Menü

Wahlen im digitalen Zeitalter Ins Kanzleramt durchs Losverfahren?

Vorab eine theoretische Wahlsituation: Angenommen, es gäbe vier Wähler und drei Kandidaten (A, B und C). Angenommen, zwei Wähler präferierten als ihren Top-Kandidaten A, einer B und einer C. Zählten »nur« die Top-Präferenzen, würde A mit zwei Stimmen gewinnen. Allerdings haben viele Wähler auch eine Art »Präferenzordnung«, also eine Rangliste der zur Auswahl stehenden Kandidaten. Sollte nun A bei den beiden, die ihn nicht auf Platz eins gesetzt haben, ganz hinten landen, und würde ein Punktesystem zur Anwendung kommen, das jeden Platz bewertet, wäre der Sieg von A dahin.

Das Beispiel zeigt, wie durch geschickte Auswahl des Verfahrens – die Kenntnis der Präferenzen der Wähler vorausgesetzt – ein Wahlergebnis beeinflusst werden kann. Gibt es zwei stark polarisierende Topkandidaten, könnte der dritte, schwächere Kandidat die Wahl im zweiten Verfahren gewinnen. Dieses wird bei Abstimmungen in Gremien, Vorständen, Komitees oder Ausschüssen angewandt, sowohl bei Personenwahlen als auch bei Abstimmungen über Projekte, Strategien usw.

Gilt dies auch bei politischen Wahlen in der Demokratie? »Dafür müsste man die Nutzenfunktion einer Demokratie kennen«, antwortet Yvonne Hofstetter in Das Ende der Demokratie, und genau hier liegt das Problem. »Wenn ein demokratisches System seine Widerstandskraft stärken will, muss es Strategien entwickeln – erlernen –, die ihm helfen, auch in Krisensituationen zu bestehen, noch besser: daraus gestärkt hervorzugehen. (…) Ein politisches System würde nach den politischen Maßnahmen suchen, die ihm den größten Nutzen bringen, um seine Nutzenfunktion zu maximieren«, erklärt Hofstetter. Dass dies bisher nicht geschieht, liegt in der Tatsache begründet, dass man zwar die Dynamik – den Output – des demokratischen Systems beobachten kann, »doch die Triebfedern der Bürger, aus denen sich das System zusammensetzt, sind unbekannt«.

Dies kann sich jedoch ändern, sobald sich die Gesellschaft »im Zustand der digitalen Überwachung durch Künstliche Intelligenzen« befindet: »Eine Künstliche Intelligenz, die von Bürgern erzeugte Datenmengen durchforstet, um ihre Intentionen zu identifizieren, ist, wenn sie sie aufgedeckt hat, in der Lage zu berechnen, wie sich ein Bürger belohnt.« Sie wird Hypothesen zu Nutzenfunktionen aufstellen, sie mit Massendaten über Bürger abgleichen und bestätigen oder verwerfen und ihnen Wahrscheinlichkeiten zuordnen, bis sich eine der Hypothesen erhärtet. »Ab dem Moment weiß die Künstliche Intelligenz, was einen Bürger in der Demokratie motiviert.« Dies sei der Grund, erklärt Hofstetter, warum Technologiegiganten und Nachrichtendienste gleichermaßen alles daran setzen würden, die Datenspuren der Nutzer zu erfassen: »Ihnen geht es nur um eines: unsere Absichten und Intentionen zu kennen. Wer sie kennt, kann sie ansprechen, motivieren und – gezielt manipulieren.«

So sei die These, dass Facebook neue soziale Normen nur umsetzt, nach Auffassung von Roberto Simanowski (Facebook-Gesellschaft) nicht korrekt. »Zuckerberg versteht sich selbst viel zu sehr als Visionär, als dass er sich mit der Erfüllung von Bedürfnissen zufriedengäbe; er ist jemand, der sie vorwegnimmt und schafft.« Das Internet ist nicht nur der »Motor« einer Revolution und die Menschen die eigentliche Entscheidungskraft; vielmehr bestimmt »das ökonomische Sein des sozialen Netzwerks (…) das Bewusstsein seiner Nutzer« (Simanowski). Und offenbar sind Falschnachrichten, Hackerangriffe und die Demontage von Politikern durch Veröffentlichung von ausgespähten oder gestohlenen Daten auf geeigneten Plattformen nur einige Optionen, Wahlentscheidungen zu beeinflussen.

Wahlen haben eine existenzielle Bedeutung für Demokratien. »Wir sind von dem Gedanken durchdrungen, dass der einzige Weg, um Repräsentation zu erhalten, der Urnengang ist«, konstatiert David Van Reybrouck in seinem aktuellen Buch Gegen Wahlen. Doch Wahlen seien »heutzutage primitiv«, so der Autor, weshalb sie abgelöst gehörten oder wenigstens ergänzt durch das originäre demokratische Verfahren zur Bestimmung von Repräsentanten des Volkes: das Los.

Eine Demokratie, die sich nur auf Wahlen reduziert, sei dem Untergang geweiht. Sie sei »brüchig, brüchiger, als sie seit dem Zweiten Weltkrieg je gewesen ist. Wenn wir nicht aufpassen, verkommt sie langsam zu einer Diktatur der Wahlen«, so Van Reybrouck. Eine Ursache sei die geringe Wahlbeteiligung. Während in den 60er Jahren in Europa noch mehr als 85 % der Wahlberechtigten an Wahlen teilnahmen, sank die Zahl im letzten Jahrzehnt unter 77 %. Zudem steige die Zahl der volatilen Wähler, weshalb sich die Parteien nicht mehr auf ihre Stammwähler verlassen könnten. Wahlkampf sei ferner permanent geworden, angetrieben von den kommerziellen und sozialen Medien und die Effizienz leide unter dem Wahlkalkül und die Legitimität unter ständigem Profilierungsdrang. Für Fernsehen und Radio sei die nationale Politik zu einer Daily Soap geworden. Parteizeitungen verschwänden oder würden kommerzialisiert, soziale Medien setzten die repräsentative Demokratie unter Druck: »Neue Technologie sorgt zwar für neue Mündigkeit«, so Van Reybrouck, jedoch lasse diese »das Wahlsystem noch mehr in seinen Fugen krachen«. Die Wirtschaftskrise 2008 habe zudem Öl ins Feuer gegossen. Neben den Erfolgen der Populisten seien auch der Aufstieg der Piraten und des Hackerkollektivs Anonymous Folgen dieser Entwicklung hin zum Antiparlamentarismus.

Nun sei das Wort »sozial« in »soziale Medien« irreführend, findet Van Reybrouck: »Facebook, Twitter, Instagram, Flickr, Tumblr und Pinterest sind genauso kommerzielle Medien wie CNN, FOX oder Euronews – mit dem Unterschied, dass die Eigentümer nicht wollen, dass man zuschaut oder zuhört, sondern dass man schreibt und teilt.« Facebook stelle das bestehende ökonomisch-politische System keineswegs infrage, bemerkt Simanowski in Facebook-Gesellschaft, sondern: »Die Datenanalyse erlaubt Personalisierung der Werbung, was deren Effizienz durch höhere Akzeptanz steigert; die Vermischung des Persönlichen mit Werbung gewöhnt daran, sich zunehmend als Teil der Konsumkultur zu sehen. Die Möglichkeit umfassender Kontrolle des individuellen und kollektiven Verhaltens in sozialen Netzwerken führt subtil zu Selbstzensur; die vorrangig phatische Kommunikation und der Ausbau nichtreflexiver Selbst- und Weltbezüge untergräbt die intellektuelle Basis einer politischen Gegenbewegung.« Kommerzielle und soziale Medien verstärkten einander zudem, es entstehe eine Atmosphäre der permanenten Hetze. So entwickelten sich die Volksvertreter laut Van Reybrouck zunehmend zu Spezialisten. Der »Bürger wird zum Konsumenten, der Urnengang zum Abenteuer«, schreibt Van Reybrouck, und Parteien müssen lediglich »alle paar Jahre beim Wähler verbeischauen, um Legitimität zu tanken«. »Dadurch, dass wir die Demokratie auf die repräsentative Demokratie reduziert haben und die repräsentative Demokratie auf Wahlen, ist ein wertvolles System in tiefe Schwierigkeiten geraten.«

Dabei sei die Fixierung auf Wahlen merkwürdig: »Seit fast dreitausend Jahren experimentieren Menschen mit der Demokratie, und nur in den letzten zweihundert Jahren tun sie dies ausschließlich mit Wahlen.« Welche Demokratie passt zum Zeitalter der permanenten Interaktivität und hyperschnellen, dezentralisierten Kommunikation?, fragt Van Reybrouck und stellt ein Mischsystem aus Wahlen und Losverfahren vor, denn »das Losverfahren alleine führe zu Unfähigkeit, Wählen allein zu Ohnmacht«. Geeignete Experimente der demokratischen Erneuerung seien bereits in Kanada, den Niederlanden, Island und Irland erfolgt und vielversprechend. »Wahl durch Los (…) entspricht der Natur der Demokratie«, zitiert er Montesquieu. Dem Repräsentativsystem lag dagegen ein »aristokratischer Reflex« zugrunde – er wurde eingerichtet im vollen Bewusstsein, dass »die gewählten Vertreter angesehene Bürger sein würden und sein sollten, die sich sozial von ihren Wählern abhoben«. Das neue System sollte die neuen, horizontalen Verhältnisse zu Beginn des 21. Jahrhunderts befriedigen.

Soziale Medien unterdrücken zwar das Politische nicht, doch selbst auf politischen Facebookseiten weicht »die substanzielle Auseinandersetzung einer kritiklosen Bestätigung des scheinbar Evidenten sowie dem Sensationalismus und der Simplifizierung im Interesse höherer Besucherzahlen (oder Parteimitgliederzahlen)« (Simanowski). Die Politik demgegenüber würde versuchen, die Folgen der Digitalisierung mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts im Zaum zu halten. Dass dies nicht gelingt, wird laut Hofstetter nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur, sondern auch in der Tagespresse thematisiert. »Über den Militäreinsatz in einem Kriegsgebiet kann Politik leichter entscheiden, wenn der Gegner bekannt – sicher – ist. Der Erlass eines neuen Gesetzes ist sinnvoll, wenn seine Wirkung sicher ist.« Digitalisierung sei kein »gnädiger Rausch«, der vorübergehen wird. Das Paradoxon der Digitalisierung, meint Hofstetter, ist, »dass sie die Antwort auf Probleme bereithält, die sie erst selbst schafft«.

Yvonne Hofstetter: Das Ende der Demokratie. Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt. C. Bertelsmann, München 2016, 512 S., 22,99 €. – Roberto Simanowski: Facebook-Gesellschaft. Matthes & Seitz, Berlin 2016, 238 S., 20 €. – David Van Reybrouck: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Wallstein, Göttingen 2017, 200 S., 17,90 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben