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Gespräch mit Wolfgang Merkel über das Regime Putin und die Chancen einer Demokratisierung Ist Russland faschistisch geworden?

Wie lässt sich das Moskauer Regime theoretisch fassen? Gibt es Hoffnung auf eine wirkliche Demokratisierung Russlands? Über diese Fragen spricht Anna Rose von Radio Liberty/Free Eurüa mit Wolfgang Merkel, zwischen 2004 und 2020 Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Rose berichtete bis März 2022 für Echo Moskwy, den ältesten unabhängigen russischen Radiosender. Nach Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine kam das Aus für den Sender.

Anna Rose:Kann man das Regime von Putin faschistisch nennen?

Wolfgang Merkel: Faschismus kann man aus zwei Richtungen betrachten. Eine ist die analytische Richtung, wie sie von Historikern und Sozialwissenschaftlern mit Blick auf den Nationalsozialismus und den italienischen Faschismus eingeschlagen wurde. Die andere ist die populäre Instrumentalisierung des Begriffs. Als Kampfbegriff verliert Faschismus aber seine Konturen. Er reicht dann von Hitler bis zur AfD.

Historiker haben Varianten des Faschismus unterschieden. Dem italienischen Faschismus fehlt etwa der massenmörderische Antisemitismus des deutschen Holocaust. Dieser unterscheidet den Nationalsozialismus von den meisten faschistischen Bewegungen und Regimen der Zwischenkriegszeit. Historische Bezüge auf den Faschismus vor 100 Jahre bringen heute keine neuen Einsichten in Putins Regime.

Putin kann also weder mit Hitler noch mit Mussolini verglichen werden?

Vergleichen kann man alles, gleichsetzen jedoch nicht. Putin ist nicht Hitler. Putin ist ein Kriegsverbrecher, er hat die Ukraine angegriffen, aber nicht wie Hitler die Welt angezündet und einen Holocaust organisiert. Auch eine Wiedergeburt Mussolinis ist er nicht. Es gibt einen wichtigen Unterschied von Putins Herrschaft zu den faschistischen Regimen Italiens und Deutschlands: Die italienischen Faschisten und insbesondere die deutschen Nationalsozialisten haben ihre Anhänger erst mobilisiert und dann die Gesellschaft durchorganisiert. Putin tut das Gegenteil: Er demobilisiert die Gesellschaft. Das ist ein anderer Regimetyp, der keine soziale Bewegung kennt, keine Massenorganisationen und zivilen Aufmärsche. Das ist eine andere politische Dynamik. Faschismus und Nationalsozialismus hatten zudem eine Zukunftsorientierung, sie wollten – dem Leninismus-Stalinismus nicht unähnlich – einen neuen Menschentyp schaffen. Gleiches gibt es bei dem weitgehend entideologisierten Machtregime von Putin weder in der »Theorie« noch in der Praxis.

Wie könnten wir dann das Regime von Putin analytisch angemessen bezeichnen und wie lässt sich die Figur Putin einordnen?

Ich sehe fünf wichtige Elemente: Das Regime ist revisionistisch, was die Grenzen angeht; es ist nationalistisch, indem es zunehmend die tatsächliche oder imaginierte Größe der Nation in der Historie betont; es ist ein personalistisches auf Putin zugeschnittenes Regime; es ist im Inneren ansteigend repressiv, aber mit der Repressionstiefe und dem Vernichtungswillen des Nationalsozialismus oder Stalinismus nicht gleichzusetzen. Putins Regime ist ein demobilisiertes, personalistisches, revisionistisches Regime ohne eigene Herrschaftsidee. Es basiert auf politischer, militärischer und geheimpolizeilicher Macht, instrumentalisiert die Justiz und eignet sich nach Bedarf Ad-hoc-Ideologeme wie Nationalismus, Revisionismus und geschichtliche Mythen an.

Die russische Opposition vergleicht Putins Regime mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Ist das plausibel?

Nein! Es gibt mehr Unterschiede denn Gemeinsamkeiten. Ein kardinaler Unterschied ist, in Putins Regime gibt es keine systematischen ethnischen Vernichtungssäuberungen, wie sie Hitler nach 1938 (Reichspogromnacht) und dann vor allem nach 1941 (Wannseekonferenz) gegen die deutschen und europäischen Juden organisieren ließ. Das Regime hat nach innen keinen ethnisch-kulturellen Vernichtungswillen wie der Nationalsozialismus oder Massenerschießungen wie der Stalinismus.

Nicht-totalitäre autokratische Regime sind selbst in ihrer Repression einem gewissen formalen Legalitätsprinzip unterworfen, um den Schein legalen Handelns zu erzeugen. Es kommt noch hinzu, dass es nach 1993 in Russland anders als im Baltikum, der Ukraine und Weißrussland keine Tradition großer Protestbewegungen gegeben hat. Man müsste schon weit zurückgreifen, etwa in das Jahr 1917 oder 1905, um solche Oppositions- und Protestbewegungen in Russland zu sehen. Putin hat nach 2000 zunehmend ein repressives Regime etabliert; es ist effektiv, aber hat nach innen keinen massenmörderischen Charakter, den wir im Nationalsozialismus, im frühmaoistischen Regime Chinas oder im totalitären Regime des Massenmörders Pol Pot in Kambodscha von 1975–1979 gesehen haben.

Und was ist mit dem Iran?

Die schiitischen Mullahs haben ein hoch repressives theokratisches Regime errichtet, totalitär dem Anspruch nach. Das Mullah-Regime folgt einer geschlossenen Ideologie. Es hat den politischen Islam als radikalisierte Herrschaftsform etabliert. Frauen werden diskriminiert, Homosexuelle verfolgt, Ehebrecherinnen gesteinigt. Dagegen protestieren junge gebildete Menschen in den Städten. Massenproteste gibt es in Russland nicht.

Warum gehen die Leute in Russland nicht auf die Straße, wenn die Gefahr für ihr Leben geringer ist?

Der Grad der Repression erklärt nicht alles. Der ausbleibende Massenprotest hat viel mit einer demobilisierten Gesellschaft zu tun, in der es zwar in St. Petersburg und in Moskau aus der Intelligenzija heraus heroische Protestaktionen gibt, aber keine massenhafte Protestmobilisierung. Solche Wellen haben wir vor und nach 1979 im Iran gesehen. In Russland gab es vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine einen impliziten Gesellschaftsvertrag, in dem Putin wachsenden Wohlstand versprach: Wenn ihr keine Opposition betreibt, könnt ihr alles tun, was nicht gegen das Regime gerichtet ist, auch euch bereichern. Der Überfall auf die Ukraine, die Kriegsverbrechen, der sich hinziehende Kriegsverlauf, die internationale Ächtung sowie die westlichen Wirtschaftssanktionen gefährden diesen autoritären Gesellschaftsvertrag, wenn sie ihn nicht gerade beenden.

Was benötigt man, um in Russland eine Proteststimmung aufkommen zu lassen?

Ich will mich da zurückhalten. Situationen können sich schnell ändern. Wenn der Angriffskrieg gegen die Ukraine in einer Niederlage und im wirtschaftlichen Chaos in Russland endet, dann können spontane Proteste ausbrechen. Dass diese zu einer Demokratisierung führen, ist unwahrscheinlich. Sollte es einen Regime-Change in Moskau geben, werden wohl kaum die schwachen liberalen, demokratischen Kräfte eine nachhaltige Demokratisierung einleiten. Der Historiker, Stalinismus- und Russlandexperte Jörg Baberowski schreibt, dass in einer solchen Situation eher eine unheilige Allianz von Militär, Geheimdiensten, Faschisten und Alt-Kommunisten an die Macht käme als Liberale oder Demokraten. Ich teile diese Einschätzung.

Viele oppositionelle Politologen glauben, dass in Russland nach dem Krieg eine Demokratisierung wie in Deutschland nach 1945 möglich ist. Stimmen Sie dem zu?

Nein. Krieg und Faschismus führten zur politischen, physischen und moralischen Zerstörung Deutschlands. Selbst wenn das Putin-Regime den Krieg verlieren würde, bedeutete dies keine Zerstörung des russischen Territoriums, vielmehr bliebe eine geschundene Ukraine zurück, ein Pyrrhus-Sieg. Deutschland lag 1945 in Schutt und Asche. Russland wird nach dem Krieg nicht in Schutt und Asche liegen. Das ist also eine andere Situation

Sind alle Vergleiche falsch – mit dem Faschismus und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg?

Man muss die analytische Neugier auf Parallelen und Unterschiede richten. Gemeinsam mit den Faschismen der Zwischenkriegszeit in den 20er und 30er Jahren sind tatsächlich territorialer Revisionismus, Nationalismus und Personalismus bis hin zum Führertum. Aber trotzdem war der Nationalsozialismus ein anderes, ein düsteres, massenmörderisches Regime, die Gesellschaft war von oben mobilisiert und durchorganisiert.

Und mit dem Stalinismus?

Der Stalinismus war ideologisch, gesellschaftlich und institutionell ebenfalls durchorganisiert. Die Wirtschaft war verstaatlicht, während in Putins Russland sich ein oligarchischer Kapitalismus durchgesetzt hat. Im Stalinismus war klar, wie die Nachfolge Stalins geregelt würde, dafür hatte man mit dem Politbüro und dem Parteistatut Personen, Verfahren und Institutionen. Die Nachfolge von Putin ist ebenso ungeklärt wie die politische Herrschaftsform nach Putin. Ein autokratisches Regime, das über Nuklearwaffen verfügt, lässt sich nicht einfach besiegen.

Ist ein Sieg der Ukraine realistisch? Muss sie siegen, damit der Krieg beendet werden kann?

Putin wird alles tun, diesen Krieg nicht zu verlieren. Je mehr Waffen aber der Westen liefert, umso länger wird der Krieg dauern und das ukrainische, nicht das russische Territorium zerstören. Er wird Soldaten beider Länder und ukrainische Zivilisten zu Hunderttausenden töten. Nach Verlusten auf dem Schlachtfeld ließ Putin die Infrastruktur des Landes zerbomben und drehte erneut an der Gewaltspirale. Allein die USA haben die Möglichkeit, beide Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen. Der Glaube, es müssten erst mehr territoriale Rückgewinne ermöglicht werden, um Putin verhandlungsbereit zu machen, vergisst Russlands militärische Eskalationsmöglichkeiten.

Wird die russische Bevölkerung nach Putin bereit sein, sich zu befreien?

Es wäre natürlich ein großer Fortschritt, wäre Putin weg. Wir wissen aber aus der Demokratisierungsforschung, dass es für eine erfolgreiche Demokratisierung bestimmter Voraussetzungen bedarf: Ein Land sollte von Demokratien umgeben und international nicht isoliert sein, über rechtsstaatliche wie demokratische Erfahrungen verfügen und durchsetzungsfähige Demokratisierungsakteure haben. Solche institutionellen Erfahrungen sind in Russland gering. Auch unter Jelzin war Russland eher eine kleptokratische Anokratie, mehr ein failed state denn eine Demokratie. Wir sollten nicht hoffen, dass Russland nach Putin geradewegs den demokratischen Weg einschlägt. Mit Putin wird es keine Demokratie geben. Aber auch ohne Putin ist Demokratie auf kurze Sicht keine wahrscheinliche Perspektive.

Wird es Jahrzehnte dauern, bis sich eine Opposition in Russland herausbildet?

Soweit können wir nicht nach vorne blicken. Gerade verändert sich die geopolitische Konstellation der Welt. Es wird eine Rolle spielen, ob Russland sich näher mit China assoziiert und es zu einer geopolitischen Bi-Polarisierung mit der Führungsmacht USA und dem demokratischen Westen auf der einen und China wie Russland auf der anderen Seite kommt. Dadurch verengt sich der Demokratisierungsspielraum noch weiter. Die innen- wie außenpolitische Konstellation steht nicht günstig für eine Demokratisierung Russlands.

Hat Putin demzufolge sein Ziel schon erreicht?

Nein. Putin kann seine Ziele nicht mehr erreichen. Er konnte nicht schnell nach Kiew durchstoßen. Wenn man die Opferzahlen schätzt, dann sind schon heute mehr als 100.000 russische Soldaten gefallen. Russland wird wirtschaftlich noch mehr Probleme bekommen, als es heute schon hat. Mit fossiler Energie allein wird es den wirtschaftlichen Aufschwung kaum schaffen können. Putin kann den Krieg im eigentlichen Sinne nicht mehr gewinnen, aber er darf – aus seiner Sicht – den Krieg auch nicht verlieren.

Ist der neue Patriotismus auch eine Errungenschaft Putins?

Putin aktivierte den Phantomschmerz des stolzen Sowjetimperiums. Wenn es den Sowjetmenschen nach 1945 nicht gut ging, so hatten sie zumindest die Ideologie einer strahlenden Zukunft und den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg in der Vergangenheit. Die Sowjetunion war zudem zur zweiten Supermacht aufgestiegen. Dafür musste Putin einen kleinen Ersatz finden, das ist der neue rückwärtsgewandte Patriotismus.

Die russische Bevölkerung ist mehrheitlich auch nicht für Demokratisierung?

Das kann sich ändern, aber es braucht Zeit. Schauen Sie sich Deutschland an. Zwischen 1933 und 1945 lagen zwölf Jahre des barbarischsten Regimes der Geschichte. In Deutschland West wie Ost herrschte auch nach dem Krieg eine weit verbreitete Untertanenmentalität. Aber irgendwann haben die Deutschen gelernt, die Demokratie zu achten. Zu einer partizipationsbereiten Demokratie ist Westdeutschland erst im Gefolge der Protestbewegung von 1968 geworden. Auch der erste richtungspolitische Regierungswechsel 1969 hin zur sozialliberalen Koalition verstärkte den Demokratisierungsschub.

Allerdings währte in Deutschland die Diktatur nur zwölf Jahre. Davor gab es für 15 Jahre den ambitiösen Versuch einer Demokratie in der Weimarer Republik. Und davor hatte das Kaiserreich einen gut funktionierenden Rechtsstaat mit organisierten Parteien und Verbänden. Nach 1945 stützten Marshall-Plan und Re-Education den Beginn der westdeutschen Demokratie. All das wird man in Russland so schnell nicht sehen. Das macht die Demokratisierung Russlands viel schwerer als es jene nach 1945 in Deutschland war.

Sie haben die Entnazifizierung erwähnt. Müsste man in Russland auch erst einmal Ähnliches durchführen, wie es viele verlangen?

Wenn man einen Regimewandel zur Demokratie ohne eine demokratische Schutzmacht mit einer Nacht der langen Messer beginnt, in der man alle, die aktiv dem Regime gedient hatten, ins Gefängnis steckt, dann macht man eine neue Konfliktlinie auf, die das junge Gewächs der Demokratie gefährdet. Nach jeder Diktatur gibt es die Frage: bestrafen oder vergeben? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass alle Schuldigen in Russland bestraft werden können, die in Kriegs- und Regime-Verbrechen verwickelt waren. Das wären dann zum Schluss Hunderttausende. Obwohl die Gerechtigkeit eine Bestrafung der engsten Führungs-, Geheimdienst- und Militärzirkel verlangte, wird man dafür nicht die Macht besitzen. Ein Gegenputsch der Machtapparate wäre wahrscheinlich.

So beunruhigend das klingen mag, eine massenhafte Bestrafung von Regimegetreuen würde die Demokratisierung mehr belasten als eine Versöhnungsgeste gegenüber Mitläufern und unteren Regimegetreuen. Gerechtigkeit ist wichtig, aber zu Beginn einer Demokratisierung nicht immer klug.

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