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Jüdische Kunst heute Jenseits von Zuschreibungen?

Eine Pressemitteilung, die am 18. November 2020 in meinem elektronischen Posteingang landete, brachte mich zum Nachdenken. Sie kündigte die Auslobung eines vom Jüdischen Museum Berlin und dem Förderprogramm DAGESH der Leo Baeck Foundation vergebenen Kunstpreises an. Er soll, so die Mitteilung, Kunstwerke auszeichnen, »die sich mit jüdischen Gegenwartspositionen und -erfahrungen sowie mit Fragen zur Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels auseinandersetzen«. Die mit 7.000 Euro dotierte Auszeichnung werde 2021 im Rahmen von »TRANSITIONS. Festival Jüdischer Gegenwartskünste« mit einem Festakt im Jüdischen Museum Berlin gewürdigt, hieß es weiter.

Als ich die Mitteilung las, fragte ich mich: Was genau sind »jüdische Gegenwartskünste«? Kann etwas an einem Kunstwerk, egal welcher Gattung, jüdisch sein? Haben wir es womöglich mit einer Zuschreibung, einem marktgängigen Label zu tun? Oder gibt es zwar jüdische Künstlerinnen und Künstler, aber keine jüdische Kunst? Im Folgenden möchte ich in diese Debatte einführen und wichtige Positionen vorstellen. Dies tue ich zunächst anhand historischer Referenzen. Anschließend kommen einige Protagonisten des gegenwärtigen Diskurses zu Wort. Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt auf Bildender Kunst und Literatur, die in Deutschland entsteht.

»Von jüdischer Kunst im gleichen Sinne zu sprechen wie von irgendeiner anderen Kunst, ist nicht ohne weiteres möglich.« Das schrieb der Kunsthistoriker Kurt Freyer im Jahr 1927. Die Kuratorin Inka Bertz zitiert ihn im Katalog zur Ausstellung Das Recht des Bildes. Jüdische Perspektiven in der modernen Kunst, die 2003/04 im Kunstmuseum Bochum gezeigt wurde. Bertz erläutert: »Das Phänomen ›Jüdische Kunst‹ verstand sich nicht von selbst. Das war 1927 so, und es ist – auf andere Weise – auch heute noch so. ›Jüdische Kunst‹ bedurfte, so scheint es, immer theoretischer Begründungen und empirischer Nachweise.«

An den Beginn eines möglichen Kanons jüdischer Kunst im deutschsprachigen Raum stellt Bertz den Maler Moritz Daniel Oppenheim (1800–1882). Er bekannte sich stets zu seinem Judentum und trat nicht, wie damals oft üblich, zum Christentum über, um seine Karrierechancen zu verbessern. In Frankfurt am Main stieg Oppenheim zu einem geachteten Porträtmaler auf. Er porträtierte Mitglieder der Familie Rothschild, aber auch Dichter und Intellektuelle wie Heinrich Heine und Ludwig Börne.

Oppenheim setzte zudem den jüdischen Alltag seiner Zeit ins Bild. »Moritz Daniel Oppenheims Bekanntheit beruhte vor allem auf seiner seit 1866 in mehreren Auflagen erschienenen Mappe ›Bilder aus dem altjüdischen Familienleben‹«, schreibt Bertz. Die Motive hatten, so Bertz, »große Bedeutung für die visuelle Kultur des jüdischen Bürgertums in den 70er und 80er Jahren (des 19. Jahrhunderts – Anm. d. Verf.).« »Hier werden mit Mitteln der historisierenden Genremalerei beinahe klischeehaft bürgerliche Werte wie Frömmigkeit, Familiensinn, Bildung und Respektabilität in den Vordergrund gerückt«, ist dazu auf der Webseite des Jüdischen Museums Frankfurt zu lesen. Und das geschieht aus einer ausdrücklich jüdischen Perspektive.

Inka Bertz macht deutlich, wie sehr sich der Diskurs in den 1920er-Jahren gewandelt hatte: »Die jüdische Kunst hatte sich vom nationalen Projekt emanzipiert und war zu einer Angelegenheit des einzelnen Künstlers und des einzelnen Rezipienten geworden.« Sie zitiert eine Aussage des Künstlers Marc Chagall, die 1922 in der Zeitschrift Das Kunstblatt zu lesen war: »Es hat eine japanische, eine ägyptische, persische, arabische, griechische Kunst gegeben. Doch hat zugleich mit der Renaissance ein Aussterben der nationalen Kunst begonnen (einer der banalsten Gedanken). (…) Es treten Künstler auf, Individuen, dieses oder jenes Staatsbürgertums, Geburtsortes (o du, mein seliges Witebsk).« Chagall beharre, so Bertz, auf seiner Individualität und wolle sich nicht nach Nationalitäten kategorisieren lassen. Angesichts seiner Kunst, die oftmals die jüdische Lebenswelt seiner Geburtsstadt Witebsk beschwört, mag das erstaunlich klingen. Chagalls Haltung ist ein eindrückliches Beispiel für die Ablehnung von außen herangetragener Zuschreibungen.

Der Medientheoretiker Martin Roman Deppner zeigt im Bochumer Ausstellungskatalog eine »verborgene Spur jüdisch inspirierter Kunst« auf. Verborgen ist sie, weil die Kunst, über die Deppner spricht, nicht vordergründig jüdische Symbolik und, wie er schreibt, »jüdische Passion« zum Gegenstand hat. Deppner führt aus: »Die Frage nach einer verborgenen Spur jüdischen Denkens in den Künsten der Gegenwart steht vor dem Problem, daß es zwar viele wirkungsvolle jüdische Künstlerinnen und Künstler in der Kunst des 20. Jahrhunderts gibt, nicht aber einen offen darüber ausgebreiteten Diskurs (...).« Stellvertretend nennt er etwa Mark Rothko, Lee Krasner, Sol LeWitt, Donald Judd und Richard Serra und stellt unter anderem fest, dass »sie sich stilistisch nicht auf einen Nenner bringen lassen (...).«

Unterschiede betonen: Stimmen zur Gegenwart

Wie gestaltet sich die Debatte um jüdische Kunst heute? Nicht umsonst stieß eine von DAGESH verfasste E-Mail meine Überlegungen zu dieser Frage an. Das 2016 zunächst unter dem Dach des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks (ELES) eröffnete Künstlerförderprogramm hat in den vergangenen Jahren einen relevanten Diskursraum für junge jüdische Künstler aller Disziplinen geschaffen. So veranstalteten ELES, DAGESH und das Literaturhaus Berlin im Dezember 2019 ein Verquere Verortungen betiteltes »Festival Jüdischer Literaturen«.

Ebenfalls 2019 organisierten ELES und DAGESH in Berlin die Gruppenausstellung Looking Back – Thinking Ahead. Zu den sehr diversen biografischen, künstlerischen und weltanschaulichen Prägungen der insgesamt neun beteiligten Künstler heißt es in der Ausstellungsbroschüre: »Was passiert – ästhetisch, politisch, künstlerisch – wenn Akkulturation auf Desintegration treffen, Weißensee auf Bezalel, postsowjetisch auf israelische Künstler*innen?«

Die Autorin und Kunstkritikerin Hili Perlson betont in der Broschüre: »Obwohl die jüdische Identität in gewisser Weise einen gemeinsamen Nenner darstellt, liegt der kuratorische Fokus aber gerade auf dem Hervorheben der Unterschiede (…).« Perlson weist auf die Rolle der Zuschreibungen hin, mit denen jüdische Künstler oft konfrontiert sind: »Die Definition durch den Außenblick eröffnet ein komplexes Spannungsfeld, das die Künstler*innen dieser generationsübergreifenden Ausstellung mit einer Vielzahl von Praktiken reflektieren.«

Kuratiert wurde die Ausstellung von Daniel Laufer. »Mir war es wichtig, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen«, erzählt er. Laufer betreut das DAGESH-Förderprogramm als Kurator und ist darüber hinaus auch als Künstler aktiv. Bei dem Programm gehe es um die jüdische Perspektive auf zeitgenössische Kunst – und nicht um Zuschreibungen von außen oder die Verwendung jüdischer Symbole. Laufer präzisiert: »Es geht mehr vom Individuum aus.« »Man muss auf so eine Fremdzuschreibung reagieren, und da kann man nur offensiv reagieren in der Selbstbestimmung«, erläutert er den Ansatz.

Der Künstler Leon Kahane nahm mit zwei Arbeiten an der Ausstellung Looking Back – Thinking Ahead teil. Beide Werke befassten sich mit der Weinrebe als biblischem Symbol Israels. Das Jüdische sei für ihn als Künstler und als Individuum ganz wichtig, sagt Kahane. In seiner künstlerischen Arbeit spiele das Jüdischsein eine Rolle. Sich der Zuschreibung, ein jüdischer Künstler zu sein, radikal zu entziehen, funktioniere ohnehin nicht. Kahane betont: »Jüdisches besteht nicht nur aus Zuschreibungen.« Es sei auch etwas Reales.

Jüdische Kunst schaffe es, Spirituelles mit Modernem zu verbinden, meint Kahane. Es gebe einen starken jüdischen Einfluss in der Kunst. Nicht umsonst seien Konzeptkunst oder abstrakte Kunst sehr stark von jüdischen Künstlern geprägt gewesen. Es seien schließlich »Menschen, die gewohnt waren, abstrakt zu denken«. Die Abstraktion sei etwas, was im Judentum fundamental ist, macht Kahane deutlich. »In jüdischen Traditionen oder Riten kann ich sehr viel Inspiration für meine Arbeit rausholen«, resümiert er. Auf einer philosophischen Ebene funktioniere das sehr gut.

Einen Versuch, jüdische und nichtjüdische Positionen miteinander ins Gespräch zu bringen, unternahm im Herbst 2020 die Frankfurter Ausstellung Identität. Marc Grünbaum, Kulturdezernent der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, betont in der Ausstellungspublikation das trotz aller biografischer Unterschiede Verbindende der Künstler: »Sie alle eint eine ästhetische Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und ihr Verortetsein in der Welt – gemeinsame Erfahrungen, Überschneidungen und Grenzen werden in den Arbeiten an einem jüdischen Ort in der Ausstellung nun offengelegt.« Auf den Ort, das Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum, gingen etliche Künstler mit ihren Arbeiten ein. Er bildete eine entscheidende Klammer der Ausstellung. Den Organisatoren ging es nicht um eine festgefügte Definition jüdischer Kunst. »Die Vielstimmigkeit und Pluralität von Identität(en) soll stellvertretend in den Arbeiten der 18 Künstler*innen erfahrbar werden«, schreibt Grünbaum vielmehr.

Nicht umsonst ist hier die Rede von »Identitäten« und an anderer Stelle von »jüdischen Gegenwartskünsten«. Auch das schon erwähnte »Festival Jüdischer Literaturen« formulierte seinen Titel bewusst im Plural. Im Vorwort zum dazu erschienenen Sonderheft des Magazins Jalta heißt es: »Dieser Plural markiert eine der zentralen Hypothesen, mit denen wir uns an die Arbeit machten – dass es nämlich keine einheitliche jüdische Literatur gibt, sie vielleicht auch gar nicht geben kann.«

Die Autoren des Vorworts zeigen sich skeptisch bezüglich des Adjektivs »jüdisch«. Sie formulieren dazu mehrere Fragen: »Ist es die Identität des Autors oder der Autorin? Ist es die Thematik? Wenn es die Thematik ist, die einen Text jüdisch macht, bedeutet das dann, dass es auch jüdische Literatur von Nicht-Juden*Jüdinnen gibt bzw. Literatur von Juden*Jüdinnen nicht jüdisch ist, wenn sie sich nicht mit jüdischen Themen befasst? Was sind jüdische Themen eigentlich und was sind keine jüdischen Themen? Und wohin führt uns das Adjektiv – in beengende Zuschreibungen, (un-)brauchbare Traditionslinien oder gar in eine bessere Zukunft?«

Der Schriftsteller, Verleger und Übersetzer Jo Frank, zugleich Geschäftsführer von ELES und DAGESH, bezweifelt, ob die Diskussion überhaupt fruchtbar sein kann: »Damit, dass ich gesagt habe, dass etwas jüdische Kunst ist, habe ich noch nicht viel gesagt.« »Was macht man mit dieser Kategorie?«, fragt er. »Jüdisch sein heißt nicht gleichzeitig gut sein«, betont Frank. Auf dem Buchmarkt sei das Jüdische ein Merkmal, »das einen bestimmten exotischen Fetisch bei den Lesern bedient«.

Auch Julia Grinberg, Olga Grjasnowa und Lana Lux sprachen unlängst über die marktüblichen Zuschreibungen. Am 17. November 2020 trafen sich die Autorinnen zu einer digitalen, vom Jüdischen Museum Frankfurt und dem Hessischen Literaturforum im Mousonturm veranstalteten Podiumsdiskussion. Die jüdische Herkunft eines Autors, sagte Lana Lux, führe häufig dazu, dass es heißt, er oder sie schreibe »jüdische Literatur«. »Wie wenn ich einen Kuchen backe, dann ist es ein jüdischer Kuchen. Es ist egal, was ich backe«, veranschaulichte sie das Dilemma. Auch die Lyrikerin Julia Grinberg fremdelt mit derlei Zuschreibungen: »Ich bezweifle überhaupt, dass Literatur nach nationalen, religiösen oder irgendwelchen Kriterien bestimmt werden muss.«

Wir haben viele, mitunter gegensätzliche Positionen aus Geschichte und Gegenwart kennengelernt. Wenn sie etwas verbindet, dann ist es die Einsicht: »Die« jüdische Kunst oder »die« jüdische Literatur gibt es heute ebenso wenig wie im historischen Rückblick. »Jede Generation arbeitet sich an dem Thema ab«, bemerkt Daniel Laufer richtigerweise. Mit der Benennung im Plural – »Künste« und »Literaturen« – trägt zumindest der gegenwärtige Diskurs der Pluralität der Biografien, Lebensentwürfe, Weltanschauungen und ästhetischen Haltungen von Jüdinnen und Juden Rechnung. Das gilt selbstverständlich auch für Nichtjuden. »Was genau sind ›jüdische Gegenwartskünste‹?«, lautete meine Eingangsfrage. Dass ich sie nicht annähernd eindeutig beantworten konnte, ist ein gutes Zeichen. Denn es zeigt, dass die Debatte weitergeht und – gerade in Deutschland – deutlich an Intensität gewinnt.

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