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© Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Carolyn Kaster

Zur Übersetzung von Poesie im deutschsprachigen Raum Is Your Sin Original?

Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb, das sie zur Amtseinführung von Joe Biden vorgetragen hatte, löste zunächst eine Diskussion aus um das Verhältnis und die Wechselwirkung von Poesie und Öffentlichkeit, Poesie und gesellschaftliche Selbstverständigung, Kunst und Politik bzw. eine Diskussion um den Einsatz von Kunst im Rahmen eines juristischen Staatsakts. Im Anschluss daran entbrannte dann eine zweite Diskussion über die literarische Übersetzung. Diese Debatte, in der nicht selten Europas Vorbehalte gegenüber der amerikanischen Kultur ventiliert wurden, war vielfältig und von Lissabon bis nach Wien, von Kiew bis nach Dublin äußerst produktiv. Sie soll hier nicht wiederholt, sondern als Gelegenheit verstanden werden, einige Netzwerke, Projekte und Anlässe vorzustellen, die die Übersetzung von Poesie in Europa ermöglichen und befördern. Ich möchte dabei das Augenmerk auf Initiativen legen, die über die literarische Übersetzung hinaus auch eine Art transnationale Begegnung zwischen Schriftsteller/innen und Übersetzer/innen ermöglichen.

Wie steht es um die literarische Übersetzung im deutschsprachigen Raum? Die vielfach ausgezeichnete Übersetzerin Heike Flemming, die u. a. atemberaubende Übertragungen des ungarischen Schriftstellers Szilárd Borbély erarbeitet hat, fasst es so zusammen: »Auf den ersten Blick könnte man sagen: gut. Es wird viel übersetzt, es gibt eine lange Übersetzungstradition und viele Institutionen, die sich um die finanzielle Unterstützung, Fortbildung, Sichtbarmachung der Übersetzerinnen kümmern, die Verlagslandschaft ist vielfältig, oft sind deutsche Übersetzungen ein Sprungbrett für Übersetzungen in andere Sprachen. Auf den zweiten Blick bleibt es eine prekäre Arbeit, wobei ich mich als Übersetzerin für Ungarisch noch glücklich schätzen kann, weil die Sprache eine Nische ist, in der es nicht so viele Übersetzerinnen gibt und für Übersetzungen, die so gut wie keine von Genreliteratur sind, vergleichsweise ganz gute Honorare gezahlt werden.«

Da nicht alle Verlage durch Verkäufe die Übersetzungen refinanzieren können, um die Produktionskosten für Buchmedien, Lizenzgebühren und Übersetzerhonorare zu decken, existieren zahlreiche nationale und bilaterale Institutionen, wie der Deutsche Literaturfonds, der Nederlands letterenfonds in Amsterdam, das Shota Rustaveli Institut für georgische Literatur in Tiflis oder das französische Kultusministerium über die jeweiligen Botschaften (Attaché du Livre). Diese Institutionen erhalten ihre Mittel, oft vermittelt über eine Stiftungs- oder Vereinsstruktur, direkt oder indirekt aus staatlichen Zuwendungen, was diesen Unterstützungsleistungen immer auch eine politische Dimension zuweist. Per se stellt das kein Problem dar, solange diese transparent bleibt und mit einem liberalen Geist an die Kunstförderung herantritt, der die autonome Vielfalt von literarischen Positionen zum Ziel hat.

Im deutschsprachigen Raum gibt es zudem – wie anderorts auch – eine große Zahl an Übersetzerpreisen, die in dezentralen Entscheidungsfindungen ermöglichen, einzelne Werke oder Übersetzer/innen hervorzuheben bzw. auch ein Spotlight auf das Übersetzen in der Gesellschaft zu richten. Hierzu zählt z. B. der Paul-Celan-Preis (der zuletzt an Eveline Passet ging), der Helen-und-Kurt-Wolff-Übersetzerpreis (zuletzt an Jackie Smith), der Übersetzerpreis Ginkgo-Biloba für Lyrik (im Jahr 2021 an Heike Flemming) oder der »Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung« (zuletzt an Theresia Prammer).

Ulrich Blumenbach, der Übersetzer von David Foster Wallace, berichtete vor einigen Jahren bei den Basler Gesprächen zur Übersetzung, die jährlich von der Heinrich Enrique Beck-Stiftung finanziert an der Universität Basel stattfinden, wie er lange Listen mit Übersetzungsoptionen zu einzelnen Wendungen und Begriffen anlegt. Überhaupt scheint er um den Schlaf gebracht, bis er ein Wort, einen Ton findet, um die literarische Wirkung des Originals nachzubilden. Dabei fällt er ständig Urteile, die andere anders fällen würden und die durchaus idiosynkratisch begründet sein können. Beispielsweise erzählt Blumenbach, wie er in Dialekt verfasste Dialoge eines Dubliner Alkoholikers aus dem Arbeitermilieu aus einem Roman von Wallace ins Baseldütsch übersetzte. Da Blumenbach Norddeutscher ist und das Baseldütsch nur als Sprache seiner Wahlheimat kennt, wurde er von einem in Basel Geborenen unterstützt, der Professor an der Universität war. Als das Buch erschien und Blumenbach seine Übersetzung in Basel präsentiert, hagelt es Kritik an genau dieser Passage, denn ein irischer Alkoholiker aus dem Arbeitermilieu – befand das Publikum – spreche nicht das professorale Baseldütsch. Es müsse ordinärer, ungeschliffener, härter sein.

Die Position von Übersetzer/innen zwischen Publikum und dem Original ist legendär; und so sehr Literaten wie Paul Valéry oder Walter Benjamin sich bemühten, die singuläre Neuschöpfung einer jeden Übersetzung hervorzuheben, bleibt vielleicht am Ende doch die schlichte Feststellung, dass Übersetzer/innen sich immer nur auf eine mögliche Variante, eine Abkunft vom Original festlegen, die durch Neuübersetzungen verschoben und anders ausgeführt werden kann, sodass das italienische Sprichwort »traduttore, traditore« (Übersetzer, Verräter) hartnäckig jedem Übersetzungsversuch entgegengrinst. Gelegentlich behilft man sich mit der Vorstellung des Nachdichtens statt des Übersetzens: Zahlreiche Autorinnen haben auch gerade diesen Umstand in ihren eigenen Werken thematisiert, etwa Uljana Wolf in ihrem Buch meine schönste lengevitch (2013) oder ihren Prosagedichten falsche freunde (2009), oder Ulrike Draesner in ihren 1999 veröffentlichen »Radikalübersetzungen« von Shakespeares Sonetten, die sie nicht inhaltlich, sondern rein klanglich übersetzte.

Im Gegensatz zu Konzepten, die die literarische Übersetzung in einem sehr weiten Begriff von Sprache ansiedeln, gewinnt in den letzten Jahren in (einigen) Übersetzungen zunehmend auch die identitätspolitische Rolle der Literatur überhaupt Anerkennung und die damit verbundene Reflexion auf das Verständnis, das in der Übersetzung freigesetzt wird. Wer Identität und Positionalität der Autorenperson reflektiert, wird sicherlich auch diese Reflexion abermals durchführen, wenn es um die Übersetzung geht. Darf die Übersetzerin bzw. der Übersetzer völlig anders sein als die Autorenperson? Sollten Autorinnen von Frauen übersetzt werden? Sollten z. B. homosexuelle oder behinderte Dichter/innen übersetzt werden von ebenfalls homosexuellen oder behinderten Übersetzer/innen? Oder ist diese Fragestellung aufgehoben durch die grundsätzliche Differenz, die die Übersetzung an erster Stelle erforderlich macht?

Ich möchte diese Frage unbeantwortet lassen, allerdings an die Wunde erinnern, als die die Übersetzung häufig empfunden worden ist und verweise auf eine Ursprungserzählung des Übersetzens: Diese trägt sich etwa 250 v. Chr. in Ägypten zu. Die jüdische Bevölkerung Alexandriens wünscht, ihre auf Hebräisch und Aramäisch verfassten heiligen Texte auch in ihrer Alltagssprache verstehen zu können, da sie in einer hellenisierten Kultur immer mehr Gemeindemitglieder hatten, die nur den altgriechischen Dialekt beherrschten. Aber wer sollte die ehrwürdige, ja heilige Tora übersetzen dürfen? Also begaben sich der Legende nach 72 Schriftgelehrte unabhängig voneinander in ihre Studierstuben und übersetzen jeweils 72 Tage lang das Fünfrollenbuch. Als sie wieder zusammenkamen, siehe da, oh Wunder: Sie hatten Wort für Wort exakt dasselbe übersetzt und die durch die Kraft des Geistes autorisierte griechische Übersetzung der Tora, die Septuaginta (»das Buch der Siebzig«) war geboren. Praktisch im Übrigen auch für die Christen, die mehr als drei Jahrhunderte später daherkamen und sich auf ebendiese Übersetzung bei der Abfassung ihrer heiligen Texte beziehen konnten.

Übersetzungen stiften Begegnungen

Besonders in den letzten 20 Jahren stellen viele neu übersetzte Autor/innen zunächst ihre Werke auf internationalen Literaturfestivals vor. Beispiele hierfür ist die rege Übersetzungstätigkeit im Umfeld des internationalen Poesiefestivals Berlin, der Kölner poetica oder dem Bremer Festival Poetry on the Road. Regina Dyck, die Leiterin von Poetry on the Road, hebt hervor, wie groß das Interesse der stets ausverkauften Events für internationale Poesie ist. In Bremen hört das Publikum die Gedichte im Originalklang und kann über eine Videoleinwand die deutsche Übersetzung mitlesen. Das internationale Poesiefestival Berlin veröffentlicht eine Festivalanthologie. Auch Zeitschriften eröffnen wichtige Perspektiven auf internationale Stimmen, wie etwa die Grazer Literaturzeitschrift Lichtungen, die in jeder Ausgabe ein Dossier mit Länderschwerpunkt einbezieht. Die Wiener Literaturzeitschrift VOLLTEXT stellt in jeder Ausgabe neu ins Deutsche übersetzte Texte mit Kommentar vor.

Regional fokussiert konzentriert sich die im Aachener Dreiländereck angesiedelte Zeitschrift Trimaran auf Werke von flämisch-, niederländisch- und deutschsprachigen Autor/innen. Das Redaktionsteam um Stefan Wieczorek sieht in der Zeitschrift folgendes Ziel: »Benannt nach dem Boot mit den drei parallelen Rümpfen stiftet das zweisprachige und aus drei Ländern angetriebene Magazin Trimaran einen grenz- und sprachübergreifenden Vernetzungsverkehr und präsentiert Begegnungen und wechselseitige Übertragungen von Dichterinnen und Dichtern.«

Groß angelegte Anthologie-Projekte erschaffen neben den vielen nationalen Literaturszenen auch so etwas wie eine internationale Perspektive deutschsprachiger Literatur. Das Portal lyrikline.org vom Haus für Poesie in Berlin versammelt Tausende internationale Stimmen, häufig mit Audio und Übersetzungen in eine Vielzahl von Sprachen. Lyrikline.org ist ein laufendes, nicht abschließbares Projekt, das zunehmend zu einer international hochgeschätzten (virtuellen) Stätte der Poesie in ihren Übersetzungen geworden ist. Anders verfuhren Jan Wagner und Federico Italiano bei ihrer buchstarken Sammlung europäischer Gegenwartsdichter/innen mit dem Titel Grand Tour (2019): Sie wählten Autor/innen aus einem europäischen Kulturraum der größer ist als die EU, und versammelten Lyrik von Albanien bis Zypern in deutschsprachiger Übersetzung in einem Buch. Dabei stellten sie sich in eine jüngere Tradition deutschsprachiger Anthologien von Hans-Magnus Enzensberger (Museum der modernen Poesie, 1960) und Joachim Sartorius (Atlas der neuen Poesie, 1995).

Auch regional sehr eingegrenzte, durch regelrechte Sprachaktivsten vorangetriebene Projekte sind kennzeichnend für die vielfältigen Ansätze. Man denke etwa an die deutsch-sorbische Autorin Róža Domašcyna, die immer wieder zeitgenössische Texte ins Sorbische übersetzt, damit diese Sprache am östlichsten Rand der Bundesrepublik mit nur etwa 20.000 Sprecher/innen nicht sozusagen verinselt und Teil eines weltoffenen Sprechens bleibt. Ähnlich nimmt der Folio-Verlag (Wien/Bozen) neben Übersetzungen aus dem Italienischen auch ladinische Autor/innen in sein Programm auf. Diese Initiativen zeigen die Verbindung zwischen Übersetzung als exportnotwendige Leistung und der (sprach)grenzenüberschreitenden Auseinandersetzung, die neben dem literarischen und ästhetischen Reichtum auch einen ethischen Reichtum schafft, der aus einer Multiperspektivität gewonnen wird.

Andere literarische Institutionen, wie das Künstlerhaus Edenkoben in der Pfalz, bringen im Geiste gegenseitiger künstlerischer Auseinandersetzung jedes Jahr etwa fünf Autor/innen aus Gastländern mit fünf deutschsprachigen Autor/innen zusammen. So entstehen die faszinierenden Anthologien unter dem Reihentitel Poesie der Nachbarn. Im Gegensatz zu Übersetzungen, die z. B. von Verlagen oder Festivals an einzelne Übersetzer/innen in Auftrag gegeben werden, spielt in Edenkoben die Übersetzung eine produktionsästhetische Rolle im Hinblick auf die wechselseitige Auseinandersetzung von Autor/innen. Dieses Workshop-Format stiftet nicht nur Übersetzungen, sondern auch dichterische Bekanntschaften und gibt den Autor/innen Einblicke in je andere, länder- und sprachspezifische Bedingungen. Anklingende Ansätze finden sich auch z. B. im Berliner VERSschmuggel, der vom Berliner Haus für Poesie durchgeführt wird, Dies zeigt zudem, dass Übersetzung mehr als einen Text zum Ziel hat, nämlich Perspektivwechsel, Auseinandersetzung und Bindungen, die Verständnis unabdingbar machen. Diese Dialogizität im Prozess bringt eine weitere Ebene in das Übersetzen als Praxis und Begegnung zwischen Künstlern. Manfred Metzner, Verleger im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn, wo sowohl die jährlichen Anthologien Poesie der Nachbarn als auch VERSschmuggel erscheinen, kommentiert im Hinblick auf die Rolle von Übersetzungen in seinem Verlagsprogramm: »Wunderhorn legt seit seiner Gründung 1978 einen programmatisch herausragenden Schwerpunkt auf einen Dialog, auf einen Austausch mit der Welt, mit anderen Kulturen und Sprachen auf allen Kontinenten. Im interkulturellen Dialog setzt der Verlag seit Jahren mit Patrick Chamoiseau, Édouard Glissant, Dany Laferrière, Abdelwahab Meddeb und seit 2010 mit der Reihe AfrikAWunderhorn Akzente.« Weiterhin sagt Manfred Metzner: »Lyrik lassen wir z. B. nur von Dichterinnen und Dichtern übersetzen.«

Der Stellenwert von Festivals und Übersetzungsworkshops für Autor/innen kann man gerade im deutschsprachigen Bereich überhaupt nicht hoch genug einschätzen. Sie sind Schaufenster für Autor/innen, die später in den Verlagsprogrammen erscheinen. Hierzu zählen im Übrigen auch die Länderschwerpunkte, die die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt am Main alljährlich festlegen. Insbesondere sogenannten kleinen Sprachen verhelfen diese Schlaglichter zur Aufmerksamkeit und zur Bündelung bzw. Fokussierung von Ressourcen.

So sehr die Poesie neben dem geschriebenen Wort maßgeblich auf Bühnen und in literarischen Events zum Publikum findet, so sehr wird auch die Übersetzung zunehmend mehr als das Übertragen von einer Sprache in die andere: Die Übersetzung ist ein Instrument in der europäischen und internationalen Vernetzung von Sprachschaffenden. So vergibt das europäische Übersetzer/innen-Netzwerk traduki (traduki.eu) nicht nur Zuschüsse, sondern ist »ein europäisches Netzwerk, das Südosteuropa mit der deutschsprachigen Welt durch Literatur, Übersetzungen, Festivals, Workshops und Künstlerresidenzen verbindet. (…) Traduki ist nicht nur im Bereich des literarischen und kulturellen Austauschs aktiv, sondern auch ein zivilgesellschaftliches Projekt mit einer dezidiert europäischen Sinnrichtung.«

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