Menü

© picture alliance / Geisler-Fotopress | Ulrich Stamm/Geisler-Fotopress

Nach der Zeitenwende beginnt das nächste Wegstück Jetzt erst recht

»A week is a long time in politics«, bemerkte einmal der frühere britische Premierminister Harold Wilson. Er brachte auf den Punkt, wie sich plötzlich politische Verhältnisse ändern können – und wie wenig sich manchmal voraussehen lässt, was als Nächstes geschehen wird. Wilsons Satz passt zu den Tagen rund um den 24. Februar dieses Jahres, als Russlands Präsident seinen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun brach und auf einen Schlag die gesamte europäische und internationale Friedensordnung der vergangenen Jahrzehnte in Schutt und Asche legte. Alles kann in kürzester Zeit ganz anders kommen – mit der von Putin verursachten Zeitenwende war genau dieser Fall eingetreten.

Am stärksten bekommen das selbstverständlich die überfallenen Ukrainerinnen und Ukrainer zu spüren. Sie sind es, die mit größter Tapferkeit ihr Land verteidigen; sie sind es, die tagtäglich Flucht und Vertreibung, Verschleppung und »Filtration« erleiden; sie sind es, die fortwährend mit Tod und Vernichtung rechnen müssen.

Aber in unterschiedlichster Weise betrifft die neue Wirklichkeit der Zeitenwende zugleich Milliarden von Menschen auf der gesamten Welt. Keineswegs nur wir hier in Deutschland bekommen die Folgen schmerzhaft zu spüren. Wenn sich heute ein Landarbeiter in Ägypten kaum noch das Brot für seine Familie leisten kann, wenn in ganzen Regionen Hungerkrisen zu befürchten sind, weil Lebensmittel oder Dünger unerschwinglich geworden sind, dann handelt es sich auch dabei um direkte globale Auswirkungen von Russlands zerstörerischem (und zugleich selbstzerstörerischem) Krieg.

Es liegt auf der Hand: Ohne Putins verhängnisvolle Entscheidung, die Ukraine zu überfallen, befände sich die Welt heute insgesamt mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auf einem weitaus besseren und hoffnungsvolleren Entwicklungspfad. In vielen Ländern und Regionen drohen heute die Auswirkungen von Russlands Krieg bestehende Konflikte weiter anzuheizen, neue Zwietracht zu säen und verschärfte Verteilungskämpfe in Gang zu setzen: Rückschritt statt Fortschritt, Macht statt Recht, Unterdrückung statt Freiheit, Regellosigkeit statt Ordnung, Konflikt statt Kooperation, Klimakatastrophe statt technologischer Transformation – das wären die langfristig bestimmenden Merkmale des globalen Daseins, sollte das autokratische, neoimperialistische und zutiefst rückwärtsgewandte »Prinzip Putin« international die Oberhand gewinnen.

Genau das darf auf keinen Fall geschehen. Denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Zur Lösung der entscheidenden Zukunftsfragen – allen voran zur Bewältigung der globalen Klimakrise – brauchen wir mehr friedliche Zusammenarbeit und mehr konstruktives Miteinander. Überhaupt nur im Rahmen einer Ordnung multilateraler Fairness und Kooperation wird es möglich sein, die großen globalen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte zu bewältigen. Und nur dann werden wir auch bei uns im eigenen Land in der Lage sein, dauerhaft günstige Bedingungen für soziale Gerechtigkeit und neuen gesellschaftlichen Fortschritt zu schaffen.

Als eine der großen freiheitlichen Demokratien Europas und der Welt hat daher gerade Deutschland jeden Grund, sich mit aller Kraft für solch eine kooperative internationale Ordnung einzusetzen, in der nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern verlässlich die Stärke des Rechts.

Kein Zweifel, Russlands Krieg erzwingt, dass wir in wichtigen Fragen neu denken, dass wir neue politische Schwerpunkte setzen und auch ungewohnte Wege einschlagen – etwa im Hinblick auf unsere militärische Unterstützung für die Ukraine, unsere Landesverteidigung und unsere Bündnisfähigkeit im Nordatlantikpakt. Gemeinsam mit unseren Partnern und Freunden müssen wir jetzt – und solange wie erforderlich – alles nur irgend Mögliche daransetzen, einen militärischen Sieg Russlands über die Ukraine zu verhindern.

Fortschrittsziele und -vorhaben bleiben bestehen

Aber: Zur neuen Wirklichkeit der Zeitenwende gehört ausdrücklich nicht, dass wir uns nun von unseren wichtigen Fortschrittszielen und Fortschrittsvorhaben aus der Zeit vor dem 24. Februar dieses Jahres verabschieden müssten. Ganz im Gegenteil! Gerade die Ideen, für die wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Wahljahr 2021 eingetreten sind, bleiben auch heute noch die richtigen Wegweiser. Zentral dabei ist das Grundprinzip des Respekts: dass wir nämlich in einer Gesellschaft leben wollen, in der niemand auf andere herabschaut und wir Bürgerinnen und Bürger uns – aller Vielfalt und allen Unterschieden zum Trotz – als Gleiche unter Gleichen wahrnehmen.

In keiner anderen Maßnahme der Bundesregierung kommt dieses Grundprinzip der Anerkennung so sehr zum Ausdruck wie in der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde, die in diesem Monat in Kraft getreten ist. Mehr denn je bin ich überzeugt: Nur eine solidarische Gesellschaft des Respekts ist in der Lage, auch in schwierigen Zeiten zusammenhalten. Und nur eine solche Gesellschaft des Respekts wird auch die Kraft aufbringen, die großen künftigen Aufgaben des 21. Jahrhunderts zu bewältigen.

Gerade deshalb geben die wichtigen Ziele, auf die sich die drei Regierungsparteien vor einem Jahr in ihrer Koalitionsvereinbarung unter dem Motto »Mehr Fortschritt wagen« verständigt haben, auch unter den dramatisch veränderten Umständen in diesem Herbst und Winter weiterhin die richtige Richtung vor.

Zwar scheint jener 24. Februar, als Russland die Ukraine angriff, die bisherige Amtszeit der Bundesregierung auf den ersten Blick in zwei Abschnitte zu teilen. Doch in Wirklichkeit haben unsere Ziele im Lichte von Putins Angriffskrieg jetzt erst recht an Dringlichkeit gewonnen. Diese Einsicht ist wichtig, denn nicht selten bekomme ich seit Russlands Überfall auf die Ukraine die Ansicht zu hören: »Wenn nach der Zeitenwende alles so völlig anders ist, dann stimmen doch eure ganzen Bekenntnisse von davor gar nicht mehr.« Aber genau das trifft eben keineswegs zu!

Ich bin zutiefst davon überzeugt: Gerade angesichts der äußerst schwierigen neuen Lage, die allein Präsident Putin heraufbeschworen hat, wird uns in den kommenden Jahren sehr zugute kommen, dass alle politischen Kräfte, die heute die Bundesregierung tragen, auch schon zuvor die Überzeugung teilten, »dass Deutschland einen Aufbruch braucht«. So ist es bereits im ersten gemeinsamen Sondierungspapier zu lesen, auf das sich die drei späteren Koalitionsparteien am 15. Oktober vorigen Jahres verständigten.

Dort heißt es zugleich: »Die nächsten Jahre sind entscheidend, um Deutschland und Europa zu stärken – für die großen Herausforderungen wie den Klimawandel, die Digitalisierung, die Sicherung unseres Wohlstands, den sozialen Zusammenhalt und den demografischen Wandel. (…) Wir fühlen uns gemeinsam dem Fortschritt verpflichtet. Uns eint, dass wir Chancen in der Veränderung sehen.«

Das gilt weiter – und jetzt sogar noch mehr. Es ist daher aufschlussreich, die damaligen Positionierungen der neuen Regierungskoalition nach einem Jahr noch einmal nachzulesen. Im Licht der dramatischen Entwicklungen in den Monaten danach sind sie überraschend aktuell: Nichts an der damaligen Zeitdiagnose und Haltung ist heute verkehrt. Vor allem wird deutlich, dass sich die neue Bundesregierung von Anfang an aus gemeinsamer Überzeugung als eine in bewegten Zeiten vorwärtsdrängende, veränderungswillige und gestaltende Kraft begriffen hat. Für mich steht fest: Gerade dieses grundsätzlich fortschrittsfreudige Selbstverständnis war die notwendige Bedingung dafür, dass die Bundesregierung in den Monaten der Zeitenwende jederzeit entschlossen und beweglich agieren konnte. Ich will hier nur zwei Beispiele geben, die dies illustrieren.

Fortschritt auf verschlungenen Wegen

Beispiel Energieversorgung: Als neue Regierung haben wir früh die Entscheidung getroffen, uns so schnell wie nur irgend möglich aus der Abhängigkeit von Russland zu befreien. Schon im Dezember 2021 – also drei Monate vor Kriegsausbruch – haben wir uns intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie wir in einem Ernstfall die Versorgung unseres Landes mit Energie sicherstellen können.

Als Putin wenig später tatsächlich seinen Krieg anzettelte, waren wir deshalb sofort handlungsfähig. Pläne für die Diversifizierung unserer Lieferanten und den Bau von Flüssiggasterminals lagen bereits fertig in der Schublade. Sie werden nun energisch in die Tat umgesetzt.

Vorübergehend (und schweren Herzens) haben wir auch Kohlekraftwerke wieder ans Netz genommen. Wir machen möglich, dass die beiden Kernkraftwerke in Süddeutschland im Winter weiterlaufen können. Für Gasspeicher haben wir Mindestfüllstände festgeschrieben – das gab es zuvor merkwürdigerweise nicht. Inzwischen sind diese Speicher schon deutlich besser gefüllt als im vorigen Jahr um dieselbe Zeit.

Zugleich bestärkt die aktuelle Entwicklung unsere Entschlossenheit, die Erneuerbaren Energien noch viel schneller auszubauen und die technologische Modernisierung unserer Industrie noch intensiver voranzutreiben, als es ohnehin geplant war. Deshalb hat die Bundesregierung etwa die Planungsverfahren für Solar- und Windkraftanlagen erheblich beschleunigt. So bereiten wir unser Land jetzt sogar noch besser auf die Zukunft vor, als wir es uns sowieso vorgenommen hatten. Manchmal kommt der Fortschritt auf verschlungenen Wegen.

Beispiel Europa: Immer wieder wurde in der Vergangenheit gefordert, die Europäische Union müsse sich zu einem eigenständig handlungsfähigen geopolitischen Akteur entwickeln. Die Bundesregierung hat in den letzten Monaten hart dafür gearbeitet, dass wir diesem Ziel nun endlich mit großen Schritten näherkommen. Auf Russlands Aggression hat die EU mit Entschlossenheit reagiert und in großem Einvernehmen beispiellos harte Sanktionen verhängt. Diese Sanktionen wirken, jeden Tag ein gutes Stück mehr. Diese in der Zeitenwende gewonnene neue europäische Geschlossenheit ist ein großer Erfolg. Jetzt kommt es darauf an, sie zu bewahren und weiter zu vertiefen.

Es muss uns in Europa gelingen, auch auf denjenigen Gebieten unsere Reihen zu schließen, auf denen wir uns bisher schwergetan haben, gemeinsame Lösungen zu finden. Das betrifft etwa die Migrationspolitik, den Aufbau einer wirksamen europäischen Verteidigung, Europas technologische Souveränität sowie die innere Wetterfestigkeit unserer freiheitlichen Demokratien angesichts autoritärer Herausforderungen.

In meiner Rede an der Prager Karls-Universität am 29. August habe ich zu diesen und weiteren Fragen Vorschläge unterbreitet. Fest steht allerdings schon jetzt: Die Europäische Union ist heute so attraktiv wie nie. Sie öffnet sich für neue Mitglieder und wird sich zugleich reformieren. Auch das sind große Fortschritte – trotz Zeitenwende oder gerade wegen ihr.

Ich will nicht falsch verstanden werden. Keineswegs behaupte ich, Putins verbrecherischer Krieg erweise sich für Deutschland oder Europa nolens volens als eine Art »Fortschrittsmotor«. Dafür sind das Leid, die Not und die Vernichtung viel zu groß, die Russland in der Ukraine mit seinem furchtbaren Krieg anrichtet. Auch wir in Deutschland werden in den kommenden Monaten einen schweren Weg zu gehen haben. Schon jetzt bekommen alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes die Auswirkungen des Krieges zu spüren, vor allem in Form der gestiegenen Preise für Gas, Öl, Benzin, Strom und Lebensmittel.

Die Bundesregierung hat bereits drei milliardenschwere Entlastungspakete auf den Weg gebracht, weitere Maßnahmen werden folgen. Klar ist dabei, dass nicht alle von Putins Angriffskrieg verursachten Probleme mit staatlichen Maßnahmen neutralisiert werden können. Aber ebenso klar ist, dass in Deutschland heute mehr denn je das Motto gelten muss: »You'll never walk alone« niemand wird in dieser ernsten Zeit allein gelassen.

Wir müssen uns also auf ein schwieriges nächstes Wegstück einstellen. Aber wenn wir uns unterhaken und in einer Gesellschaft des Respekts zusammenhalten, dann müssen wir eines mit Sicherheit nicht: uns vor den Jahren nach der Zeitenwende fürchten. Putin hat die große Kraft von Freiheit, Demokratie und Solidarität unterschätzt. Daran wird er scheitern. Die Zukunft gehört dem Fortschritt.

Kommentare (2)

  • Ursula Schinski
    Ursula Schinski
    am 16.10.2022
    Ein hervorragender Artikel , lesenswert und Aufklärend .
    Super
    Vielen Dank
  • Victor Witschel
    Victor Witschel
    am 16.10.2022
    Klare Worte
    Positiver Zukunftsblick
    Notwendige Klarstellungen
    Gut so !

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben