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Kafkas letzter Prozess

Es ist der berühmteste Koffer der Literaturgeschichte, mit dem Max Brod 1939 aus Prag floh – mit Manuskripten von Franz Kafka. Brods Nachlass wurde zum Gegenstand eines jahrzehntelangen Rechtsstreits, über den der Journalist Benjamin Balint jetzt ein Buch verfasst hat. Natascha Freundel hat ihn zu »Kafkas letzter Prozess« befragt.

NG|FH: In Ihrem Buch geht es um den Nachlass Max Brods in Israel, an dem sowohl die Nationalbibliothek in Jerusalem als auch das Deutsche Literaturarchiv in Marbach interessiert waren. Warum ist dieser Prozess, der bis zum Obersten Gerichtshof Israels ging, mehr als ein Rechtsstreit?

Benjamin Balint: Was als lokaler Streit an einem israelischen Familiengericht begann, verdichtete sich zu einem heftigen kulturellen Streit in der modernen Justiz: Wer beerbt Franz Kafka? Wer hat das Recht auf Vormundschaft über ein Kulturerbe? Die Ironie des Falls besteht darin, dass es nicht irgendwelche Staaten waren, die Anspruch auf Kafkas Erbe geltend machten, sondern Israel und Deutschland. Als ich den Prozess im Obersten Gerichtshof verfolgte, fiel mir auf, dass die Anhörungen in zwei völlig verschiedenen rhetorischen Registern stattfanden. Da war zum einen das juristische Problem, eine Formulierung in Max Brods letztem Willen aus den 60er Jahren zu interpretieren. Unter dieser Oberfläche aber kochte eine ideologisch und emotional hoch aufgeladene, nationalistische Rhetorik, die direkt verbunden war mit der komplizierten Beziehung der beiden nationalen Vergangenheiten. Vor Gericht waren für das Literaturarchiv in Marbach Anwälte, die sagten, natürlich hat Franz Kafka nichts mit Palästina zu tun; er war kein Zionist; er starb, bevor Israel gegründet wurde. Wie kann man also behaupten, dass Kafka israelisches Kulturerbe sei? Die Anwälte der Nationalbibliothek in Jerusalem gaben zurück: Deutschland sei der allerletzte Ort für Kafkas Erbe; sie betonten vor Gericht, dass alle drei Schwestern Kafkas in der Schoah umgekommen sind. Die Schoah schwebte über dem Verfahren wie eine dunkle Wolke. Ich fand sehr interessant, dass Israel sich selbst als Kulmination der Geschichte der jüdischen Diaspora betrachtet. Kafka ist das perfekte Beispiel dafür. Kein anderer Autor ist so diasporisch wie er. Obwohl er das Land nie betreten hat, argumentierte die israelische Seite, dass er irgendwie hierhergehört. Warum? Nur wenn man diesen Ort, und besonders Jerusalem, als Kulmination einer Geschichte betrachtet, die anderswo begonnen hat. Er schrieb in einer anderen Sprache, er gehörte zum Kanon der deutschen literarischen Moderne. Und doch gehört er zur jüdischen Geschichte, und die jüdische Geschichte vollendet sich hier.

NG|FH: Sie porträtieren in Ihrem Buch mehrere Personen, die Kafkas Manuskripte, die er nach seinem Tod 1924 hinterlassen hat, ihr Eigen nannten oder nennen wollten. Da ist zuerst sein Freund aus Prager Studienzeiten, Max Brod, ohne den wir Franz Kafka nicht mehr kennen würden. Wie hat Brod Kafkas Werke gerettet?

Balint: Max Brod hat mehr als einmal und auf mehr als eine Weise Kafkas Erbe gerettet. Zuerst hat er es vor Kafkas letztem Willen gerettet, wonach er alle Manuskripte verbrennen sollte. Zweitens rettete er die Manuskripte, als er mit seiner Frau im März 1939 aus Prag floh, am letzten Tag vor der deutschen Besetzung der Stadt. Und da er den Rest seines Lebens der Veröffentlichung der Kafka-Manuskripte widmete, kann man drittens sagen, dass er sie in einem weiteren Sinne rettete: Er rettete die Reputation eines Werks, das ohne ihn nicht annähernd so berühmt wäre. Es ist wirklich bemerkenswert, dass Brod, als er in großer Eile aus Prag floh, nur einen Koffer mitnahm: nicht mit seinem eigenen Besitz – der sollte ihm nachgesandt werden –, sondern mit Kafkas Manuskripten, in einem einzigen Koffer. Ich beschreibe diese Manuskripte als Faden, der diese Menschen verbindet. Sie verbinden das erste Leben Brods in Prag mit seinem zweiten in Tel Aviv, von 1939 bis zu seinem Tod 1968. Und sie verbinden Max Brod mit seiner Sekretärin Esther Hoffe, weil sie sich jeden Tag in Brods Wohnung in Tel Aviv trafen und an diesen Manuskripten arbeiteten. Schließlich verbinden sie Eva Hoffe mit ihrer Mutter Esther als kostbarstes Erbe, das sie hat.

NG|FH: Israel hat sehr lange mit diesem Franz Kafka aus Prag nichts Besonderes zu tun haben wollen. Bis heute gibt es dort nicht einmal eine Kafka-Straße oder einen Kafka-Platz. Wie erklären Sie sich das?

Balint: Ich glaube, sowohl Deutschland als auch Israel können als Nachzügler in Sachen Kafka bezeichnet werden. Kafkas Werke wurden relativ spät ins Hebräische übersetzt und relativ vereinzelt. Bis heute gibt es keine Kafka-Gesamtausgabe auf Hebräisch. Das hat mit dem israelischen Widerstand gegen die deutsche Sprache und Kultur zu tun, vor allem in den frühen Jahren dieses Staats. Aber auch in einem spezielleren Sinn mit einem Widerstand gegen die tiefsten Motive in Kafkas Werk. Wir haben Kafka als klassischen Schriftsteller der Diaspora beschrieben, nicht nur in seiner geografischen Zuordnung, sondern vor allem auch in seinen Themen. Meiner Meinung nach repräsentiert die Literatur des neuen Staates die starken Söhne, die sogenannten neuen Juden, die ihre schwachen Väter im Exil überwanden. Bei Kafka ist es meistens genau umgekehrt: Da haben wir einen starken Vater und schwache Söhne. Seine Themen der Entfremdung fanden keinen Widerhall in der Literatur und im Bewusstsein des neuen Staates.

NG|FH: In Deutschland ist Kafka seit Langem ein Säulenheiliger. Der Kafka-Boom setzte schon in der Nachkriegszeit ein, aber auch hier mit blinden Flecken. Kafka war alles, nur kein jüdischer Schriftsteller.

Balint: Erst in den 80er Jahren fand in Deutschland eine Konferenz statt, die erstmals Kafkas jüdische Themen aufgriff oder Kafka als jüdischen Autor betrachtete. Man wusste, dass Kafka Jude war, aber man wusste es nur oberflächlich. Dabei hatte Max Brod immer auf das Jüdische in den Werken bestanden. Auch wenn das Wort »Jude« kein einziges Mal in Kafkas Prosa auftaucht, gibt es darin doch ein tiefes jüdisches Element. Aber um diese Motive zu verstehen, braucht man die Instrumente, das literarische Handwerkszeug. Das hat Deutschland nach dem Krieg jahrzehntelang gefehlt. Um etwa in seinen Parabeln das zu erkennen, was wir auf Hebräisch das »aggadische« Element nennen. Einige von Kafkas Parabeln sind beinahe talmudisch. Es geht nicht nur darum, dass Kafka an seinem Lebensende Hebräisch gelernt hat. Wie sein Brief an den Vater und seine Begeisterung für das jiddische Theater zeigt, war ihm eine bestimmte vitale Kraft im Judentum sehr bewusst. Eine Vitalität, die er in dem bourgeoisen Judentum seines Vaters vermisste, die er aber für sich entdeckt und die seine Literatur ganz sicher gefärbt hat.

NG|FH: Wie gelangte der Max-Brod-Nachlass, inklusive der Kafka-Manuskripte, die Brod aus Prag retten konnte, überhaupt in private Hand?

Balint: Zur Absurdität dieses Gerichtsfalls gehört, dass dabei verschiedene Arten von Manuskripten durcheinandergebracht wurden. Einige Manuskripte hatte Kafka Max Brod noch zu Lebzeiten geschenkt. Andere hat Brod nach Kafkas Beerdigung an sich genommen. Als Max Brod 1939 aus Prag fliehen konnte, fügte er die Kafka-Manuskripte seinem eigenen literarischen Besitz hinzu (einen Großteil der Kafka-Originale gab Brod an die Kafka-Erben in London, die sie der Bodleian Library in Oxford überließen, wo sich seither das größte Kafka-Archiv befindet, Anm. NF). Als Max Brod nach Tel Aviv kam, besuchte er einen Hebräisch-Kurs, in dem er die Hoffe-Familie kennenlernte. Brod wurde ein enger Freund von Esther Hoffe, ihrem Mann Otto und den Töchtern Eva und Ruthi. So eng, dass Eva ihn als Vaterfigur bezeichnete. In seinem letzten Willen in den 60ern schenkte er seinen eigenen Nachlass Esther Hoffe mit mehrdeutigen Anweisungen. Einerseits sagte er, er gehöre ihr und sie könne damit machen, was sie möchte. Andererseits steht dort, dass Esther Hoffe vor ihrem Tod seinen Nachlass inklusive des Kafka-Materials einem richtigen Archiv übergeben solle, wie der Nationalbibliothek in Israel, der Stadtbibliothek in Tel Aviv oder einem anderen Archiv oder einer anderen Bibliothek in Israel oder im Ausland. Die Nationalbibliothek nannte er an erster Stelle. Auf diesem Absatz 5 in seinem Testament basieren alle Schwierigkeiten. Nach Brods Tod 1968 tat Esther Hoffe, was sie zu seinen Lebzeiten nie zu tun gewagt hatte: Sie begann, Teile zu verkaufen. Einige der wichtigsten Manuskripte, inklusive Der Prozess, wurden vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach gekauft. Gegen Ende ihres Lebens verhandelte sie mit Marbach über den Verkauf alles Übrigen, dann starb sie 2007 und überließ alles ihren Töchtern. Erst an diesem Punkt schritt Israel durch die Nationalbibliothek ein, widersprach dem Testament Esther Hoffes und sagt, sie sei nur die Hüterin oder die Verwalterin der Schriften, aber nicht ihre rechtmäßige Besitzerin gewesen, daher habe sie kein Recht, sie ihrer Tochter Eva zu überlassen. Sie gehörten als jüdisches Kulturgut in die Nationalbibliothek in Jerusalem. Das Deutsche Literaturarchiv hatte ein begründetes Interesse an Eva Hoffes Recht, die Manuskripte zu verkaufen, wissend, dass Eva Hoffe sie an Marbach verkaufen würde, wenn es ihr erlaubt wäre.

NG|FH: Sie beschreiben die Rolle des Deutschen Literaturarchivs in dem Prozess nicht eben positiv.

Balint: Ich versuche, die Legitimität jeder der drei Seiten zu zeigen: Israel, Deutschland und Eva Hoffe. Ich möchte aber auch zeigen, wo jede Seite ihre Legitimität überschritten hat. Es gibt keine gute und keine böse Seite in diesem Fall. Beginnen wir mit der Hoffe-Familie. Sie hat es all die Jahre nicht zugelassen, dass Forscher Zugang zu dem Material hatten. Sie hätten es öffentlich machen können. Die Israelis handelten sehr grob und aggressiv. Nun haben Sie nach Marbach gefragt. Ich möchte nur klarstellen, dass meine Kritik sich nicht nur auf die eine oder andere Seite richtet. Doch was Marbach betrifft, gab es etwas, das mich überraschte. Nämlich dass Marbach zuerst mit einer gewissen Naivität operierte. Damit meine ich, dass Marbach überrascht war über die internationale Kontroverse, die der Fall und vor allem die deutsche Beteiligung provozierte. Mehr noch, man meinte nicht nur, dass man in Marbach besser ausgestattet sei, technisch und personell, um deutschsprachige Manuskripte zu archivieren. Es gab auch eine grundsätzliche Haltung – das ist meine Interpretation –, als vertrete Marbach ein universales, humanistisches Interesse an der Literatur an sich, während die Israelis etwas wenn nicht Provinzielles, so doch eher Partikulares repräsentierten. Marbach vermittelte den Eindruck, man würde Kafka nur einseitig lesen, wenn er in der israelischen Nationalbibliothek verbliebe, nämlich nur als »jüdischen« Schriftsteller. Während man ihn in Marbach universalistisch lesen würde. Es ist doch sehr interessant, dass sich Deutschland nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg als Träger der universalen oder europäisch-humanistischen Kultur betrachtet. Und der jüdische Staat in ihren Augen etwas viel Engeres repräsentiert. Das führt meiner Meinung nach zu offenen Fragen: Ob die geografische Lage eines literarischen Nachlasses in irgendeiner Weise definiert, wie dieser Nachlass und wie ein Schriftsteller gelesen wird?

NG|FH: Sie verfolgten den Prozess bis zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Israels 2016, dass der Max-Brod-Nachlass mit den Kafka-Papieren in die Nationalbibliothek in Jerusalem gehört. Auch wenn das Wort ein Klischee geworden ist: Würden Sie diesen Prozess »kafkaesk« nennen?

Balint: Ich weiß nicht, ob er kafkaesk ist, aber ich weiß, dass so viel Ironie und Absurdität darin steckt, dass Kafka sehr amüsiert wäre. Ihm war schon zu Lebzeiten bewusst, dass man widersprüchliche Ansprüche an ihn richtet. Aber er widerstand bewusst allen nationalen Ansprüchen. Er sah sich nie als Deutscher, genauso ambivalent war er gegenüber der zionistischen Bewegung, der Max Brod angehörte. Und auch seinem eigenen Judentum. Als Kafka gebeten wurde, Redakteur der Monatszeitschrift Der Jude zu werden, wies er das Angebot zurück und schrieb: »Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam.«

Reiner Stach schreibt in seiner wunderbaren Biografie, Kafka sei der wohl am wenigsten besitzergreifende Mensch gewesen, den man sich vorstellen kann. Eine Ironie des Falls besteht darin, dass 90 Jahre nach Kafkas Tod nichts als Besitzansprüche seinen Nachlass umgeben. Das hätte ihn wahrscheinlich amüsiert. Er hätte eine magische Kurzgeschichte über sein literarisches Nachleben schreiben können.

Benjamin Balint: Kafkas letzter Prozess (aus dem Englischen von Anne Emmert). Berenberg, Berlin 2019, 336 S., 25 €.

Kommentare (3)

  • Malte Ludin
    Malte Ludin
    am 20.07.2020
    Eines hätte der Partner des informativen Gesprächs mit Herrn Balint diesen doch noch fragen sollen: Wieso in dem Strauß von Ansprüchen am literarischen Werk des Autors die tschechische Seite durch Unsichtbarkeit glänzte. War nicht 1963 ein Schloss in der ehemaligen Tschechoslowakei der Ort der weltweit ersten Kafka-Konferenz?
  • Helmut Mehnert
    Helmut Mehnert
    am 12.02.2024
    Ja, dieser Kommentar weißt auf eine Leerstelle hin. Das tschechische Verhältnis zu Kafka ist bisher insgesamt kaum bearbeitet worden. Und belegt wiederum die Tatsache, das Kafks nicht eindeutig zuzuordnen ist!
  • Helmut Mehnert
    Helmut Mehnert
    am 12.02.2024
    Jetzt, Anfang 2024, ist der Hinweis wichtig, dass Balint der Taschenbuchausgabe bei den Fischerverlagen ein Epilog-Kapitel hinzugefügt hat, das den aktuellen Stand der Angelegenheiten referiert und weitere interessante Reflexionen zum Thema.

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