Die bisherige Debatte über Integration präsentiert sich als Wechselbad von Fortschritten und Rückschritten, vor allem bedingt durch die überpolitisierten Zugänge. Die jüngsten Belege dafür sind die im Ergebnis genau entgegengesetzten Studien zweier Sozialwissenschaftler mit spezieller arabisch-islamischer Expertise, die eine informative Verbindung von Innen- und Außensicht erwarten lassen. Tatsächlich aber scheinen ihre konträren Schlussfolgerungen verschiedenen Real- und Denkwelten zu entspringen. Aladin El-Mafaalanis Fazit in seinem Buch Das Integrationsparadox lautet, Integration in Deutschland gelinge immer besser, wir hätten nur noch den falschen Blick darauf. Der Politikwissenschaftler und Soziologe arbeitet mittels einer verkürzten Konflikttheorie auf eine tief greifende Wahrnehmungsänderung der Gesellschaft hin, in deren Licht sich fast alles, was heutzutage als Problem unbewältigter Integration erscheint, in lauter Fortschritt verwandelt. Je mehr nämlich soziale Konflikte durch Zuwanderung entstehen, umso besser gelungen sei sie in Wahrheit. Die Vermehrung der Konflikte zeige doch vor allem, dass die Hinzugekommenen in den gesellschaftlichen Verteilungs- und Anerkennungskämpfen jetzt voll mitmischten – und folglich dazugehören wollten. Nun fehle nur noch, dass die Gesellschaft diese Sicht des Zustands der Integration konsequent übernimmt, damit alle sehen: Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, »in der Integration immer besser gelingt«.
Diese »paradoxe« Wendung ergibt sich seiner Ansicht nach nicht aus der Erfahrung von Integrationsfortschritten anhand geklärter realer Maßstäbe, sondern bereits aus der Kombination einiger konflikttheoretischer Grundbegriffe, vor allem »Offenheit«, »Streit«, »Konflikt« und »Fortschritt«. Was den soziologisch Naiven als Problem erscheint, die Zunahme alter und neuer Konflikte, sei in Wahrheit in einer »offenen« Gesellschaft dessen Lösung. Die »schmerzhaften Veränderungen in der Aufnahmegesellschaft« seien zu ihrem Besten: Dynamik und Fortschritt. Wenn immer »neue Esser am gemeinsamen Tisch Platz nehmen«, statt dem Mahl der Etablierten vom Fußboden aus zuzuschauen, finde Integration statt. Erfreulich sei vor allem der begleitende Kulturwandel, wie jüngst wieder demonstriert wurde, als »die vielen Flüchtlinge, die 2015 durch Bayern gezogen sind, die Bereitschaft zur Homo-Ehe in Deutschland entscheidend begünstigt haben«.
Eine »Leitkultur« ergebe sich daraus von allein. Der Streit selbst und die gleiche Zulassung aller Hinzukommenden zu ihm – das sei die einzige verbindende »Leitkultur«. Offen bleibt, ob zum Streiten über Verteilung und Anerkennung des Wohlstands noch etwas Verbindendes hinzukommen muss, damit Einigung möglich wird, die betroffenen Gesellschaften nicht verzweifeln und am Ende womöglich beim autoritären Populismus um Hilfe bitten. Produktiv sind soziale Konflikte ja nicht von Hause aus, sie werden es erst, wenn es der Gesellschaft gelingt, sich auf gemeinsame Ausgangspunkte, Horizonte und Verfahren für ihre Bewältigung zu verständigen. Das ist der Kern der schmerzhaft erworbenen modernen europäischen Kultur. Und darum geht es auch bei dem mit »Leitkultur« und Integration letztlich Gemeinten. »Kultur« ist nicht der Konflikt selbst, sondern erst der Umgang mit ihm. Was der Autor zur Debatte beiträgt, ist also nicht die Lösung des Integrationsproblems, sondern nur seine verschärfte Präsentation. Die Konflikte werden nicht abnehmen, da hat er recht. Aber wenn sie für alle zumutbar bleiben sollen, brauchen wir eine gemeinsame öffentliche normative Kultur zivilisierten Streitens (und Kooperierens) im Staat, in der Zivilgesellschaft. Dazu sagt er nichts.
Ebenen der Integration
Da hilft das Vier-Ebenen-Modell der Integration des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung weiter. Es zielt auf umfassenden Aufschluss über die Schauplätze des Gelingens und des Scheiterns von Integration:
(1) Auf der strukturellen Ebene geht es vor allem um die Teilhabe an Arbeit, Bildung und Gesundheit; (2) die kulturelle Ebene beinhaltet Sprachverhalten und Fragen wie Kopftuch oder Teilnahme am Schwimmunterricht; (3) auf der sozialen Ebene befinden sich Freundschaften, Vereinsmitgliedschaften, das Verhältnis zu Nachbarn, also die öffentliche Kultur in Lebenswelt und Zivilgesellschaft; (4) entscheidend ist dann aber – das Gelingen auf den vorhergehenden Ebenen vorausgesetzt – die Ebene der emotionalen Identifikation, der inneren Verbundenheit mit der »neuen Heimat«. Die renommierte Berliner Migrationsforscherin Naika Foroutan sieht mit Blick auf dieses Tableau überall Fortschritte, allerdings mit der entscheidenden Ausnahme auf der emotionalen Ebene. Sie versteht das Verhältnis der vier Ebenen des Modells zueinander als einen offenen dialektischen Prozess, in dem die Erfüllung der materiellen Ansprüche diejenigen der emotionalen Erwartungen begünstigen, aber auch die emotionale Zugehörigkeit die materielle Integration fördern kann. Die Zusammenhänge zwischen den Ebenen sind also offen und nicht deterministisch.
Auf diese höchst bedeutungsvolle Differenz vor allem bezieht sich der Islamkenner Hamed Abdel-Samad in seinem Buch Integration. Ein Protokoll des Scheiterns. Er legt umfassend dar, dass alles misslingt, wenn am Ende die emotionale Identifikation ausbleibt. Sein dramatisierender Befund lautet, dass genau dies hierzulande schon jetzt der Fall sei mit der deutlichen Tendenz zur weiteren Verschärfung des Problems. Es sind aber im Grunde nur die muslimischen Migrant/innen, ganz im Gegensatz zu den vielen aus Russland, Osteuropa oder dem Fernen Osten, die in der Regel hartnäckig die emotional-kulturelle Identifikation mit dem Gastland verweigern, auch dann wenn sie in materieller Hinsicht und sprachlich eigentlich längst gut »integriert« sind. Darüber täuschen viele der quantitativen Studien, voran diejenigen aus dem Hause Bertelsmann, mit unbeirrbarer Voreingenommenheit hinweg. Abdel-Samad vertraut lieber den qualitativen Methoden, Interviews, langen Gesprächen mit Betroffenen und der Beobachtung auffälliger Quartiere und Lebenswelten. Auf diesem Weg gelangt er zu der Erkenntnis, dass die Integration hierzulande weithin gescheitert sei.
Das Problem seiner Darstellung ergibt sich daraus, dass er seine selektive Sicht, nämlich bezogen auf die in Ballungsräumen lebenden türkischen und arabischen Muslime, verallgemeinert und mit der irreführenden These auflädt, Islam und Islamismus seien untrennbar verwoben. Zutreffend stellt er fest, dass sich eine sehr große Zahl der türkisch-muslimischen und der arabischen Zuwanderer in wenigen Zentren ballt, sodass sie im Einflussbereich von Kollektiven verbleiben, in denen die Mentalitäten ihrer Herkunftskultur durch dichte Netzwerke und Machtstrukturen der sozialen Kontrolle hartnäckig konserviert werden. Es ist häufig gerade die Betonung und Zementierung des unbedingten Abstands von den identitätsbestimmenden kulturellen Werten und Gepflogenheiten der Aufnahmegesellschaft selbst, die der Druck dieser Kollektive auf Dauer stellt. Die dort eingebetteten Migrant/innen hätten keine Chance, als Individuen einen eigenen Weg zu gehen, zum Beispiel den der selbstbestimmten Annäherung an die Kultur der neuen Heimat. Im Mittelpunkt dieser forcierten Konservierung mitgebrachter Identitäten stehen der Zwang zur patriarchalischen Familie, die Ungleichheit der Geschlechter und ihre Symbole, die Kontrolle der weiblichen Sexualität, eine eigene »Schiedsgerichtsbarkeit« und zunehmend sogar die Abgrenzung zur Aufnahmegesellschaft als solche zum Zwecke der Identitätsbestätigung des eigenen Kollektivs. In einer Reihe von bekannten Großstadtquartieren beobachtet der Autor die Herrschaft eines aggressiven Verbunds von türkischem Nationalismus, islamischem Fundamentalismus und arabischstämmigen Großfamilien.
Entfremdung trotz Integration
So entstünden zunehmend geschlossene Parallelgesellschaften. Diese Diagnose mag überspitzt sein, trifft aber im Kern ein schwerwiegendes Problem. Bedenklich an dieser Situation sei vor allem, dass trotz guter Sprachkenntnisse und oft auch Teilhabe am Arbeitsmarkt der Kollektivismus der Parallelgesellschaften die immer nur individuell mögliche Integration auch der nachwachsenden Generationen zuverlässig verhindere. Sie werden von der Identifikation mit ihrem Gastland abgehalten und wenden sich, das ist die größte Gefahr, häufig im Falle enttäuschter Erwartungen an die deutsche Gesellschaft emotional ganz ihren Herkunftsgemeinden und -ländern zu, so wie die 66 % der Deutschtürken die den Weg Recep Tayyip Erdoğans zum Diktator unterstützt haben. Die innere Entfremdung wächst trotz äußerer Integration.
Was ist zu tun? Der Autor empfiehlt zwei Strategien und mit einer drittem liebäugelt er. Zum einen: kompromisslose Eindämmung des politischen Islam auf ganzer Linie, von der Abschaffung aller religiösen Sonderrechte (z. B. Beschneidung, Schächtung), der Pflicht für alle zur Teilnahme am Schwimmunterricht, bis zur Entmachtung der islamischen Dachverbände; zweitens: Null-Toleranz-Politik bei der Zerschlagung der Macht der »Trinität von orthodoxem Islam, türkischem Nationalismus und arabischer Mafia«; und drittens: Entflechtung der Parallelgesellschaften (oder wenigsten Stopp ihres Wachstums). Das alles sind diskussionswürdige und drängende Fragen – keine davon ist neu aber alle sind ungelöst. Das Bild des Autors vom Zustand der Integration gerät allerdings in arge Schieflage, wenn er seine zutreffenden Beobachtungen über bestimmte islamische Migrantengruppen und -milieus für die Gesamtheit der Migrant/innen verallgemeinert.
Der Autor entwertet viele seiner treffenden Befunde schließlich durch die fragwürdige These, dass »Islam und Islamismus (nur) verschiedene Schichten ein und derselben Ideologie sind«. Wenn das zuträfe, dann wäre die Anschlussfähigkeit der muslimisch geprägten Migrant/innen an die Kultur der offenen, demokratisch geprägten Gesellschaft prinzipiell ausgeschlossen, es sei denn, sie würden kollektiv ihrer Herkunftsreligion abschwören. Diese Vorstellung ist nicht nur in der Sache abwegig. Das demonstrieren seit Jahrzehnten der Diskurs und die Realität des liberalen Islam mit weltweiter Vernetzung, sowie die Rolle, die islamische Teilkulturen etwa in Indonesien bei der Demokratisierung ihrer Länder spielen. Das beweist auch die reichliche Hälfte der türkischen Muslime hierzulande, die ohne viel Lärm eine Variante des mit der Demokratie verträglichen Kulturislam praktizieren, die das Essener Zentrum für Türkeistudien schon in den 90er Jahren mit empirischen Daten als »Euroislam« identifiziert hat. Und im Übrigen widerruft der Autor damit sein an anderer Stelle vorgetragenes Plädoyer für einen spirituellen Islam als Heilmittel gegen den Fundamentalismus.
Die Verwischung aller Grenzen zwischen dem Islam als Religion und der politischen Ideologie des Islamismus schüttet das Kind mit dem Bade aus, denn sie konfrontiert die zugewanderten Muslime mit der Vorstellung, für ihre Religion sei in den europäischen Aufnahmegesellschaften prinzipiell kein Raum. Das widerspräche nicht nur der europäischen politischen Kultur, für die die integrationsbereiten muslimischen Migrant/innen ja gerade gewonnen werden sollen, es würde ihre Integration zur absoluten Ausnahme werden lassen. Dieses Urteil ergibt sich aus dem in den bisherigen Debatten am besten begründeten Integrationskonzept. Es besteht aus der Trias von gleichberechtigter Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen, gemeinsamer demokratischer Kultur und garantierter Freiheit der Religion im persönlichen Leben. Das wäre ein fruchtbarer Anschluss für die weitere Diskussion im Hinblick auf die Ziele und die Befunde der Integration – ob als Fortsetzung, zur Differenzierung oder als Kritik.
Hamed Abdel-Samad: Integration. Ein Protokoll des Scheiterns. Droemer Knaur, München 2018, 272 S., 19,99 €. – Bertelsmann Stiftung (Hg.): Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten. Chancen und Herausforderungen kultureller Pluralität in Deutschland. Bertelsmann, Gütersloh 2018, 198 S., 20 €. – Aladin El-Mafaalani: Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 240 S., 15 €.
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