Und irgendwann hat sich seine Welt von gestern aufgelöst: »Als ich ein Junge war, hielt man am Straßenrand den Daumen raus und wurde mitgenommen. Wenn jemand Hunger hatte, gabst du ihm zu essen. Es existierte eine Gemeinschaft.« Was aber hat all das untergraben? »Der Staat«, lautet die überraschende Antwort.

Damit ist das Paradox auf die Spitze getrieben, denn Mike ist ein Opfer jener Industrie, für die er gearbeitet hat: Sein Heimatdorf verschwand 2015 in einem Krater voller Ölschlamm, weil das Unternehmen Texas Brine einen Salzstock angebohrt hatte. Warum sehen Leute wie er nicht die Industrie, sondern den Staat als Bedrohung? Warum wird die von Mike beschworene »Gemeinschaft« nicht zum rationalen politischen Subjekt, sondern zur »Bewegung« nach Art der Tea Party? Zunächst einmal gibt es da eine ganz handfeste Logik: »Je mehr Öl, umso mehr Arbeitsplätze. Je mehr Arbeitsplätze, umso mehr Wohlstand und umso weniger Notwendigkeit für staatliche Unterstützung.« Oder noch simpler: Die Industrie gibt uns Geld. Der Staat nimmt es uns weg. Und er erstickt jedes unternehmerische Denken durch Überregulierung: »Wir vermeiden Schlechtes, statt Gutes zu maximieren.«

Hochschild trifft auf eine Melange aus Cowboygeist und Stoizismus, aus Stolz und einer »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott«-Mentalität. Immer wieder ähneln sich die Geschichten ihrer älteren Gewährsleute. Es sind Männer vom Lande oder aus Kleinstädten, die in jungen Jahren in der Industrie hart gearbeitet und dort gut verdient haben. Das erklärt deren Ressentiments gegen die Angestellten von Behörden, lässt aber eine Frage unbeantwortet: Warum gab es in ihrer romantisch verklärten Welt keine Möglichkeit für sie, selbstständig ihr Geld zu verdienen?

Weil die industrielle Produktion größere Einnahmen generiert als die ländlich-handwerkliche Handarbeit, lautet die Antwort und weil in einer boomenden Industrie wie der Öl- und Erdgasförderung belastende und risikoreiche Tätigkeiten zeitweilig besser bezahlt werden, als die Leistungen eines Facharbeiters oder Akademikers. Anders als in Europa, wo die Industrialisierung als Proletarisierung verstanden wurde, erschien sie in den USA als Chance, den amerikanischen Traum ohne große Vorbildung mit eigenen Händen zu realisieren. Das führt zum einen zurück zu Russos eingangs zitiertem Debüt, zum anderen zu einem Gespenst, das seit vier Jahrhunderten in Amerika umgeht.

Das verdrängte Gespenst

Mohawk erschien in den USA schon 1986. Inzwischen hat der 1949 in Johnstown, New York, geborene Richard Russo eine beachtliche Karriere gemacht und ist auch als Drehbuchautor ein scharfsichtiger Beobachter des amerikanischen Kleinstadtmilieus. Auch der Schauplatz seines 2016 im Original und 2017 in deutscher Übersetzung erschienenen Romans Ein Mann der Tat ist ein umweltpolitisch anrüchiger Ort, doch trotz aller Wirtschaftskrisen können dort selbst Hilfs- und Gelegenheitsarbeiter im eigenen oder gemieteten Einzelhaus leben. Das entspricht dem Bild, das zahllose amerikanische Vorabendserien von den USA vermittelt haben, doch bleiben dabei die städtischen Mietskasernen ebenso ausgeblendet wie die Trailer-Parks für all jene, die beim »Pursuit of Happyness« danebengegriffen haben.

Schon Mark Twains The Adventures of Tom Sawyer (1876) und seine Adventures of Huckleberry Finn (1884/85), Erskine Caldwells Roman Tobacco Road (1932) und John Steinbecks Cannery Row-Trilogie (1935−54) fokussieren ein Milieu, das sich als »Lumpenproletariat« oder noch drastischer als »White Trash« (»weißer Müll«) bezeichnen lässt. Huck Finns versoffener und gewalttätiger Vater zählt dazu, die mittellose Pächterfamilie in Caldwells Tabakstraße, aber auch Bob Ewell, der verkommene Gegenspieler des aufrechten Anwalts Atticus Finch in Harper Lees To Kill a Mockingbird (1960). Auf Ewell und dessen verlauste, unübersichtliche Kinderschar bezieht sich Nancy Isenberg explizit im Vorwort ihrer Studie White Trash. The 400-Year Untold History of Class in America und bezeichnet sie als »terminally poor, those whose status could not be lifted or debased by any economic fluctuation – not even the Depression«.

Nun zählt es zum amerikanischen Mythos, dass dessen Desperados immer noch nach Westen weiterziehen könnten, aber diese Vorstellung reicht nicht weiter als bis zur kalifornischen Westküste. Dort, rund um die Sardinenfabriken von Steinbecks Cannery Row, versammeln sich Rotten von Gelegenheitsarbeitern, die kaum ein Dach über dem Kopf haben. Wenn es aber in diesen Romanen einen sozialkritischen Impetus gibt, so ist der bis zur Unkenntlichkeit im Genre des Schelmenromans verpackt. Deshalb war es nur konsequent, dass man die rororo-Ausgabe des ersten Bandes seinerzeit mit Die Schelme von Tortilla Flat betitelte. Dieser »White Trash«, der inzwischen zur Stammbesetzung jener düstereren Hinterwäldlerromane wie Winter’s Bone von Daniel Woodrell zählt, ist das immer wieder gesichtete, aber verdrängte oder verniedlichte Gespenst, das den Amerikanern im Nacken sitzt. Isenberg liefert hier ein Stichwort, indem sie die Weltwirtschaftskrise mit dem amerikanischen Ausdruck als »(Great) Depression« bezeichnet. Das kann man ökonomisch aber auch psychologisch verstehen.

Man kann die Wut und den Trotz der amerikanischen Rechten auch als Folgen eines aus dem kollektiven wie individuellen Gedächtnis verdrängten Traumas verstehen, denn auf die große Depression sind viele kleinere gefolgt, die große Teile der amerikanischen Industrien getroffen haben. Jedes Anzeichen einer Wiederauferstehung, selbst wenn es von Umweltkatastrophen begleitet sein sollte, wird auch deshalb begrüßt, weil im »Herzen der amerikanischen Rechten« fortlebt, was den empörten Bürgern Deutschlands längst abhandengekommen ist: ein naiver Glaube an Gott und die Bibel: »Wir sind nur begrenzte Zeit auf Erden«, sagt einer von Hochschilds Gewährsleuten und scheint damit zunächst John Maynard Keynes’ »In the Long Run We’re All Dead« zu bestätigen, um ihm dann zu widersprechen: »Aber wenn unsere Seelen gerettet werden, kommen wir in den Himmel, und das ist für die Ewigkeit. Von da an werden wir uns nie mehr Gedanken über die Umwelt machen müssen. Das ist das Wichtigste. Ich denke langfristig

»In God we trust« – das hat die USA zwar gegen politische Heilsversprechungen immunisiert, nicht aber gegen die Bigotterie christlicher Politiker. Deshalb ist schamlose Interessenpolitik dort möglich, ein amerikanischer Faschismus aber eher unwahrscheinlich. Die USA sind auch ein Land der unbegrenzten Widersprüche.

Arlie Russell Hochschild: Fremd in ihrem Land: Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Campus, Frankfurt/New York 2017, 429 S., 29,95 €. – Nancy Isenberg: White Trash. The 400-Year Untold History of Class in America. Viking, New York 2016, 480 S., 19,99 $. – Richard Russo: Ein Mann der Tat. DuMont, Köln 2017, 688 S., 26 €. – Richard Russo: Mohawk. Vintage Books, New York 1984, 432 S., 15,98 $.

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