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Neue Biografie zum 120. Geburtstag von Bertolt Brecht Kämpfer für die Freiheit der Literatur

Über den großen Bert Brecht (1898–1956) wurde schon viel geschrieben. Nicht wenige Biografen versuchten sein widersprüchliches Wesen einzufangen. Oft sind ihnen dabei ihre eigenen Vorlieben und Abneigungen, ihre ideologischen Ausrichtungen in die Quere gekommen. So atmet etwa die Biografie des ostdeutschen Literaturwissenschaftlers Werner Mittenzwei von 1986 den Geist seiner marxistischen Weltsicht, die des amerikanischen Literaturprofessors John Fuegi aus dem Jahr 1994 dagegen kapriziert sich vorwiegend auf »Enthüllungen« über Brechts Liebesleben und Plagiatsvorwürfe. Jan Knopf, Leiter der Arbeitsstelle Bert Brecht in Karlsruhe, konnte in seiner Biografie von 2012 bereits Material aus ostdeutschen Archiven miteinbeziehen und einen »neuen Brecht« präsentieren, tendierte aber zur Verharmlosung.

Nun ist in diesem Jahr zum 120. Geburtstag des weltweit bekannten Lyrikers und Theaterautors die 1.000-seitige Biografie des englischen Germanisten Stephen Parker Bert Brecht. A literary life (2014) in deutscher Übersetzung erschienen. Und gleich vorweg: Das Buch ist eine Bereicherung. Es zeigt sachlich distanziert, aber nicht ohne Empathie Bert Brecht als einen Ausnahmekünstler, der ein Leben lang dafür kämpfte, »der größte Dramatiker« zu werden und mit seinen Stücken die Welt zu verbessern.

Parker nahm es genau. Er durchforstete Brechts Werke, Tagebücher und Arbeitsjournale, suchte in den Archiven nach Dokumenten und Aussagen seiner Zeitgenossen und glich alles mit Erkenntnissen aus Literatur- und Geschichtswissenschaft, aus Medizin, Politik und Soziologie ab. Das immense Material seiner fünfjährigen Recherchearbeit bändigte er bravourös. Viel bewirkt dabei das detaillierte, kleinschrittig von Jahr zu Jahr sich vorwärtstastende Erzählen, das all die biografischen und historischen Quellen zu einem erhellenden, lebendigen Lebens-, Werk- und Zeitgefüge kombiniert. Hier wird Bertolt Brecht in seiner Komplexität, in seiner Zerrissenheit und in seinen Bedingtheiten, den inneren wie den äußeren, dargestellt, ja wieder zum Leben erweckt. Dabei schließt sich so manche Lücke und einiges wird in neues Licht gerückt.

In Brechts Dramen und Gedichten erkennt Parker eine »seltene künstlerische Sensibilität, der es gelingt, schockierende Taten zum Ausdruck zu bringen und sie mit kühler, analytischer Präzision vorzuführen«. In einem Brief aus den 40er Jahren an seinen Sohn Stefan schrieb Brecht, dass sich die »Generation Erster Weltkrieg« schon früh gegen die Grausamkeiten der Zeit mit einem Panzer aus Unempfindlichkeit schützen musste, was für die eigene künstlerische Empfindsamkeit jedoch kontraproduktiv gewesen sei. Brecht weiter: »die lösung war jene unempfindlichkeit, welche durch die soziale empfindlichkeit erreicht wird, durch eine art empfindlichkeit für das kollektiv«.

Dieses Gemenge aus Übersensibilität und Abhärtung wird für Parker zum Dreh- und Angelpunkt des Künstlerlebens Brechts, das er klug in die prägenden familiären und zeitgeschichtlichen Erfahrungen einbettet: Die kranke Mutter, der robuste Vater, die allgegenwärtige Gewalt- und Todesnähe während des Ersten Weltkriegs und der Münchner Räterepublik, die »erbarmungslose moderne Großstadt« Berlin, die schlimmen Folgen der Inflation und der Weltwirtschaftskrise stießen auf ein sensibles Empfindungsvermögen und einen ebenso empfindlichen Körper. Parker spricht über »biophysikalische Einschränkungen«, die bisher in der Brecht-Forschung »noch nicht wirklich verstanden worden« seien.

Am Anfang war der Körper

Er beschreibt den kleinen Eugen Berthold Brecht als ein kränkelndes Kind. Häufige bakterielle Infektionen griffen sein Nervensystem und sein Herz an. In Stresssituationen reagierten die Gliedmaßen mit unkontrollierten Zuckungen, sein Gesicht schnitt ungewollt Grimassen. Nächtliche Herzattacken lösten Todesängste aus. Tagelang, wochenlang musste er das Bett hüten, las Bücher und begann zu schreiben. Zunächst Postkarten an die Verwandten, später Tagebucheinträge: erste Versuche diese Körperdramen, diese verstörenden Gefühle der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins im lyrischen Ausdruck in den Griff zu bekommen.

»Ich muß immer dichten«, schrieb er 1913. Da war Brecht 15 Jahre alt und sein pubertierender Körper hatte sich auf ganz neue Weise, als Schauplatz intensiver Lusterfahrungen bemerkbar gemacht. In den kommenden Jahren entwickelte Brecht eine ungeheure Vitalität, die mit enormer künstlerischer Schaffenskraft und exzessivem Lebensgenuss, mit Abenteurertum und Amoralität gegen seinen schwachen Körper und gegen eine Gesellschaft, die Leiden und Sterben als Heldentum feierte, rebellierte. Und als der Krieg vorbei war, war aus dem zarten Berthold der junge Bertolt geworden und sein erstes ernst zu nehmendes Theaterstück Baal feierte den monströsen, hedonistischen Helden, der, ohne Rücksicht auf Verluste, sein Leben in vollen Zügen genießt.

Das Ambivalente seines Körpers, seine Morbidität wie seine Vitalität, hat ihm ein Leben lang zu schaffen gemacht: »Melancholerisch« nannte sich Brecht. Mitte der 20er Jahre zwang ihn sein ruinierter Gesundheitszustand zum Umdenken. »Meine Appetite müssten geregelt werden, so daß die wilden Anfälle ausgemerzt und die Interessen auf lange Dauer ziehbar wären.« Seinen Körper kurierte er mit Homöopathie, Atemtechnik und Wasserkuren. Die Lehren des Taoismus verhalfen ihm zu mehr Gelassenheit. Von nun an kontrollierte Brecht seine Triebe und pflegte einen geregelten Tagesablauf mit ausgewogenen Arbeits- und Erholungsphasen und regelmäßigen Mahlzeiten. Parker sieht hier einen wichtigen Moment für Brechts literarische Entwicklung: Die Figur des kopflastigen Herrn Keuner – ein Gegenentwurf zum Egomanen Baal –, der seine Energie in den gesellschaftlichen Fortschritt investiert, wäre ohne die Selbstdisziplinierung Brechts nicht denkbar. Ebenso wenig seine Absicht, mit dem »epischen Theater« das Publikum zu lehren, seine Emotionen zu beherrschen.

Leben und Arbeiten im Kollektiv

Brechts ausgeprägtes Talent für Freundschaften ist bekannt. Parker stellt auch dies in den Kontext des »biophysikalischen Determinismus«: Als Kind wegen seiner Krankheiten isoliert, konnte Brecht später ohne die Gesellschaft anderer nicht sein. Trotz aller Individualität, trotz aller Eigenwilligkeit, war er ein regelrechtes Rudeltier, ein Homo communis, dem ein einziges »Du« nicht ausreichte. Er dachte, schrieb und lebte im Kollektiv. Das zeigte sich bereits in seinem Augsburger Freundeskreis und später in seinen zahlreichen Liebes- und Arbeitsbeziehungen. Immer waren Menschen um ihn, mit denen er sich austauschte, die ihn zu wunderbaren Gedichten inspirierten, mit denen er zusammen seine Theaterstücke und Regiearbeiten entwickelte, als könne er seine Fragilität in einem größeren Organismus überwinden und so in Lebensenergie verwandeln.

Parkers minutiösem Erzählen ist es zu verdanken, dass sich Brechts Liebesgeschichten mit Elisabeth Hauptmann, Helene Weigel, Margarete Steffin oder Ruth Berlau in ihrer komplexen, gegenseitigen Verstricktheit zeigen, die keine simplen Zuschreibungen im Machtgefüge zulassen. Aber er verschweigt nicht, dass Brechts Verhalten die Toleranz der Frauen oft bis aufs äußerste strapazierte und demütigende Züge annahm. Dabei waren sie alles andere als schwache, unselbstständige Geschöpfe, sondern intelligente und selbstbewusste (mitunter sehr komplizierte) Persönlichkeiten, was Brecht durchaus respektierte. Im Laufe der Biografie wird klar, dass trotz des antibürgerlichen Gestus, der in Brechts polyamorer Lebensweise steckte, es verfehlt wäre, in ihm einen Vorkämpfer antipatriarchalischer Familienstrukturen zu sehen. Zu klassisch ist dann doch die Rolle, die er als Mann lebte und die, die er den Frauen zugestand.

Schon früh, noch während des Ersten Weltkriegs, entwickelte Brecht ein feines Sensorium für die moralischen und ökonomischen Schwachstellen der kapitalistischen Gesellschaft. Seine Einsicht in notwendige, grundlegende Veränderungen machten Brecht empfänglich für sozialrevolutionäre Ideen, die er an der Lektüre von Schriften von Karl Marx schärfte und in die Lehrstücke und das epische Theater einfließen ließ: Mithilfe des »Verfremdungseffekts« sollte beim Publikum das Bewusstsein für soziale Missstände geweckt und Denkanreize geschaffen werden, diese zu beseitigen. Brecht war sich so sicher, dass »der Sozialismus, und zwar der revolutionäre, das Gesicht unseres Landes noch zu unseren Lebzeiten verändern« würde. Dazu wollte er mit seinem Theater beitragen, aber auf seine Weise und ohne sich – Parker nennt ihn einen »Häretiker« – an eine parteipolitische Orthodoxie zu binden. Denn so Brecht: »Was die Künstler betrifft, so halte ich es für sie am besten, wenn sie unbekümmert, darum machen, was ihnen Spaß macht: Sie können sonst nicht gute Arbeit leisten.« Die Formalismus-Hetze der Genossen ging ihm schwer auf die Nerven.

Aber der Kampf gegen den Faschismus trieb ihn dann doch mehr und mehr ins kommunistische Lager. Die stalinistischen Verhaftungswellen und die Schauprozesse fielen in die Zeit seines Exils in Dänemark. Brechts glasklare Einschätzung der Situation lässt sich in den Journalen dieser Jahre nachlesen. Doch statt in diesem Moment mit dem Kommunismus zu brechen, engagierte er sich weiter, sah er doch in der UdSSR die einzig wirksame Kraft, die den Nationalsozialismus besiegen konnte. Hinzu kam: Brecht fühlte sich von Stalins Häschern bedroht und er war alles andere als ein Held. Also vermied er es tunlichst, in der Öffentlichkeit die Sowjetunion zu kritisieren. Wie wichtig für das Verständnis seiner Auseinandersetzung mit dem reaktionären Stalinismus dabei sein großes Exildrama Leben des Galilei aus dem Jahr 1938 ist, legt Parker dar: Im »unheldischen« Ketzer Galilei zeichnete Brecht das Bild des genialen, ehrgeizigen Wissenschaftlers, der jedoch im Konflikt mit der totalitären Macht aus Vernunft von der Wahrheit ablässt, um zu überleben. Dass dieses Überleben seinen Preis hat, musste Brecht im US-amerikanischen Exil ab 1941 am eigenen Leib erfahren.

Überleben im Exil

Die USA war für Brecht das Anti-Land schlechthin: »Die geistige Isolierung hier ist ungeheuer«, schrieb er an den Philosophen Karl Korsch. Sein Leben lang hatte er gegen den Kapitalismus gekämpft, nun saß er mitten in seinen ungebremsten Auswüchsen. Brecht litt. Sein Gesundheitszustand ließ zu wünschen übrig, depressive Stimmungen hielten ihn vom Schreiben ab. Erst als sich durch den Kriegseintritt der USA das Ende des Nationalsozialismus abzeichnete, erwachten wieder die alten Lebensgeister und Brecht versuchte unermüdlich, seine Stücke auf die amerikanischen Bühnen zu bringen und Übersetzer für seine Gedichte zu finden. Doch der Kulturbetrieb zeigte ihm die kalte Schulter. Das Interesse blieb aus, die wenigen Aufführungen waren ein Misserfolg. Noch unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Europa im Oktober 1947 musste er sich vor dem »Untersuchungsausschuss für unamerikanische Aktivitäten« über sein Verhältnis zum Kommunismus rechtfertigen.

Doch es wurde nicht leichter. Wo sollte, wo konnte er in diesem zerstörten Europa bleiben, wo, nach einem kurzen Moment der Demut, sich schon wieder die Fronten verhärteten und nun der Kalte Krieg den Kontinent in zwei feindliche Lager teilte? Brecht war enttäuscht »Die Deutschen rebellieren gegen den Befehl gegen den Nazismus zu rebellieren: nur wenige stehen auf dem Standpunkt, daß ein befohlener Sozialismus besser ist als gar keiner.« Eine Einreise in die amerikanische Besatzungszone wurde ihm verweigert. Also folgte er dem hartnäckigen Werben Ostberlins. Durch seine Erfahrungen mit der sowjetischen Kulturpolitik während des Exils wusste er, welch vermintes Gebiet er betreten würde. Er wappnete sich vorsorglich mit der österreichischen Staatsbürgerschaft, einem westdeutschen Verleger, einem Konto in der Schweiz und der Unterstützung einflussreicher Personen aus dem Kulturbetrieb, um seinen großen Lebenstraum zu verwirklichen: ein eigenes Ensemble und ein neues Theater für das »anbrechende sozialistische Zeitalter im Zeichen der Vernunft«.

Zu Brechts letzten Lebensjahren in Ostberlin gelingen Parker nochmals interessante Einsichten, die, durch umfangreiches Archivmaterial gestützt, den Theatermann als »streitsüchtigen und umstrittenen« Kämpfer für die Freiheit der Literatur präsentieren. Durchaus bereit, den Aufbau eines sozialistischen Staates zu unterstützen, beharrte er auf künstlerische Eigenständigkeit. Neben seiner Theaterarbeit investierte er viel Zeit in den Aufbau der »Deutschen Akademie der Künste« als autonome Instanz gegenüber dem »antiformalistischen Kunst-Nationalismus der SED«. Als nach Josef Stalins Tod Anfang Juni 1953 in der Sowjetunion die Tauwetter-Periode begann, hoffte er auf den angekündigten »neuen Kurs« der SED und forderte im Umfeld des Arbeiteraufstands vom 17. Juni von Walter Ulbricht »die so dringliche große Aussprache über die allseitig gemachten Fehler« ein und fügte hinzu, dass er der Partei weiterhin seine Verbundenheit zolle. Nur diesen letzten Satz ließ Ulbricht skrupellos im Neuen Deutschland veröffentlichen und löste damit in Westdeutschland einen Brecht-Boykott aus.

Allen Anfeindungen der Kulturfunktionäre zum Trotz, brachte Brecht es doch erstaunlich weit: Zusammen mit Helene Weigel konnte er das Berliner Ensemble aufbauen und zum Erfolg führen und bekam schließlich sogar das Theater am Schiffbauerdamm. Und als die Inszenierungen der Mutter Courage, Heinrich von Kleists Der zerbrochene Krug und Der kaukasische Kreidekreis bei den Internationalen Theatertagen in Paris 1954 und 1955 als Sensationen gefeiert wurden, war sein Weltrang als Dramatiker endgültig begründet.

Doch ihm kam wieder sein Körper in die Quere. Schon erschöpft und angeschlagen aus dem Exil zurückgekehrt, zehrten die vielen kleinen und großen Auseinandersetzungen mit dem SED-Regime an ihm. Auch die Enthüllungen über das Ausmaß des stalinistischen Terrors erschütterten ihn zutiefst. Seine alten Nierenleiden machten sich bemerkbar, Entzündungen im Herzbereich brachen aus, wurden aber nicht richtig behandelt: Und so starb der große Bert Brecht viel zu früh mit nur 58 Jahren am 14. August 1956. Für seinen Nachruf wies er den Pfarrer Karl Kleinschmidt an: »Schreiben Sie nicht, daß Sie mich bewundern. Schreiben Sie, dass ich unbequem war und es auch nach meinem Tode zu bleiben gedenke.«

Stephen Parker: Bertolt Brecht. Eine Biografie (aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller). Suhrkamp, Berlin 2018, 1.030 S., 58 €.

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