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Replik auf Paul Colliers Vorstellungen von einer neuen Flüchtlingspolitik Ist Flucht tatsächlich keine Migration?

In einflussreicher Weise schlägt der britische Migrationsforscher Paul Collier in seinen neueren Veröffentlichungen eine grundlegende Wende in der Flüchtlingspolitik vor, die verspricht, zugleich ökonomisch effizienter und humanitär besser verantwortbar zu sein als die bisherige Praxis. Zentral dafür ist diese Idee: »Anstatt die Geflüchteten nach Europa zu bringen, sollten sie in näher gelegenen Zufluchtshäfen ihren Lebensunterhalt bestreiten« (NG|FH 9/2018). Zur Begründung dieses Vorschlags argumentiert Collier u. a. damit, dass dies wesentlich kostengünstiger sei, als Flüchtende in Europa aufzunehmen und ihnen dadurch die riskante Flucht nach Europa erspart bleibe. Zudem sei es ohnehin das Bestreben von Geflüchteten, baldmöglichst in ihre Herkunftsregion zurückzukehren, was einfacher zu realisieren sei, »wenn ihr Zufluchtsort möglichst nah bei ihrem Herkunftsland liegt«.

Vordergründig betrachtet erweckt Colliers Vorschlag den Eindruck eines erfolgreichen Versuchs, den gordischen Knoten der europäischen Flüchtlingspolitik zu durchschlagen und eine Win-win-Situation herbeizuführen. Bei einer etwas näheren und durch die internationale Flüchtlingsforschung informierten Betrachtung zeigen sich aber gravierende Probleme:

Erstens basieren Paul Colliers Überlegungen auf einer Prämisse, die dem Erkenntnisstand der Forschung fundamental widerspricht. Denn er unterstellt, dass zwischen Flucht und Migration eindeutig und trennscharf unterschieden werden kann. Sein Argument lautet, dass »Migranten aus freien Stücken« gehen, während »Flüchtende ihre Heimat nicht freiwillig« verlassen. Dagegen ist in der sozialwissenschaftlichen Flüchtlingsforschung seit Jahren immer wieder aufgezeigt worden, dass diese Unterscheidung unrealistisch und deshalb nicht haltbar ist. Mit Begriffen wie »Überlebensmigration« und »durchmischte Migrationsbewegungen« wird entsprechend akzentuiert, dass jede Form der Migration gewöhnlich aus einer unauflösbaren Gemengelage von Zwängen und Entscheidungen resultiert. Keine Migration ist so betrachtet völlig freiwillig, keine – von Extremfällen wie der gewaltsamen Vertreibung oder Hungersnöten abgesehen – ist vollständig alternativlos. Empirisch betrachtet ist die Unterscheidung von Flucht und sonstigen Formen der Migration also gerade nicht eindeutig und problemlos zu treffen. Deshalb bedarf es im je konkreten Fall auch genauer Betrachtungen, um in Übereinstimmung mit dem Flüchtlingsrecht entscheiden zu können, ob es sich nach den geltenden Kriterien tatsächlich um Flüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigte handelt oder nicht, Entscheidungen, die komplexe Abwägungen erfordern und vielfach auch strittig sind. Weiter ist in der sozialwissenschaftlichen Flüchtlingsforschung akzentuiert worden, dass der Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention allzu eng gefasst ist, um den Ursachen von Zwangsmigration tatsächlich gerecht zu werden. Auch darin zeigt sich, dass es durchaus diskussionsbedürftig ist, ob und wie freiwillige Migration, welche von den Betroffenen ohne gravierende Folgen unterlassen werden könnte, von Zwangsmigration zu unterscheiden ist.

Zweitens sind die normativen Konsequenzen, die Collier aus dieser Unterscheidung zieht, hoch problematisch. Er akzeptiert zwar die Verpflichtung, Geflüchteten Aufnahme und Schutz zu gewähren, bestreitet aber jede moralische Verpflichtung gegenüber sonstigen Migranten: »Haben wir auch den Migranten gegenüber eine Pflicht? Ein Recht auf Auswanderung kann und sollte es nicht geben – weder rechtlich noch moralisch.« Dagegen ist einzuwenden, dass dies offenkundig in Unkenntnis des Völkerrechts formuliert ist, das nachweisbar ein Recht auf Auswanderung anerkennt. So heißt es im Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: »Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren.« Genau dieses völkerrechtlich anerkannte Auswanderungsrecht war die Grundlage dafür, die Einschließungspolitik der Staaten des Warschauer Paktes aus einer menschenrechtlichen Perspektive zu kritisieren. Dass der Autor also ein zentrales Menschenrecht infrage stellt, ist daher höchst bedenklich. In der Flüchtlingsforschung ist dagegen wiederkehrend auf eine gänzlich anders gelagerte Problematik hingewiesen worden: darauf, dass mit diesem unverzichtbaren Recht auf Auswanderung kein generelles Recht auf Einwanderung korrespondiert, sondern dieses durch die Bestimmung des Asylrechts und Flüchtlingsrechts erheblich eingeschränkt wird.

Abschließend noch eine weitere Bemerkung zur Argumentation Colliers: Abgesehen davon, dass in seinen Veröffentlichungen nur wenige Überlegungen dazu zu finden sind, wo denn realpolitisch mit Aussicht auf Erfolg sichere Zufluchtshäfen in regionaler Nähe zu den Herkunftsländern geschaffen werden können, wird auch nicht näher diskutiert, welche Lebensstandards dort als zumutbar gelten können.

Collier vertritt eine Position, die den ökonomischen Eigeninteressen der europäischen Staaten entgegenkommt. Er verbindet dies mit einer generellen Infragestellung der Genfer Konvention, der bislang als unantastbar geltenden Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts. Seine Argumentation steht damit in der Gefahr, einer weiteren Erosion des Flüchtlingsschutzes Vorschub zu leisten und diese zudem mit dem Schein einer humanitären Legitimation zu versehen.

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