Menü

©
picture alliance / dpa | Candy Welz

Wie wichtig sind die Kandidaten bei der Entscheidung im Herbst? It’s the Foreign Policy, stupid!

Seit den Entscheidungen über die Kanzler- und Spitzenkandidaturen in den Parteien ist Deutschland in Vor-Wahlkampfstimmung. Allmählich wird klar, dass die Bundestagswahl am 26. September keine Wahl werden wird wie alle anderen vor ihr. Nicht nur, dass die Merkel-Jahre unwiderruflich zu Ende gehen: Zum ersten Mal seit 1949 zieht kein amtierender Kanzler bzw. amtierende Kanzlerin in die Wahlschlacht. Angela Merkel kann nicht mehr abgewählt, durch einen Koalitionswechsel abgelöst oder durch einen Nachfolger aus den eigenen Reihen ersetzt werden. Sie hört nach 16 Jahren einfach auf.

Und auch das ist neu: War seit 1949 stets klar, dass entweder die Union oder die Sozialdemokratie den Regierungschef stellt, so ist dies zum ersten Mal offen. Es gibt nicht mehr einen Amtsinhaber und einen Kanzlerkandidaten sondern gleich drei Kanzlerkandidaten. Aus dem gewohnten Duell wurde ein Triell. Dies hat weniger mit der Kandidatenlage als mit parteipolitischen Konstellationen zu tun. Anders als zunächst befürchtet reüssierte nämlich nicht die AfD seit 2017 als stärkste Oppositionskraft gegenüber der »Großen Koalition« sondern die Grünen. Für die bundesdeutsche Demokratie ist das ein Glücksfall, für die Parteien der Regierungskoalition eine unerwartete Herausforderung, auf die sie nicht wirklich eingestellt waren. Insoweit haben die grünen Herausforderer das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Und weil sie selbst von ihrer ausgezeichneten Ausgangslage so überwältigt waren, machten sie die Überraschung perfekt, indem sie mit Annalena Baerbock ein unbeschriebenes Blatt an die Spitze stellten.

Folgt man den Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen, dann hängt der Aufstieg der Grünen (unabhängig von der Kandidatenauswahl) unmittelbar vom Themensetting der Bundesbürger ab. Danach überlagert die Corona-Pandemie seit letztem Jahr zwar alle anderen Themen, doch lässt sich – anders als zunächst erwartet – daraus kein wahlpolitischer Funken für die Regierungsparteien schlagen. Ganz anders verhält es sich mit dem zweitwichtigsten Themenblock – Umwelt/Klima/Energiewende –, der bei der grünen Partei einzahlt – bei Kommunalwahlen, Landtagswahlen und nun offenbar auch bei der Bundestagswahl. Mit weitem Abstand folgen die Themen Wirtschaft, Migration, Bildung, soziale Ungleichheit und Rente. Weniger als Kandidaten zählen Themen.

Die Kanzlerkandidatenfrage wird auch sonst notorisch überbewertet. Nichts verdeutlicht dies mehr, als die vorgestellte Annahme eines Meinungsinstituts, das die Wähler fragt: »Stellen Sie sich vor, sie könnten den Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin direkt wählen, wen würden Sie …«. Natürlich können die Bundesbürger ihren Kandidaten nicht direkt wählen, denn die Bundesrepublik ist eine parlamentarische Demokratie und kein demokratisches Präsidialsystem. Angesichts eines zunehmend zersplitterten Parteisystems, das kompliziertere Koalitionsverhandlungen nach sich zieht, ist die Verbindung zwischen Zweitstimme und Kanzlerwahl brüchiger geworden als jemals zuvor. Damit hängen Regierungsbildungen stärker von Koalitionsverhandlungen und weniger von Wahlergebnissen ab. Oder anders gesagt: Das Wahlergebnis mag zwar rasch vorliegen, das Ergebnis einer Regierungsbildung nicht.

Trotz dieser neuen Ungewissheiten sieht zurzeit alles danach aus, dass sich die nonchalante Biedermeierzeit der Merkel-Jahre bis zum Wahltag fortsetzen könnte und sich die öffentliche Aufregung daran entzündet, wer wann welche zusätzlichen Einkünfte der Bundestagsverwaltung nachgemeldet hat. Doch allerspätestens nach der Bundestagswahl dürfte das Land in der Wirklichkeit des Weltgeschehens ankommen und dabei ist es dann – anders als im Wahlkampf – wirklich entscheidend, wer die politische Führung übernimmt und den nächsten Kanzler stellt.

Diese Wirklichkeit wird der Bundesrepublik nicht länger Lippenbekenntnisse abverlangen, sondern zu Entscheidungen mit erheblicher Tragweite zwingen. Während immer mehr Staaten allmählich aus ihrem nationalen Corona-Koma erwachen, stellen sie nämlich fest, wie weit die internationale Ordnung in eine beklagenswerte Unordnung geraten ist: Zersplitterung und Polarisierung sind ihre Kennzeichen. Dies wird nicht ohne weltwirtschaftliche Folgen bleiben, an denen ein Handelsstaat wie Deutschland nicht vorbeisehen kann, wenn er aus der Pandemie-Krise rasch herauswachsen will. Das unter der deutschen Ratspräsidentschaft ausgehandelte Investitionsabkommen mit China (CAI) hat die EU nach einem Beschluss des Europaparlaments vorläufig auf Eis gelegt. Wie es weiter geht? Bis auf Weiteres: unklar.

Das provokative Auftreten Chinas im Südchinesischen Meer, der Staatsterror gegenüber der uigurischen Minderheit und die Zerstörung der Autonomie Hongkongs durch Peking haben das Verhältnis zu Washington nachhaltig verschlechtert. Schon unter Obama knirschte es gewaltig im Gebälk der sino-amerikanischen Beziehungen, unter Trump schien der Tiefpunkt erreicht. Doch der neue US-Präsident setzt ganz anders als sein erratischer Vorgänger auf eine kluge Bündnispolitik. Als erstes traf er den japanischen Premierminister und sorgte für einen demonstrativen Schulterschluss mit den Bündnispartnern im Indopazifik, sodann mit den transatlantischen Verbündeten. Französische, britische und niederländische Kriegsschiffe zeigen dort demnächst Flagge, um an der Seite der US-Pazifikflotte für ein Offenhalten der Seewege einzutreten. Während die deutsche Öffentlichkeit im Bann des unionsinternen Streits zwischen einem Ministerpräsidenten aus NRW und einem aus Bayern stand, hatte die Bundesregierung beschlossen, die Fregatte »Bayern« in den Fernen Osten zu entsenden. Diese Solidaritätsbekundung dämpfte den Konflikt um Nord Stream 2 vorerst zugunsten einer maritimen Machtdemonstration im Südchinesischen Meer mit deutscher Beteiligung. So wird es immer fraglicher, ob die deutsche Chinapolitik auf Dauer mit drei Bällen gleichzeitig jonglieren kann, nämlich China mal als Partner, mal als Konkurrent und mal als Rivale zu betrachten – ohne Gesamtstrategie.

Die Vergiftung von Alexej Nawalny leitete das Ende des besonderen, historisch gewachsenen deutsch-russischen Verhältnisses ein, das bereits durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim erschüttert worden war. Die Intervention in Syrien, die militärischen Drohgebärden gegenüber der Ukraine und die massive Unterstützung Alexander Lukaschenkos bei der Unterdrückung der belorussischen Freiheitsbewegung erzwingen eine Neuorientierung der deutschen Ostpolitik – ebenso übrigens wie das Drängen europäischer Nachbarn und die deutliche Haltung Großbritanniens.

Womit wir beim Westen selbst wären. In der wirtschaftlichen Stabilisierung der EU in der Corona-Krise lag der zentrale Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft 2020, und er gelang nur unter der sehr tätigen Mitwirkung Frankreichs. Nur wenn die deutsch-französische Zusammenarbeit funktioniert, kann die EU funktionieren. Ein Jahr vor den französischen Präsidentschaftswahlen lag Marine Le Pen mit ihrem rechtsradikalen Rassemblement National in den Meinungsumfragen vor Emmanuel Macron. Jetzt geht es darum, die europafreundlichen Kräfte in Frankreich zu stützen, an der Seite des französischen Staatspräsidenten zu stehen und dessen europäische Initiativen nicht länger verplätschern zu lassen.

Gleiches gilt für die Beziehungen zu den USA. Ein Blick auf die knappen innenpolitischen Kräfteverhältnisse zeigt, wie wichtig es für Deutschland ist, dass die neue Präsidentschaft gelingt. US-Präsident Joe Biden ist inzwischen mit einem Bündel strategischer Initiativen hervorgetreten: von der Idee eines Demokratiegipfels, der eine Aktivierung der Zusammenarbeit unter demokratischen Staaten befördern soll, über die Initiative, Steueroasen trocken zu legen und eine globale Mindeststeuer für Konzerne einzuführen. Armin Laschet reagierte in seiner sogenannten außenpolitischen Grundsatzrede auf all dies nicht. Floskeln wie »deutsche Außenpolitik geht nur europäisch« (Baerbock) klingen gut und richtig, entbehren aber jedweder Festlegung. Deutschland wird sich aber festlegen müssen oder es driftet ab. Anders als in Wahlkämpfen kommt es dabei nach der Wahl weniger auf Wahlprogramme als auf den Kanzler an. Um es mit Helmut Schmidt zu sagen »Politische Führung kann nur von Personen ausgehen. Urteilskraft, Tatkraft, Mut und Verantwortungsbewusstsein sind nicht durch immer neue Papiere zu ersetzen.«

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben