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© picture alliance / dpa | Carsten Rehder

Zur Gewöhnung an rechtsradikales Denken Ist das schon normal?

Massenmedien sind Gewöhnungsmaschinen. »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«, schrieb Niklas Luhmann. Denn Luhmann war der Meinung, dass unser Hauptzugang zu Informationen über die Welt massenmedial erzeugt werde. Je stärker Massenmedien unseren Alltag durchdringen, desto wichtiger werden für unsere Orientierung also auch die Bilder von Politik und Gesellschaft, die diese zeichnen.

Wenn es so ist, darf man sich fragen, welche Rolle traditionelle und digitale Medien bei der »Normalisierung« rechtsradikaler Ideen spielen. Denn auf globaler Ebene hat man es eben nicht nur mit einer zunehmenden Zahl an rechtspopulistischen beziehungsweise -extremistischen Regierungen zu tun, sondern auch mit einer Verschiebung der normativen Grenzen der Demokratie.

Rechtspopulistische und sogar rechtsextremistische Parteien betreten die öffentliche Bühne mittlerweile nicht mehr als Provokateure, sondern erscheinen als »ganz normale« politische Protagonisten. Die letzten Wahlen in europäischen Staaten scheinen dies zu bestätigen. Noch verarbeitet die Öffentlichkeit den Sieg Giorgia Melonis in Italien. Die Chefin der post-faschistischen Partei Fratelli d’Italia ist in einer Koalitionsregierung mit Silvio Berlusconi und Matteo Salvinis rechtspopulistischer Lega die erste Premierministerin des Landes.

In Frankreich hat man sich schon vor einigen Jahren darauf eingestellt, dass das Rassemblement National von Marine Le Pen die größte Oppositionsfraktion im Parlament bildet. Der Schock kam dann aber durch den Rechtsextremisten und offenen Rassisten Éric Zemmour, der über sieben Prozent der Stimmen im ersten Präsidentschaftswahlgang bekam. In Schweden wurden die »Schwedendemokraten« zweitstärkste Kraft im Parlament mit über 20 Prozent hinter den Sozialdemokraten (30,3 Prozent). Und obwohl die AfD wegen Rechtsextremismusverdacht vom Verfassungsschutz beobachtet wird, steht sie ziemlich stabil da.

Von europäischen Ländern wie Ungarn und Polen nicht zu sprechen. Ihre rechtspopulistischen Regierungen führen bereits seit Jahrzehnten eine immer radikalere anti-demokratische Politik gegen individuelle Rechte, gegen Gleichberechtigung und Menschenrechte. Die Grenzen zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus sind fließend geworden.

Außerhalb Europas sieht es nicht besser aus. In Indien engagiert sich die Regierung Modi für eine antimuslimische Politik. In den USA ist zwar der Demokrat Joe Biden Präsident, doch die Republikanische Partei scheint nach wie vor von Trumps Unterstützer*innen beherrscht zu sein, und dass trotz des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar 2021.

In Brasilien hat Lula mit seiner Arbeiterpartei gewonnen, allerdings mit nur knapp zwei Prozent Vorsprung. Doch das Ergebnis von Bolsonaro ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass unter seiner Regierung Hunger und Obdachlosigkeit ein Niveau erreicht haben, das Brasilien laut Oxfam auf den Stand der 90er Jahre zurückwirft. Dazu kam Bolsonaros katastrophaler Umgang mit der Coronakrise, die knapp 700.000 Menschen das Leben kostete.

Trotzdem wählten ihn 43,2 Prozent der Brasilianer*innen im ersten Wahlgang, nicht wesentlich weniger als 2018, als Bolsonaro auf 46,0 Prozent der Stimmen gegen einen wesentlich unpopuläreren Kandidaten als Lula kam. So gesehen ist die These einer Normalisierung der extremen Rechten und ihrer Ideen selbst an den Wahlurnen bereits Realität geworden.

Die Normalisierung rechtsradikaler Ideen reicht allerdings tiefer, sie durchdringt Politik und Gesellschaft. Antidemokratische Ideen werden nicht nur in den entsprechenden Milieus verbreitet, sie zirkulieren auch in den Massenmedien. Sie untergraben demokratische Prinzipien auch in Ländern, in denen (noch) demokratische Parteien herrschen.

Antidemokratische Ideen breiten sich aus

Großen Einfluss haben sie mittlerweile bei Gesetzentwürfen. Frankreichs Polizei- und Laizitätsgesetze unter Emmanuel Macron sowie Dänemarks Eingriffe in die Auswahl des Wohnbezirkes »nicht westlicher« Bevölkerungsanteile sind dafür gute Beispiele. Inzwischen haben die britische und die dänische Regierung die Abschiebung von Asylbewerbern nach Ruanda beschlossen. Eine Praxis, die gegen die von beiden Ländern unterschriebene Genfer Konvention verstößt. Das Alarmierende ist, dass solche Gesetze nicht von rechtsextremistischen oder rechtspopulistischen Regierungen verabschiedet und umgesetzt werden, sondern von liberalen und, wie im Fall Dänemarks, sogar von sozialdemokratischen Regierungen.

Normalisierung ist ein doppelter Vorgang. Zum einen verschiebt sie das, was wir als Teil der Normalität erkennen. Diskriminierung und Hass werden alltäglich. Man gewöhnt sich an sie und stumpft ab. Empörung oder Gegenreaktionen finden immer seltener statt, bis man das hundertste Mal einer Grenzüberschreitung nur noch mit einem Seufzer kommentiert. Das ist der Gewöhnungseffekt.

Das Problem für den Journalismus ist aber, dass darüber berichtet beziehungsweise darauf reagiert werden muss. Der Effekt ist paradox: Je öfter sich der Blick auf rechtsextreme Provokationen und Gewaltausübung richtet, desto mehr werden sie Teil des Alltags.

Doch Normalisierung findet auch als Normverschiebung statt. Sie geschieht im öffentlichen Diskurs, in massenmedialer Unterhaltung und Kultur, in der Familie, Schule, Arbeit und im Privaten und natürlich auch in den sozialen Medien. Kollektive und individuelle Parameter für gut oder schlecht, erstrebenswert oder abscheulich, sagbar oder unsagbar bewegen sich außerhalb der demokratischen Grenzen. Interessant ist, dass die Normverschiebung nicht unbedingt bewusst geschehen muss. Es gibt einen Punkt, an dem die Gewöhnung an antidemokratische Ideen und Praktiken im Alltag so stark wird, dass sich die Normen von selbst verschieben.

Normalisierung kann im Scherz, in der Unterhaltung oder im politischen Diskurs stattfinden. Das sind meistens Mikroveränderungen, ein Wort, das anders platziert wird, eine Gedankenassoziation oder sogar ein Bild. Die Aussage von Alexander Gauland aus dem Jahr 2016, dass niemand neben dem Fußballer Jérôme Boateng leben möchte, ist inzwischen zum klassischen Beispiel dafür geworden.

Fachleute sprechen von »kalkulierter Ambivalenz«, bei der das Nichtgesagte durchaus verständlich wird. Gegen den Vorwurf des Rassismus allerdings verteidigt sich Gauland mit der Aussage, er wisse nicht, dass Boateng eine dunkle Hautfarbe habe, und er selbst habe nichts gegen den Fußballer, es seien die Leute, die dies sagten. Doch die suggerierte rassistische Bemerkung stand weiterhin im Raum, auch wenn sie nicht vollständig ausgesprochen wurde. Sie trug zur Überschreitung der demokratischen Grenzen bei, an die wir uns immer mehr gewöhnen, bis solche Aussagen nicht mehr auffallen, weil sie die Normen teilweise verändert haben.

An dieser Stelle bekommen die Massenmedien eine besondere Rolle, denn sie sind Hauptproduzenten von Öffentlichkeit und dienen rechtsextremistischen Akteur*innen als Bühne. Obwohl traditionelle Medien als Gatekeeper arbeiten und Online-Medien auf Netzwerkkommunikation gründen, teilen beide die gleiche Aufmerksamkeitslogik. Sie privilegiert unerwartete Ereignisse, Konflikte, dramatische Geschehnisse, emotionale Höhepunkte, Personalisierung und Vereinfachung. Das sichert den Massenmedien die Aufmerksamkeit des Publikums.

Politische Akteur*innen aus dem rechtsextremistischen Lager haben sich dieser Logik angepasst und bekommen seitdem wesentlich mehr Aufmerksamkeit der traditionellen Massenmedien. Bei den Online-Medien schaffen sie sich ihre eigene Teilöffentlichkeit. Dazu kommt, dass Offline- und Online-Medien miteinander verknüpft sind. Trumps Tweets zum Beispiel wurden nicht nur in sozialen Medien weiterverbreitet, sie waren auch Gegenstand der Kommentare und weiterer Veröffentlichungen in den traditionellen Massenmedien, ob bei Fox oder CNN. Der Punkt ist: Rechtspopulismus verkauft sich gut. Oder wie der ehemalige CEO von CBS Les Moonves sagte: »Trump kann sehr schlecht für die USA sein, aber er ist verdammt gut für CBS«.

Ausschlaggebend für die Anpassung an die massenmediale Logik ist eine grundlegende strategische Entscheidung. Rechtsextremistische Parteien und Bewegungen haben ihre Position modernisiert und übernahmen den populistischen Stil. Die erste Partei in Europa, die diesen Weg eingeschlagen hat, war die FPÖ in Österreich. Bereits in den 90er Jahren hatte Jörg Haider erkannt, dass Populismus den Weg zur Normalisierung ebnet. Denn die populistische Kommunikation ist von Skandalen, manichäischem Denken, Dramatisierung, Emotionalisierung und Vereinfachung geprägt. Sie erzählt eine fesselnde Geschichte, in der das gute Volk von der bösen Elite unterdrückt wird, und sie ist auf eine charismatische Führerperson angewiesen.

Damit korrespondiert der Populismus genau mit der Aufmerksamkeitslogik der Massenmedien. Das Ergebnis ist eine systemische Affinität, der sich sogar kritische Journalist*innen nur schwer entziehen können. Die Wendung zum Populismus war ein entscheidender Faktor der Normalisierung rechtsradikaler Ideen und Akteur*innen. Gaulands Provokation ist schwer zu ignorieren, aber sie ist nicht eindeutig rassistisch wie etwa Zemmours Aussagen über »den großen Volksaustausch« – ein zentrales Topos der extremen Rechten, bei dem behauptet wird, die europäische Bevölkerung werde durch nicht-weiße Migrant*innen »ausgetauscht«.

Nach der Normalisierung die Radikalisierung

Zemmour zeigt, wie antidemokratische Ideen weiter radikalisiert werden. In der Tat konkurriert er nicht nur mit Marine Le Pen, sondern beide bedingen sich gegenseitig. Durch die offene rechtsextremistische Ideologie von Zemmour erscheint Le Pens Populismus, der mit kalkulierten Ambivalenzen arbeitet, moderat. Gleichzeitig profitiert Zemmour von Le Pens Normalisierung rechtsradikaler Ideen. Vieles, was früher die Grenzen des Sagbaren überschritten hätte, ist jetzt salonfähig geworden. Die Verschiebung außerhalb der demokratischen Grenzen geht weiter. In Deutschland und den USA entstand keine neue offen rechtsextremistische Partei. Die Radikalisierung fand innerhalb der AfD statt, wie die zunehmende Bedeutung des »Flügels« und nach seiner Auflösung des Lagers um Björn Höcke zeigt. In den USA nahm die Republikanische Partei immer stärker rechtsradikale Positionen ein und schließt all diejenigen aus, die Trumps Linie nicht folgen.

Doch die Spirale von Normalisierung und Radikalisierung ist keine natürliche Katastrophe. Sie geschieht inmitten der Zivilgesellschaft, ist Gegenstand der Politik und kommt in die Öffentlichkeit – durch die Massenmedien. Es gibt Möglichkeiten, diesen Mechanismen zu begegnen. Jede Gesellschaft hat Grenzen dessen, was sie akzeptiert und gutheißt. Diese Grenzen sind nicht statisch, sondern verhandelbar, sie verschieben sich, je nachdem, was performativ auf die Bühne der Öffentlichkeit präsentiert wird.

Die Normalisierung antidemokratischer Gedanken, Diskriminierung und Rassismus fangen oft mit einem Witz an. So lange es Stimmen gibt, die sich dagegen erheben und auch gehört werden, hat die Demokratie noch eine Chance gegen die Spirale von Normalisierung und Radikalisierung. Oft gehen sie aber unter, weil sie die Aufmerksamkeitslogik nicht recht bedienen können.

Doch Massenmedien bleiben Gatekeeper. Sie entscheiden, was und wie auf ihrer Bühne gespielt wird. Dies gilt sowohl für redaktionelle Entscheidungsträger*innen in traditionellen Medien, wie für Betreiber von Plattformen, Programmierer*innen und »User« von sozialen Medien. Für die Massenmedien heißt es, dass diesen Stimmen Raum gegeben werden muss.

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