Joseph Beuys zum 100. Geburtstag
Ein Bürgersteig in der Düsseldorfer Altstadt, November 1965: Vor der Galerie Schmela sammelte sich eine Menschentraube; die Eingangstür war verschlossen. Durch ein Schaufenster konnte man in den hell erleuchteten Innenräumen den Künstler Joseph Beuys sehen. Sein Kopf war mit einer Mischung aus Honig und Blattgold geschminkt. Er trug einen toten Hasen auf dem Arm umher und erläuterte ihm die eigenen Zeichnungen, Assemblagen und Filzobjekte, die hier ausgestellt waren. Wie ein Puppenspieler erweckte Beuys das Tier zum Leben, beide schienen intensiv im Gespräch zu sein. Nach über einer Stunde Rundgang setzte sich der Künstler, noch immer mit dem Kadaver im Arm, auf einen Hocker. Dann wurde die Galerie für die Besucher geöffnet.
Selbst wer diese Aktion nur aus verwackelten Schwarzweißfilmen kennt, kann sich ihrer Wirkung kaum entziehen. Der Titel »wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt« klang ja nach dadaistischem Humor, als wolle sich ein Künstler lustig machen über das Publikum, dem man alles lange erklären muss, und das doch nichts versteht.
In Wahrheit hatte Beuys unter der Narrenkappe dieser Konstellation seine Auffassung von Kunst vorgeführt. Der mit dem toten Hasen innig ins Gespräch vertiefte Künstler – das war ein so rätselhafter wie unvergesslicher Anblick. Die Bilder und Skulpturen waren nur noch Requisiten einer Séance zwischen Mensch und Tier: die mögliche spirituelle Dimension dieser Beziehung wurde plötzlich spürbar.
Joseph Beuys wollte weg vom ausgestellten Objekt, hin zu einer prozesshaften, alles überschreitenden Kunst. Die Ressourcen der Natur zapfte er ebenso an wie die Wissensbestände älterer Kulturen. Er trat als »Schamane« auf, als Mittlerfigur zwischen den Menschen und schwer fassbaren äußeren Kräften. Der Transfer war kein Selbstzweck: Er sollte der Erneuerung des Nachkriegsmenschen dienen, den Beuys als erlösungsbedürftig ansah – desillusioniert, gefangen zwischen Fernsehkrimi, Lebensversicherung und Autobahnraststätte.
Nicht jeder war allerdings bereit, auf solche mystischen Experimente einzusteigen. Zu Lebzeiten wurde der »Schamane« mit Hut und Anglerweste der Scharlatanerie verdächtigt. Auch in der linken Kulturszene war vielen ein Habitus suspekt, der auf eine neue Kunstreligion hinauszulaufen schien.
In der heutigen Debatte wird Beuys verstärkt mit politischen Argumenten kritisiert – sein Hang zum Geisterhaften habe ihn taub gemacht für Untertöne, die eher faschistisch als schamanistisch seien. Vor allem seine unkritische Übernahme der Philosophie Rudolf Steiners mit ihren völkischen Elementen wird ihm vorgeworfen. Während sein Werk unbestritten zum Kanondes 20. Jahrhunderts gehört, zwingt einen die Figur des künstlerischen Heilsbringers noch immer zur Positionierung.
Joseph Beuys war ein Kaufmannssohn, er wurde am 12. Mai 1921 in Krefeld geboren; seine Kindheit und Jugend verbrachteer in der knapp 60 Kilometer entfernten niederrheinischen Stadt Kleve. ImAlter von 20 Jahren ging er begeistert in den Kriegsdienst, als Bordfunker im Kampfflugzeug, sein Ausbilder war der spätere Tierfilmer Heinz Sielmann. 1944 stürzte seine Maschine über der Krim ab, der Pilot starb. Sicher ist, dass Beuys verletzt überlebte; ungesichert ist der Wahrheitsgehalt der von ihm später verbreiteten Erzählung von den Tataren, die ihn mit Filz gewärmt und seine Wunden mit Fett versorgt haben sollen.
Die sogenannte Tatarenlegende zeigt in jedem Fall Beuys' Drang zur Mythologisierung: Aus der schmutzigen Realität eines Angriffskrieges, an der er als Wehrmachtsoldat beteiligt war, wird eine entrückte Geschichte über Kollaps und Regeneration. Ganz nebenbei ließen sich hier schon Grundzüge seiner späteren Kunst erkennen: Die »Heilung« des an der anonymen Gewalt der Moderne leidenden Menschen kommt von jenseits der technischen Zivilisation.
Ab 1946 studierte Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie. Die Hochschule sollte ein Hauptschauplatz seines Lebens werden. Ab 1949 war er Schüler des Bildhauers Ewald Mataré, der vor allem für seine Tierskulpturen bekannt war. Von Anfang an spielten Tiere in Beuys' Werk eine große Rolle – zunächst in hunderten absichtsvoll »primitiven« Zeichnungen und Aquarellen, in denen die organische Welt in Momenten der Metamorphose festgehalten wird.
Was in den Zeichnungen in Umrissen zum Ausdruck kam, nahm bald räumliche Dimensionen an: Beuys tastete sich an eine neue Form der Plastik heran, in deren Mittelpunkt nicht mehr die konzentrierte geschlossene Form stand. Stattdessen bot sie Settings voller rätselhafter Objekte, deren Beziehung untereinander auf anregende Art unklar war und auf ein größeres Geschehen hinzudeuten schien.
1961 übernahm er den Lehrstuhl für »monumentale Bildhauerei« an der Düsseldorfer Akademie. In den Jahren darauf erweiterte er Stück für Stück sein Repertoire – weg von den klassischen Gattungen, hin zu einer performativen, in alle Richtungen fließenden Kunst: 1963 veranstalte er an der Akademie das erste Fluxuskonzert, ab 1965 veröffentlichte er regelmäßig Multiples (kleine Auflagenobjekte), im gleichen Jahr begann mit dem »toten Hasen« eine Reihe von sogenannten Aktionen.
Kunst und direkte Demokratie
1967 gründete Beuys unter dem Eindruck der Studentenrevolte die »Deutsche Studentenpartei«. Er wollte sie als »Metapartei« verstanden wissen; einer verblüfften Öffentlichkeit erklärte er: Es sei die größte Partei der Welt, »aber die meisten Mitglieder sind Tiere«. Diese Gründung zeigt modellhaft, wie Beuys politische Themen in Angriff nahm: Er kombinierte etwas Konkretes, Praktisches (eine Partei) mit einer utopisch-märchenhaften Fantasie (Tiere machen Politik). Mit dieser Methode setzte er fortan traditionelle Institutionen unter Veränderungsdruck.
Zum Beispiel die eigene Hochschule: Im Herbst 1971 zettelte Beuys eine Revolte gegen die Düsseldorfer Akademie an. Er kritisierte deren Zugangsregeln als elitär; er wollte sie nicht länger mittragen und stattdessen alle Bewerberinnen und Bewerber pauschal aufnehmen. Plötzlich war die Klasse Beuys auf 400 Studierende angewachsen. Zusammen mit einigen von ihnen besetzte er das Sekretariat, um die Aufnahme zu erzwingen. Der Konflikt mit der Hochschulleitung spitzte sich über Wochen zu. Schließlich wurde Beuys 1972 vom Minister Johannes Rau entlassen. Das Ereignis kommentierte Beuys künstlerisch mit den Worten »Demokratie ist lustig«.
Wohl keine »Institution« wurde von Beuys so ausdauernd und liebevoll strapaziert wie die documenta. Seit der Premiere 1955 hatte sich die alle fünf Jahre in Kassel stattfindende Ausstellung zu einem Schaufenster der Gegenwartskunst entwickelt. Joseph Beuys machte aus der klassischen Kunstschau eine barrierefreie Dauerkonferenz für eine neue Gesellschaft, in deren Zentrum der permanent anwesende Künstler stand: provozierend, konfrontierend, debattierend.
Die Reihe begann auf der documenta 5 im Jahr 1972, wo Beuys ein »Büro für direkte Demokratie« eröffnete. 100 Tage lang diskutierte er mit Besuchern über Volksherrschaft, Bildungsreform und Feminismus. Fünf Jahre später auf der documenta 6 installierte er im Museum Fridericianum eine »Honigpumpe am Arbeitsplatz«, die als Leitmetapher für weitere hitzige Debatten diente. Die documenta 7 im Jahr 1982 wurde schließlich zum Kick-Off-Event für seine bekannteste »Soziale Plastik«: 7.000 Eichen sollten in Kassel neu angepflanzt werden, und das neu erwachte grüne Bewusstsein verstärken, unter dem Motto »Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung«.
Zu diesem Zeitpunkt war Beuys längst eine Berühmtheit geworden: In der Talkshow von Alfred Biolek erklärte er seinen Kunstbegriff und in der Musiksendung »Bananas« schmetterte er mit einer Rockband den Protestsong Sonne statt Reagan. Beuys' Name stand jetzt für einen scheinbar universellen humanistisch-kreativen Impuls, der durch alle Medien übermittelt werden könnte.
Das Pop-Phänomen
Schon immer war er ein Meister des Slogans gewesen. Sätze wie »Wer nicht denken will fliegt raus«, oder »Mit dummen Fragen fängt jede Revolution an« gehören zu seinem Werk wie die großen Rauminstallationen. Eine dieser Parolen schien den ganzen Beuys-Impuls zusammenzufassen, sie wirkte wie ein Startschuss für eine neue Epoche: »Jeder Mensch ist ein Künstler«.
Gemeint war: In einer Welt ohne Gott geht die Schöpferrolle auf den Menschen über. Jeder und Jede kann kreativ beteiligt sein an einer neuen, sich in Schüben ständig transformierenden Gesellschaft. Der Künstler gibt damit seine Rolle als privilegierter Schöpfer (»Genie«) auf. Er wird jetzt gebraucht als jemand, der den Menschen ihre Möglichkeiten bewusst macht – als Provokateur.
Am 23. Januar 1986 starb Joseph Beuys, drei Monate später kam es in einem sowjetischen Atomkraftwerk zum Super-GAU. Beuys hatte Die Grünen mitbegründet, eine Partei, die weniger fortschrittlich als bewahrend argumentierte. Im Rückblick war Tschernobyl als Menetekel des technischen Fortschritts vielleicht eine Vorschau auf das 21. Jahrhundert, eine Zeit der Krisen. Kriege, Terroranschläge, Finanzkrise, Migration, Corona-Pandemie, Klimawandel – wir kommen nicht dazu »die Schöpfung zu vollenden« (Beuys), weil wir damit beschäftigt sind, unsere Fähigkeit zur Resilienz zu trainieren.
Es spricht für die Weite und Komplexität von Beuys' Denken, dass man auch zu diesem Thema einiges in seinem Werk findet. »Zeige deine Wunde«, mahnte der Künstler, das sei der Anfang jedes Heilungsprozesses. Eine Arbeit aus dem Jahr 1962 besteht aus einem Küchenmesser, das an der Spitze mit einem Pflaster umwickelt wurde, Titel: »Wenn Du Dich schneidest, verbinde nicht den Finger, sondern das Messer«.
Als Person wird Beuys wohl immer »umstritten« bleiben. Sein messianischer Ton weckt heute Misstrauen, und ja: Sein Umgang mit dem Nationalsozialismus war nicht offensiv-aufklärerisch sondern eher implizit-mythisierend. Er besuchte Kameradentreffen, und unter seinen Mitstreitern finden sich auch Alt-Nazis.
An der Relevanz und der Wirkung seiner Gedanken, Bilder und Räume ändert das wenig. Sein Einfluss ist 35 Jahre nach seinem Tod noch immer spürbar, innerhalb der zeitgenössischen Kunst und außerhalb. Selbst die Widersprüche, in die sich unsere ebenso hedonistische wie hochsensible Kultur verstrickt hat, lassen sich mit Bildern von Joseph Beuys beschreiben: Was würde eigentlich die Partei der Tiere dazu sagen, dass ein toter Hase für eine Performance missbraucht wird?
Neue Literatur: beuys 2021. 100 jahre joseph beuys (hg. von Eugen Blume und Catherine Nichols für das Land Nordrhein-Westfalen). 384 S., 48 € – Klaus Staeck/Gerhard Steidl (Hg.): Beuys in America. 224 S., 38 € – Klaus Staeck (Hg.): Joseph Beuys: Honey is flowing in all directions (Fotografien von Gerhard Steidl). 104 S., 34 € – Klaus Staeck/Gerhard Steidl (Hg.): Joseph Beuys: Das Wirtschaftswertprinzip. 192 S., 38 € – Joseph Beuys: Periphery Workshop. documenta 6, 24–30 June 1977 (Mit Text und Fotografien von Klaus Staeck und Gerhard Steidl). 112 S., 38 € – Klaus Staeck/Gerhard Steidl: Beuys Book. 736 S., 45 € – Harald Kunde (Hg.): Joseph Beuys. Intuition! Dimensionen des Frühwerks 1946–1961. 200 S., 38 € – Mario Kramer: Joseph Beuys. Das Kapital Raum 1970–1977. 240 S., 40 €. Alle Bücher bei Steidl, Göttingen 2021.
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