Die Erkenntnis, dass die Ungleichheit skandalöse Ausmaße angenommen hat und dass es jede Menge zu tun gibt, um diese Entwicklung zumindest zu stoppen, hat sich mittlerweile in weiten Teilen der öffentlichen Debatte durchgesetzt. »Ungleichheit ist die entscheidende Herausforderung unserer Zeit«, so hatte es beispielsweise Barack Obama formuliert
Teil dieser öffentlichen Debatte sind auch zahlreiche Bücher, die die Ungleichheitsverhältnisse untersuchen und teilweise Handlungsansätze für mehr Gleichheit formulieren. Drei davon sind: Die ungleiche Welt des New Yorker Ökonomen Branko Milanović, der Band Armut in Deutschland, den der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes Georg Cremer vorgelegt hat, und Ungleichheit. Was wir dagegen tun können? – Hauptwerk des britischen Altmeisters der Ungleichheitsforschung Anthony B. Atkinson
Allen Autoren ist gemein, dass sie nicht nur globale oder nationale Forschung zu Ungleichheitsfragen betreiben oder darstellen möchten, sondern zugleich auch Strategien für mehr Gleichheit vorschlagen. Für politische Entscheidungsträger/innen und ihr Umfeld bieten sie allesamt häufig gut begründete Vorschläge
Der mitunter als »Star-Ökonom« (DIE ZEIT) titulierte Milanović bietet mit seiner Verknüpfung von Themen wie Migration, Ungleichheit und Sozialstruktur einen unkonventionellen und zugleich erkenntnisreichen Zugang. Auffallend im Konzert der vielen Ungleichheitsstudien ist etwa sein Verweis darauf, dass seit den 80er Jahren in den allermeisten Ländern weltweit die Ungleichheit zweifelsohne angestiegen ist, die Ungleichheit zwischen den Ländern allerdings abgenommen hat. Vor allem mit dem Aufkommen einer breiteren Mittelschicht in China und zum Teil in Indien sind die Einkommen dort erheblich gestiegen und haben aus globaler Perspektive zu mehr Gleichheit beigetragen
Ganz anders stellt sich nach Milanović die Entwicklung in den westlichen Gesellschaften dar. Hier sind die Unter- und Mittelschichten eindeutig die Verlierer/innen der letzten 20 Jahre. Durch die zweite industrielle Revolution, die zunehmend internationale Arbeitsteilung und den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften wurde die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer/innen in den OECD-Staaten in der Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands deutlich geschwächt. In der Folge dieser Entwicklungen sind in nahezu allen OECD-Ländern die Mittelschichten heute kleiner als vor 35 Jahren, ihre Einkommen stagnieren oder sinken
Milanović beschreibt gefährliche Konsequenzen dieser Entwicklung. In den USA verstärke sich der Trend hin zu einer Plutokratie, einer Herrschaft des Geldes. Demgegenüber seien in Europa zwar die Demokratien gefestigter und weniger anfällig für das Kapital, allerdings entwickele sich ein zunehmender Nativismus, also ein identitärer Bezug zur Nation und damit häufig eine drastische Abgrenzung von Zuwanderern
Das verweist auf ein weiteres, zentrales Thema Milanovićs Publikation: der anhaltende globale Migrationsdruck. Bei aller internationalen Angleichung ist der Geburtsort eines Menschen die entscheidende Größe dafür, ob er reich oder arm durchs Leben gehen wird. Ein in den USA geborener Mensch hat gegenüber einem Kongolesen einen Einkommensvorteil von 9.200 %! Dass vor diesem Hintergrund eine Zuwanderung in die USA und andere – vergleichsweise außerordentlich wohlhabende Gesellschaften – für viele Menschen aus anderen Teilen der Welt attraktiv erscheint, ist klar
Wie damit umgehen, bei gleichzeitig wachsenden Abschottungstendenzen in vielen westlichen Gesellschaften? Die Antwort, die Milanović auf diese Frage anbietet, zeigt seine Fähigkeit zu unkonventionellen Vorschlägen. Er plädiert deutlich für liberale Zuwanderungsregime und eine Erleichterung der Arbeitsmigration, allerdings bei gleichzeitiger Bevorzugung der einheimischen Arbeitskräfte. Zuwanderer könnten rechtlich und materiell schlechter gestellt werden oder auch höhere Steuern zahlen, um die Zuwanderung bei der aufnehmenden Gesellschaft attraktiver zu machen. Den Umstand, dass Zuwanderung bereits jetzt für die aufnehmenden Gesellschaften und ihre Sozialsysteme einen deutlichen materiellen Vorteil bedeutet, berücksichtigt Milanović an dieser Stelle nicht
Insgesamt zeigt das Buch seine Stärken vor allem in den Bereichen, mit denen der ehemalige Weltbank-Ökonom vertraut ist. Die Kapitel zur Ungleichheit im nationalen und globalen Rahmen sind stark. Manche historische, ideengeschichtliche oder politikwissenschaftliche Bezüge scheinen indes eher flott formuliert zu sein, denn von tieferer Kenntnis geprägt. Andere Aussagen erscheinen wenig weiterführend, etwa der erläuterungsfreie Hinweis, dass eine zunehmende Ungleichheit in China die autokratischen Elemente der Herrschaft dort entweder stärken oder aber das Gegenteil bewirken und zu einer Demokratisierung beitragen könnte
Gleichwohl, der Band von Milanović ist erhellend und lesenswert, zunächst wegen der nationalen wie globalen Perspektiven, zweitens wegen der gemeinsamen Betrachtung von Ungleichheit und Migration und drittens wegen der mitunter überraschenden und unkonventionellen Wendungen
Befähigungen des Einzelnen zur Entfaltung bringen
Ähnlichkeiten zwischen dem primär auf die nationale Armutspolitik konzentrierten Band Georg Cremers Armut in Deutschland und der international vergleichenden Ungleichheitsforschung Milanovićs bestehen auf den ersten Blick kaum. Allerdings kommen beide zu ähnlichen Ergebnissen: Es geht darum, die Befähigungen des Einzelnen, unabhängig von Einkommen und Status der Eltern, vor allem durch Bildung bestmöglich zur Entfaltung zu bringen
Cremer geht es zum einen darum, Armut in Deutschland (und begrenzt auch im internationalen Vergleich) darzustellen und zu fragen, wie sie reduziert werden kann. Er stellt dabei keine grundsätzlichen Systemfragen, sondern prüft eher mit welchen Schritten und an welchen Stellschrauben die Armutspolitik verbessert werden kann. Zum anderen geht es ihm um eine Versachlichung der Debatte über Armut. Er grenzt sich deutlich und bewusst von denjenigen ab, die als regelmäßige Gäste in Talkshows die deutsche Armutspolitik mit drastischen Zuspitzungen skandalisieren. Entsprechend zeichnet sich sein Buch durch eine kluge, sachliche und detailreiche Analyse verschiedener Felder der Armutsproblematik und -ermittlung aus. Dabei differenziert er zwischen Armut, die immer relativ ist, und materiellen Entbehrungen. So verweist er darauf, dass in Griechenland im Zuge der Krise die materiellen Entbehrungen der Bürgerinnen und Bürger erheblich gestiegen seien, das Armutsrisiko aufgrund der fast gleich gebliebenen relativen Einkommensverteilung allerdings annhähernd konstant geblieben ist
Seine Kritik an einer reißerischen Skandalisierung der Armutsentwicklung in Deutschland, die er auch an andere Wohlfahrtsverbände adressiert, ist dabei auch von normativ-legitimatorischen Überlegungen geprägt: Statt Solidarität zu befördern, würde die Rhetorik des Skandals die Angst in der Mitte der Gesellschaft verfestigen und damit die Bereitschaft zum Finanzieren von Sozialstaatlichkeit aushöhlen
Dem Werk Ungleichheit – Was wir dagegen tun können von Anthony B. Atkinson merkt man in jeder Zeile an, dass sich hier das beeindruckende Lebenswerk eines weltweit führenden Ungleichheitsforschers und zugeich auch die Erfahrungen eines Aktivisten für mehr Gleichheit ausdrückt
Atkinson beginnt mit einer Bestandsaufnahme, beschreibt das aktuelle Maß an Ungleichheit, skizziert, wie es in vergangenen Phasen gelungen ist, Ungleichheit zu reduzieren und beschreibt auch, was genau mit Gleichheit gemeint ist. Ihm ist klar, dass es nicht um absolute Gleichheit oder einen genau zu definierenden Fixpunkt geht, sondern um die Bewegungsrichtung hin zu mehr Gleichheit
Alle Aspekte unserer Gesellschaft müssen auf den Prüfstand
Im zweiten Abschnitt entwirft das Labour-Mitglied 15 Maßnahmen und fünf weitere »erwägenswerte Ideen«. Zwei Gedanken sind dabei leitend: Erstens sei Ungleichheit »tief verankert in unserer Sozial- und Wirtschaftsstruktur; wenn wir sie nennenswert reduzieren wollen, müssen alle Aspekte unserer Gesellschaft auf den Prüfstand«. Zweitens habe der Staat erheblichen Einfluss auf die materielle Verteilung in einer Gesellschaft, nicht nur in Bezug auf Umverteilung und soziale Sicherheit, sondern auch in Bezug auf Markteinkommen. Entsprechend breit gefächert sind seine Vorschläge und reichen von Maßnahmen zur Stärkung der Gewerkschaften, der staatlichen Förderung von technologischem Wandel und dem Ausbau der öffentlichen Beschäftigung über die Auszahlung einer Kapitalausstattung für jede und jeden bei Erreichen der Volljährigkeit, hin zu einer tatsächlich progressiven Einkommensteuer (ein Spitzensatz von 65 % wird vorgeschlagen, zu Beginn der Amtszeit Margaret Thatchers lag er bei 83 %!), einer jährlichen Vermögensteuer und einer Grundsteuer auf Immobilienbesitz. Für eilige Leserinnen und Leser gibt es auch eine Zusammenfassung der Vorschläge. Es fällt insbesondere im Vergleich zu den anderen hier besprochenen Büchern auf, dass der Fokus auf die Stärkung individueller Befähigungen (Bildung) aus Atkinsons Perspektive nicht ausreicht. Weder werden damit strukturelle Ungleichheitsursachen angegangen, noch ist ein hoher Bildungsabschluss eine Garantie für einen hohen oder sicheren Lebensstandard
Im dritten Abschnitt schließlich folgt eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Vorschlägen und die Überprüfung, ob diese vor dem Hintergrund von technischem Wandel und Globalisierung realistisch seien. Seine Antwort ist klar: Ja! Es gibt nach wie vor erhebliche Gestaltungsspielräume. Zum Beleg dieser These verweist Atkinson unter anderem auf die historische Erfahrung. In der tiefgreifenden Globalisierungsphase vor dem Ersten Weltkireg wurden in Deutschland (und einer Reihe anderer europäischer Länder) eine Vielzahl von Sozialversicherungsgesetzen beschlossen, die mittelbar oder unmittelbar die gesellschaftliche Gleichheit befördert haben. Der Umverteilungsspielraum, insbesondere für Maßnahmen, die höhere Sozialausgaben vorsehen, ist nicht durch den globalen Wettbewerb begrenzt. Darüber hinaus sei die Globalisierung kein Naturgesetz, sondern gestaltbar, etwa durch internationale Abkommen. Atkinsons Fazit ist entsprechend eindeutig: »Ob die künftige Entwicklung weniger Ungleichheit bringen wird, liegt daher weitgehend in der Hand der nationalen Politiker.«
Der Band ist trotz zahlreicher Belege und Berechnungen durchgängig gut lesbar, ein Glossar erläutert wichtige Begriffe und insgesamt orientiert sich Atkinson an Stephen Hawking, der im Vorwort seines Bestsellers Eine kurze Geschichte der Zeit schreibt, man hätte ihn gewarnt, dass jede Formel in einem Buch die Zahl der Leser halbieren würde, und geht entsprechend sparsam damit um. Ein rundum gelungenes, informatives und im besten Wortsinn auch für die praktische Politik anregendes Buch
Es ist sicher kein Zufall, dass Atkinson dieses Werk den »wundervollen Menschen, die im National Health Service arbeiten« gewidmet hat. Er ist am 1. Januar 2017 seinem Krebsleiden erlegen
Was bleibt ist die Erkenntnis: Die Ungleichheit bewegt sich auf einem dramatisch hohen Niveau. Und es liegen jede Menge guter Ideen auf dem Tisch. Es kommt nun auf politischen Mut und Tatkraft an
Anthony B. Atkinson: Ungleichheit. Was wir dagegen tun können (Aus dem Englischen von Hainer Kober). Klett-Cotta, Stuttgart 2016, 474 S., 26,95 €. − Georg Cremer: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? C.H.Beck, München 2016, 271 S., 16,95 €. − Branko Milanović: Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht (Aus dem Englischen von Stephan Gebauer). Suhrkamp, Berlin 2016, 312 S., 25 €
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!