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Jenseits des Kapitalismus

Piketty spannt den ganzen Bogen von den großen Erfolgen, über die Defizite bis zum mitreißenden Zukunftsprojekt. Das kommt sehr gelegen, denn die interessegeleiteten Fantasien des Neoliberalismus mit ihrer Heiligung des Marktes und dessen angeblich moralischer und technischer Überlegenheit über den freiheitsgefährdenden Staat und seine öffentlichen Güter prägen unverdrossen Denken und Handeln in Politik, Medien und Gesellschaft. Sie sind zwar durch die jüngste Serie historischer Katastrophen ein weiteres Mal grandios widerlegt worden, wirken aber heimlich oder offen als immer noch wirksame Denksperre gegen die wirklich tiefgreifenden sozialökonomischen und ökologischen Reformen, die seit Langem überfällig sind. Es waren jüngst sehr unterschiedliche Katastrophen, die das tatsächliche Scheitern des neoliberalen Glaubens auf jeweils spezielle Weise vorgeführt haben. Dieses Scheitern enthielt jedes Mal auch schon entscheidende Wegweisungen für bessere Alternativen. Die Weltfinanzkrise und ihre Folgen 2008 haben die verheerenden Defizite des Marktes scharf umrissen und bloßgelegt, gerade in seiner finanzkapitalistischen Variante mit ihren vermeintlich perfekten Risikopolstern mehr denn je. Der Staat stand wie immer als zuverlässiges soziales Schutzschild der Gesellschaft bereit, um am Ende die schlimmsten Schäden zu reparieren. Die immer noch unbeherrschte Klimakrise macht täglich sichtbar, wie unterregulierte Märkte ganze Gesellschaften in den Abgrund reißen können; und nun lenkt der große Spiegel der Corona-Pandemie unseren Blick aus ganz unerwarteter Richtung wiederum auf den Staat und seine öffentlichen Güter als Retter in der Not. Dabei zeigen sich auch die wahren Kosten jenes ideologischen Marktvertrauens, das in den Zeiten guter Konjunktur lebenswichtige öffentliche Güter wie den Gesundheitssektor der Logik von Kostensparen und Gewinn um jeden Preis ausgesetzt hat. Diese Krise entlarvt gleichzeitig auch die große Illusion von den Segnungen der marktgetriebenen Globalisierung, die bisher als Wunderwaffe gegen fällige Regulierungen und für pauschales Marktvertrauen sowie problematische Sozialkürzungen zum Einsatz kam. Nun ist ein grundlegender Neuanfang in der politischen Gewichtung der Beziehungen zwischen öffentlichen Gütern, sozialer Sicherheit und regulierten Märkten an der Zeit, ein neues Verständnis von öffentlichen Investitionen und Staatsschulden eingeschlossen.

Wir waren da ja tatsächlich schon einmal weiter. Denn schon einmal hatten drei vorausgegangene und miteinander verbundene Katstrophen – Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Weltkrieg – das Gewissen der Gesellschaften geschärft, ihre Vernunft angeregt, die Furcht vor der drohenden Wiederholung genährt und drei Jahrzehnte lang einer beispiellosen sozialdemokratischen Reformpolitik in Europa den Weg bereitet. Viele Gesellschaften in Europa wurden sozialdemokratisch umgebaut. Dieser Erfolg veranlasste den höchst einflussreichen liberalen Meisterdenken Ralf Dahrendorf 1983 zu einer strengen Abmahnung: Das »sozialdemokratische Jahrhundert« müsse nun ein Ende finden, denn mit all den Reformen sei das soziale Soll übererfüllt, nun sei der Liberalismus wieder dran, wenn die Freiheit nicht unter die Räder kommen und die Wirtschaft nicht Schaden leiden soll. Er traf damit durchaus einen liberalen Nerv. In diesen Jahrzenten war an die Stelle der Alleinherrschaft des Kapitalismus ein neuer Typ von Gesellschaft getreten, Thomas Piketty nennt ihn »die sozialdemokratische Gesellschaft«. Die Logik des Kapitals als herrschende Ordnung wurde in ihr vielfältig ersetzt durch ein »Mischsystem« aus »sozialer Logik« und gesellschaftlich domestizierter Kapitallogik. Neben der Ausweitung der Sozialpolitik und einem die Wirtschaft partiell demokratisierenden Arbeitsrecht mit teils weitreichender Mitbestimmung wurde in vielen Ländern eine starke Progressivsteuer üblich. Sie schuf ein gutes Stück Umverteilung und reduzierte die Ungleichheit der Einkommen demonstrativ. Diese, von ihren liberalen Gegnern als persönliche Bevormundung des Einzelnen »von der Wiege bis zur Bahre« verächtlich gemachte Gesellschaft hat in Wahrheit große Träume der europäischen Arbeiterbewegung verwirklicht. Dahrendorfs als Rüge gemeinte Liste der sozialdemokratischen Erfolge war am Ende der 80er Jahre tatsächlich lang, sie ist danach noch länger geworden, wurde dann allerdings zum Teil wieder gefleddert, in den Jahren, in denen die neoliberale Gegenbewegung im Namen der Zwänge der Globalisierung Macht und Einfluss gewonnen hatte.

Die »sozialdemokratische Gesellschaft« ist eine Soziale Demokratie im Werden. Sie hat dem neoliberalen Gegenschlag in der Substanz standgehalten. Denn in den Kernbereichen der sozialen Sicherung und Förderung, die die konkrete Lebenswirklichkeit der einzelnen, im Grunde aller Menschen verändern, sind die skandinavischen Länder, Deutschland und viele andere Staaten Europas dem sozialdemokratischen Ursprungsziel der sozialen Grundrechte für alle in großen Schritten sehr nahegekommen. Für die Sicherung der Menschenwürde und der materiellen Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Lebens aller sind die öffentlich weniger sichtbaren und anscheinend unspektakulären, tatsächlich aber bahnbrechenden Fortschritte im Arbeitsrecht von gleichrangigem Gewicht. Denn mit ihnen werden die Menschen in der Arbeitswelt tendenziell aus Objekten der Willkür der Vollstrecker der Kapitallogik zu Subjekten, zu Trägern von Grundrechten, deren Würde dem Kapital Grenzen setzt. Die Tarifbeziehungen zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften verschaffen der Demokratie Eintritt in die Welt der Wirtschaft. Und in den großen Unternehmen und im Betrieb haben die Vertreter der Arbeitnehmer Sitz und Stimme bis hin zum Vetorecht.

Bezogen auf die soziale Situation lässt sich also bilanzieren, dass das »Jahrhundert der Sozialdemokratie« zwar zu einer ansehnlichen Sockelgleichheit im Bereich der grundlegenden sozialen Güter geführt hat, die allen garantiert sind, aber noch nicht zu einer gerechten Annäherung der Einkommen und Vermögen. Im Gegenteil, vom schon erreichten Maß der Gleichheit hat sie sich unter dem gemeinsamen Druck von Neoliberalismus und unterregulierter Marktglobalisierung wieder weiter entfernt als je zuvor. Die sozialdemokratischen Jahrzehnte haben im Übrigen der Welt vor Augen geführt, dass – trotz der als Warnung angeführten wirklichen, aber häufiger lediglich vermeintlichen »Zwänge« der Globalisierung – gerade die am nachhaltigsten »sozialdemokratisierten« Länder über die effektivsten Volkswirtschaften verfügen. Soziale Demokratie rechnet sich also sogar. Sie schafft relativ gut integrierte Gesellschaften sowie trotz der zahlreichen neuen Herausforderungen (hohe Flüchtlingszahlen und die populistische Konjunktur) im Kern stabile Demokratien. Allerdings setzten die Anläufe zur Bewältigung der Klimakrise, wie Piketty anmahnt, spät ein, und wurden bislang nur halbherzig vorangetrieben. Anhaltend zäh bleibt das Ringen zwischen den Interessenten der Kapitallogik und den Anwälten der sozial-ökologischen Nachhaltigkeit.

Diese widerspruchsvolle Mischung aus ansehnlichen Erfolgen der Sozialdemokratie, zeitweiligen Rückschritten und fortwirkend zähem Ringen beim Kampf gegen die Dominanz der Kapitallogik wird von linken Intellektuellen und Politikern, auch von heutigen Jungsozialisten gern mit der stereotypen Formel abgeurteilt: »kein Wunder, all die vielen kleinen und großen Reformen haben ja nur ›den Kapitalismus‹ ein klein wenig erträglicher gemacht, und damit sein Leben verlängert, statt ihn endlich zu überwinden, wie es der konsequente Sozialismus einst erstrebte«. Der alte Mythos lebt weiter, als stünde am anderen Ufer des Kapitalismus die Erlösung durch das ganz Andere, das leuchtende Gegenbild zum Kapitalismus bereit, aber die Sozialdemokratie wolle es aus Verblendung oder Verdrossenheit nur nicht fassen. Als fehlten ihr zum echten »Anti-Kapitalismus« nur die Kraft und der Mut. Pikettys neues Buch Kapital und Ideologie räumt mit dieser Fiktion gründlich auf. Zum einen, indem es aufzeigt, wie sehr die jeweils herrschende Form der politischen Ökonomie von der dominanten Kultur und ihren Vorstellungen von Eigentum und Gleichheit abhängt, von den akzeptierten Normen und Werten, vor allem dem hingenommenen Maß an Macht des Privateigentums und ungleicher Verteilung des Reichtums. Zum anderen macht er aber auch deutlich, welche Irritationen im linken Diskurs jener unbestimmte Begriff von »Kapitalismus« auslöst, der die Illusion nährt, allein in der völligen Abschaffung von Privateigentum und Markt liege die Erlösung von den gesellschaftlichen Übeln. »Kapitalistisch« sind ja nicht Privateigentum und Markt von Hause aus, sondern nur wenn sie sich der gesellschaftlichen Einbindung entziehen und aus Dienern zu Herren über die Gesellschaft werden. Um also das zu überwinden, was am Kapitalismus »kapitalistisch« ist, geht es allein um die wirksame gesellschaftliche Kontrolle beider. Dieses, in der Tradition des Demokratischen Sozialismus wohlvertraute Konzept wird vom Verfasser des Kapital im 21. Jahrhunderts mit überzeugenden Argumenten neu in Stellung gebracht. Sein Ziel ist ein »partizipativer Sozialismus«, dessen wichtigsten Mittel eine stark progressive Besteuerung des Reichtums und der Reichen sowie die Ersetzung des großen Privateigentums an den Produktionsmitteln durch »gesellschaftliches Eigentum« sind. Letzteres besteht aus einer Kombination von öffentlichem Eigentum (etwa durch Kommunen) und gesellschaftlichem Eigentum in der Form einer »Beteiligung der Beschäftigten an der Leitung der Unternehmen«, also Mitbestimmung oder Staatsbeteiligung. Hinzu kommt »Eigentum auf Zeit«, das in der Gesellschaft zirkuliert: »die reichsten Privateigentümer übertragen jedes Jahr einen Teil ihres Besitzes der Allgemeinheit«, nämlich durch Steuern, um Projekte zur Förderung der Gleichheit zu finanzieren, z. B. »jedem jungen Erwachsenen eine bestimmte Summe Geld zu schenken« oder etwas sozialökologisch Nachhaltigeres, das den schlechter Gestellten zugutekommt (warum nicht öffentliche Güter?). Hinzukommen muss die konsequente Triade aus deutlich progressiven Einkommen-, Vermögen- und Erbschaftsteuern. Alles Bausteine einer ausgebauten Sozialen Demokratie. Ein Programm, das zeigt, wie sich das scheinbar »Kleine«, gute Reformen, mit dem wirklich »Großen«, der Überwindung der Herrschaft des Kapitals, verbinden lässt. Die eingangs skizzierten vier jüngsten Katastrophen sollten Grund und Motivation genug sein, um die nächsten Schritte in diese Richtung zu gehen, das ist notwendig möglich. Mehrheiten für eine Koalition der linken Mitte böten für diesen Weg eine gute Voraussetzung.

Thomas Piketty: Kapital und Ideologie. C.H.Beck, München 2020, 1.312 S., 39,95 €.

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