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© Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jens Kalaene

John Rawls und die Suche nach Gerechtigkeit

Nur ein Funke hätte überspringen müssen, und die Welt hätte das epochale Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit, das 1971 publiziert wurde und seither im Zentrum jeder moralphilosophischen Diskussion steht, nie in Augenschein nehmen können. Der Autor John Rawls verbrachte das akademische Jahr 1969/70 an der Stanford University, um endlich sein Buch, an dem er bereits 20 Jahre lang arbeitete, fertigzustellen. Eines Nachts brannte das Institut. Auf dem Schreibtisch hatte Rawls die letzte Version seines Manuskripts liegen lassen. Ein Glück, dass sein Büro von den Flammen weitgehend verschont blieb und nur durch Löscharbeiten beschädigt wurde. Das Manuskript war so zwar völlig durchnässt, aber dennoch einigermaßen lesbar.

Die Frage nach der Gerechtigkeit im Staat kam verstärkt im 19. Jahrhundert auf, also in der Zeit des entstehenden Industriekapitalismus. Die sichtbaren Folgen der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen arm und reich rückten insbesondere das Thema der Verteilungsgerechtigkeit in den Blick. Zwar war man allgemein der Auffassung, dass die Marktgesetze die menschlichen Bedürfnisse in weit größerem Maß zu befriedigen vermögen, als das in anderen denkbaren Ordnungen der Fall ist, dennoch wurde auch die ungleiche Verteilung der Güter gesehen und als unbeabsichtigter Systemeffekt charakterisiert, der durch gezielte Maßnahmen zu beheben oder zumindest zu mildern sei. Dieses Problem wurde im 19. Jahrhundert unter der Bezeichnung »soziale Frage« bekannt und thematisiert. Praktisch war diese Diskussion vor allem mit dem Namen Adolf Kolping verbunden. Auch im 20. Jahrhundert gab es sowohl praktisch-politisch tätige Gruppierungen – ein Spektrum von sozialdemokratischen bis christlichen Vereinigungen – wie theoretische Erörterungen zur Regulierung der ungerechten Folgen des freien Marktes, so etwa die Schriften von Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alfred Müller-Armack. Letzterer beeinflusste das Konzept der »sozialen Marktwirtschaft« des ersten Bundeswirtschaftsministers und späteren Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Ludwig Erhard. Die genannten Theoretiker waren sich darin einig, dass durch eine gerechte Verteilung unverschuldete Nachteile ausgeglichen werden können. Aber auch die Philosophie widmete sich der distributiven Gerechtigkeit. Kein philosophisches Werk hat dabei ein so großes Echo gefunden wie das eingangs erwähnte von John Rawls.

Rawls wurde vor 100 Jahren, am 21. Februar 1921, in Baltimore (Maryland) geboren, wo er von Jugend an Ungerechtigkeit, vor allem in Form von Rassendiskriminierung, beobachten konnte. Auch während seiner Zeit als Soldat von 1943 bis 1945 beschäftigte ihn die Frage, wie Gerechtigkeit weltweit herzustellen und Kriege zu vermeiden seien. Um Gerechtigkeit für alle Menschen zu realisieren, müsse es einen generellen und von keinem Menschen auf der Welt zu bezweifelnden Ausgangspunkt geben, von dem aus man konkrete Regelungen ableiten könne. Wo setzt John Rawls nun bei der Entwicklung eines solchen Ausgangspunktes in seiner Theorie der Gerechtigkeit an?

Er geht zunächst davon aus, dass jeder Mensch bestrebt sei, seinen eigenen Nutzen zu maximieren. Darum nimmt Rawls Folgendes an: »Wir wollen uns also vorstellen, daß diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen Grundrechte und -pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden. Die Menschen sollen im voraus entscheiden, wie sie ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen und wie die Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll. Ganz wie jeder Mensch durch vernünftige Überlegung entscheiden muß, was für ihn das Gute ist, d. h. das System der Ziele, die zu verfolgen für ihn vernünftig ist, so muß eine Gruppe von Menschen ein für allemal entscheiden, was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll. Die Entscheidung, die vernünftige Menschen in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die Grundsätze der Gerechtigkeit.« (§ 3) Man darf laut Rawls, um entscheiden zu können, was als gerecht gelten soll, keine Kenntnis darüber haben, welche Stellung man selbst in der Gesellschaft einnehmen wird. Er nennt das im § 24 seines Buches den »Schleier des Nichtwissens«. Der Einzelne darf somit nicht wissen, in welcher persönlichen und sozialen Situation er sich in der real-empirischen Gesellschaft wiederfinden wird. Würde er das nämlich wissen, würde er für sich selbst oder die Gruppe, der er in der Gesellschaft angehört, unter dem Gesichtspunkt der Maximierung des eigenen Nutzens wohl Vorteile fordern. Rawls kalkulierte also den Egoismus der Menschen ein. Unwissenheit muss es darüber hinaus mit Blick auf die anderen Menschen geben, denn sonst würde man, entsprechend der emotionalen Stellung, die man zu anderen hat, Vor- oder Nachteile für bestimmte Gruppen fordern. Vollkommen gerecht kann es demnach nur zugehen, wenn gänzliche Unwissenheit angenommen wird. Nur so könne die Aufstellung des Gerechtigkeitskonzepts der eigenen Interessenkalkulation entzogen werden. Die genannte Ausgangssituation ist der berühmte, mit dem Namen John Rawls eng verbundene »Urzustand«, in dem die Menschen ihre spätere Stellung in der Gesellschaft eben nicht kennen und darum neutral entscheiden können, wie sie dereinst ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen.

Der erste der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze, die im fiktiven Urzustand zustande kämen, lautet: »Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.« Der zweite Grundsatz heißt: »Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen.« (§ 46) Unbedingte Gleichheit wird von Rawls im Hinblick auf die politisch erkämpften Rechte gefordert; ökonomische Ungleichbehandlung hingegen sei unter bestimmten Bedingungen erlaubt, dann nämlich, wenn den schlechter Gestellten dadurch Vorteile erwachsen würden. Man könnte Letzteres als Sozialstaatsprinzip kennzeichnen, ganz im Sinne der eingangs angeführten Theoretiker der sozialen Marktwirtschaft. So wird es übrigens in ähnlicher Weise von Ernst Tugendhat vertreten, wenn er schreibt: »Die asymmetrische Verteilung ist zwar möglich, aber muß begründet werden. Kann sie es nicht, erscheint die symmetrische Verteilung zwingend und erfordert nicht ihrerseits eine Begründung.« Tugendhat nennt dafür ein Beispiel, das den zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz von Rawls, das Differenzprinzip, plausibel machen kann: »Zum Beispiel daß Frauen aufgrund ihrer Belastung durch Schwangerschaft usw. zum Ausgleich gewisse zusätzliche Rechte, etwa auf dem Arbeitsmarkt, verdienen. Das läßt sich durchaus von den Männern einsehen, also allen gegenüber begründen.«

Gesellschaftliche Zustände sind für Rawls keine gottgegebenen Fakten, sondern können geändert werden. Und wie geändert wird, müsse nach Maßgabe der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze entschieden werden. Damit hatte Rawls gefunden, was er mit seiner Theorie der Gerechtigkeit finden wollte: einen von niemandem bestreitbaren Ausgangspunkt für jede moralische, politische oder andere soziale Entscheidung, die gerecht sein sollte.

Kritik an diesem Konzept blieb nicht aus; einer der prominentesten Kritiker ist Jürgen Habermas. Er bezieht sich auf die von Rawls geäußerte Absicht, von Beginn seiner Theorieentwicklung an einen unbestreitbaren Basisgrundsatz zu entwickeln, um »zu vermeiden, daß man sich auf Strittiges stützt«. In seiner Theorie der Gerechtigkeit schrieb Rawls gleich zu Anfang, dass eine »Gruppe von Menschen ein für allemal entscheiden [müsse], was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll« (§ 3) und damit eine unverrückbare Basis für alle Aushandlungen sei. Das musste Habermas irritieren, dessen Auffassung es ist, dass alle moralischen und rechtlichen Grundsätze dem öffentlichen Diskurs zugänglich gemacht werden müssten, um sie überprüfen zu können, wobei es möglich sein soll, dass ein einmal gefundener Konsens aufgehoben und eine neue Übereinstimmung erlangt wird. Das gilt auch für ursprünglich anerkannte Grundsätze, die nach Habermas keinen Ewigkeitswert beanspruchen könnten. Selbst die Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls könnten in einem Diskurs zur Disposition gestellt werden, was Rawls, wie wir gesehen haben, selbstverständlich bestreiten würde. Nach Habermas soll die gemeinsame Grundlage von den Teilnehmern am politischen Diskurs selbst gefunden werden. Dagegen wendet Rawls ein, dass die habermasschen Verfahrensregeln für den Diskurs als ebenso unverrückbar angesehen würden wie seine Gerechtigkeitsgrundsätze.

Bis zu seinem Lebensende hat Rawls seine Kritiker ernst genommen und sich mit ihnen auseinandergesetzt, wie man an seiner Diskussion mit Habermas sehen kann. Posthum wurde seine 700-seitige Schrift Geschichte der politischen Philosophie veröffentlicht. Hier kann man erkennen, dass sein Interesse nicht nur den Gegenwartsphilosophen galt, sondern auch den Klassikern Hobbes, Locke, Hume, Rousseau, Mill und Marx. Bis zu seiner Emeritierung 1975 hat er regelmäßig diese Vorlesungen zur Geschichte der politischen Philosophie gehalten.

John Rawls, der seit 1962 in Harvard als Philosophieprofessor lehrte, starb 2002 im Alter von 81 Jahren.

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