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Indien: Auf der Suche nach einer China-Strategie

Die Indische Union und die Volksrepublik China verbindet seit ihrer Unabhängigkeit 1947 bzw. ihrer Staatsgründung 1949 ein ambivalentes Verhältnis. Galt Indien in den 50er und 60er Jahren noch als Vorbild für die politische Entwicklung der dekolonisierten Staaten, so ist die gegenwärtige Debatte über »das asiatische Jahrhundert« gleichbedeutend mit dem wirtschaftlichen Aufstieg und den neuen machtpolitischen Ambitionen Chinas.

China hat seit den 70er Jahren eine deutliche internationale Aufwertung erlebt. Es hat seit 1971 einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN), ist eine anerkannte Nuklearmacht, seit 1992 im Atomwaffensperrvertrag und hat sich seit der Liberalisierung Ende der 70er Jahre zu einer der wichtigsten globalen Volkswirtschaften entwickelt. Mit der 2013 verkündeten Belt and Road Initiative (BRI, offiziell: One Belt, One Road) untermauerte die chinesische Regierung ihre neuen regionalen und globalen Machtansprüche.

Die Indische Union hegt traditionell ähnliche Großmachtambitionen wie China. Indische Regierungen fordern seit Jahren einen ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat. 1974 unternahm Indien einen ersten Atomtest, trat aber nie dem Atomwaffensperrvertrag bei und blieb bis zum Nuklearabkommen mit den USA 2008 in dieser Frage international isoliert. Indien leitete 1991 wirtschaftspolitische Reformen ein, hinkt jedoch bis heute in nahezu allen sozioökonomischen Indikatoren der Volksrepublik deutlich hinterher.

Das bilaterale Verhältnis der beiden bevölkerungsreichsten Staaten hat viele Phasen durchlaufen, von der Beschwörung der Brüderschaft und ewigen Freundschaft bis hin zur geostrategischen Rivalität und zum Krieg. Der bis heute ungeklärte Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern löste 1962 einen kurzen Krieg aus und sorgte im Sommer 2017 erneut für Spannungen, als in der Region Doklam Truppen beider Seiten aneinandergerieten. Chinas massive Unterstützung für Indiens Erzrivalen Pakistan, die Aktivitäten der Exiltibeter in Indien, die umfangreichen chinesischen Investitionen im Rahmen der BRI in Südasien, das traditionell als Einflusssphäre Indiens gilt, und das wachsende chinesische Engagement im Indischen Ozean belasten immer wieder die Beziehungen zwischen Neu-Delhi und Peking.

Gleichzeitig ist die Volksrepublik mittlerweile aber auch Indiens größter bilateraler Handelspartner. Beide Staaten sind Mitglieder in der BRICS-Gruppe (bestehend aus: Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO). In internationalen Handels- und Klimaverhandlungen vertreten sie oft ähnliche Positionen gegenüber den Industriestaaten.

Die chinesische BRI stellt die indische Außenpolitik vor neue Herausforderungen, sowohl mit Blick auf die unmittelbare Nachbarschaft in Südasien als auch im weiteren regionalen Umfeld der indopazifischen Region.

Die Neuvermessung Südasiens

Die größten Investitionen der BRI mit bis zu 60 Milliarden US-Dollar sind für den China-Pakistan Economic Corridor (CPEC) vorgesehen. In Sri Lanka hat China zwischen 2005 und 2015 ca. 14 Milliarden US-Dollar in verschiedene Infrastrukturprojekte investiert. Die chinesische Regierung sagte Bangladesch 38 Milliarden US-Dollar zu. Für Nepal sind Investitionen und Kredite von über 8 Milliarden US-Dollar geplant. Zudem hat Pakistan eine besondere Bedeutung in der BRI, denn in der pakistanischen Hafenstadt Gwadar treffen die »neue Seidenstraße« und die »maritime Seidenstraße« aufeinander.

Indien sieht durch die Investitionen seinen Einfluss in der Region schwinden und befürchtet eine Einkreisung durch chinesische Stützpunkte (String of Pearls) in den Nachbarstaaten, wie zum Beispiel durch die Hafenprojekte in Gwadar (Pakistan) und Hambantota (Sri Lanka).

Die chinesische Regierung hat Indien wiederholt eine Teilnahme an der BRI angeboten. Indien lehnt dies hingegen bislang ab. Als Hauptgrund gilt, dass der CPEC durch den pakistanischen Teil Kaschmirs verläuft, der von Indien beansprucht wird. Indien sieht darin eine Verletzung seiner nationalen Souveränität. Zudem kritisiert die indische Regierung, dass sich Staaten durch die chinesischen Kredite hoch verschulden und damit in politische Abhängigkeit geraten. So musste die Regierung Sri Lankas Ende 2017 den Hafen von Hambantota für einen Zeitraum von 99 Jahren an eine chinesische Firma übertragen, um die Kredite zurückzahlen zu können.

Die indische Regierung tat sich zunächst schwer, eine adäquate Antwort auf das chinesische Engagement in Südasien zu finden. Indien versucht nun durch eine engere Kooperation mit westlichen Staaten und Japan dem wachsenden chinesischen Einfluss in der Region entgegenzutreten. 2016 vereinbarten Indien und die USA eine engere entwicklungspolitische Kooperation und arbeiten mittlerweile in Afghanistan und Nepal zusammen. In Sri Lanka kooperieren Indien und Japan im Energiebereich.

Diese Strategie bedeutet eine Abkehr von der bisherigen indischen Südasienpolitik. Indien hatte lange Zeit das Engagement von Großmächten in Südasien abgelehnt, da es sich selbst als die regionale Ordnungsmacht verstand. Nach dem Scheitern der indischen Intervention in Sri Lanka 1991 setzte Indien ab Mitte der 90er Jahre stärker auf den Ausbau der regionalen Netzwerke, um den geringen intraregionalen Handel zu verbessern. Aufgrund der bilateralen Konflikte, dem Misstrauen gegenüber Indien in den Nachbarstaaten und dem deutlich geringeren Investitionsvolumen fanden die indischen Pläne aber nur geringes Interesse in der Region. Für die südasiatischen Staaten ist China im Vergleich zu Indien ein politisch neutraler und wirtschaftlich sehr viel attraktiverer Partner. Sofern sich diese Entwicklung fortsetzt, wird Südasien künftig wohl eher von China als von Indien beeinflusst werden.

Die Neuausrichtung der indischen Außenpolitik angesichts des wachsenden regionalen und globalen Einflusses Chinas zeigt sich auch im weiteren asiatischen Umfeld und im Indischen Ozean. Im Zuge der Liberalisierung nach 1991 hatte Indien unter dem Schlagwort »Look East Policy« seine wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen zu den Staaten der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) kontinuierlich ausgebaut. Premierminister Narendra Modi wertete im Rahmen seiner »Act East Policy« vor allem die Beziehungen zu Japan auf.

Beide Staaten vereinbarten bei der Schaffung eines Asia-Africa Growth Corridor (AAGC), der Staaten eine Alternative zur BRI geben soll, eng zusammenzuarbeiten. Der AAGC zielt vor allem auf den Indischen Ozean und seine Anrainerstaaten ab. Die enge wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit Japan bietet Indien ein neues Instrument, um seinen Ambitionen im Indischen Ozean Geltung zu verschaffen.

Ein weiteres Projekt zur Verbesserung der regionalen Vernetzung ist der seit 2015 von Russland, dem Iran und Indien forcierte International North-South Transport Corridor (INSTC). Ausgehend von der iranischen Hafenstadt Chabahar soll der Korridor Indien einen Zugang nach Afghanistan, Zentralasien und Russland eröffnen. Aufgrund des Konflikts mit Indien verweigert Pakistan dem Nachbarn bislang eine Landverbindung nach Zentralasien. Im Mai 2016 sagte die indische Regierung 500 Millionen US-Dollar für die Entwicklung von Chabahar zu. Ende Oktober 2017 verschiffte Indien erstmals eine Lieferung Weizen über Chabahar nach Afghanistan. Die indische Regierung unterstreicht mit dem Projekt auch ihre Fähigkeiten, mit anderen Staaten erfolgreich Infrastrukturprojekte in Gang setzen zu können.

Neben den politischen und wirtschaftlichen Initiativen investiert Indien auch verstärkt in die militärische Zusammenarbeit mit alten und neuen Partnern. Im November 2017 trafen sich die Regierungschefs der USA, Japans, Australiens und Indiens, um die »Quadrilaterale Initiative« (Quad) wiederzubeleben. Diese Gruppierung war zehn Jahre zuvor von Japan initiiert worden, konnte sich aber aufgrund unterschiedlicher außenpolitischer Vorstellungen nicht dauerhaft etablieren. Damals wie heute stand das Verhältnis zu China im Mittelpunkt. Die beteiligten Staaten suchen nach gemeinsamen Strategien, um sich der offensiver auftretenden chinesischen Politik z. B. im südchinesischen Meer entgegenzustellen. Indien hat in den letzten Jahren seine politischen, militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu allen drei Partnern der Quad deutlich ausgebaut. Allerdings konnten sich die Quad-Mitglieder bei ihrem Treffen auf keine gemeinsame Erklärung verständigen, da sie u. a. in Fragen der maritimen Sicherheit unterschiedliche Vorstellungen hatten.

Im Indischen Ozean sieht sich Indien seit 2009 als Sicherheitspartner (Security Provider) für die Inselstaaten, um ein Gegengewicht zur wachsenden Präsenz Chinas in der Region zu etablieren. Indien hat seitdem die militärische Zusammenarbeit mit Mauritius, den Seychellen, den Malediven und den Komoren intensiviert. Ein neues Logistikabkommen mit den USA ermöglicht Indien seit 2016 auch die Nutzung amerikanischer Militäreinrichtungen im indopazifischen Raum. Im Frühjahr 2018 vereinbarte Indien mit Oman eine militärische Nutzung des Hafens in Duqm, was als Gegengewicht zu chinesischen Einrichtungen in Djibouti und Gwadar gesehen wurde. Im gleichen Zeitraum verständigten sich Frankreich und Indien auf den weiteren Ausbau ihrer militärischen Zusammenarbeit im Indischen Ozean.

China war, ist und bleibt der Fixpunkt indischer Außenpolitik. Bei ihrem informellen Gipfeltreffen im zentralchinesischen Wuhan im April dieses Jahres verständigten sich Premierminister Modi und Präsident Xi Jinping auf neue vertrauensbildende Maßnahmen, um die bilateralen Beziehungen nach der Doklam-Krise 2017 wieder zu verbessern. Für Indien besteht die Herausforderung darin, eine China-Strategie zu entwickeln, die den widerstreitenden Interessen, die sich aus den Konflikten, der Konkurrenz und der Kooperation mit China ergeben, Rechnung trägt. Nur dann wird Indien in der Lage sein, das asiatische Jahrhundert auch nach seinen Vorstellungen zu prägen.

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