Menü

Krisen, Übergänge, Transformationsmaschinen Kann man Zeit umdrehen?

Plötzlich läuft die Zeit rückwärts, und wir sollen wieder dort ankommen, wo unsere Eltern oder Großeltern zuhause waren. »Damals« wurde man zum Beispiel als junger Mann zum Militär eingezogen. Musste nächtelang durch den Matsch kriechen. Wurde angebrüllt, ohne irgendetwas dagegen ausrichten zu können. Oder man musste unwiderruflich darauf hören, was der Boss sagte. Die Grundstruktur der Gesellschaft war autoritär. Das Individuum hatte wenig zu sagen, und Normen und Zwänge regierten die Welt. Danach sehnen sich heute wieder viele: Schlips und Hosenträger tragen, zur Kirche gehen, Ordnung und Unterordnung (...) Verbunden mit Selbsterhöhung – wir gegen die Anderen, über den Anderen. Selbst weiß man es ja schließlich am besten.

Viele sehnen sich heute wieder nach einer autoritären Grundstruktur der Gesellschaft.

Kann man eigentlich die Zeit umdrehen? Kann der Film der Geschichte rückwärts laufen? Oder können wir lernen die Sachen, die früher gut waren, mit All jenen zu kombinieren, die in der Gegenwart und Zukunft Sinn machen? Es gibt ein großes Verlangen, direkt und linear in die Vergangenheit zu fliehen, und das ist verständlich. Die Gegenwart ist überfordernd, die Zukunft ungewiss. Als Zukunftsforscher sage ich: Das geht nicht. Der gradlinige Weg rückwärts ist mit einer soliden Stahltür versperrt. Eine von diesen Türen, die die Gangs in den spektakulären Bankräuberfilmen dann irgendwie doch noch knacken (mit Laserstrahlen oder Quantencomputern). Aber dahinter finden sie: Nichts. Der Tresor ist leer. Die ganze Kohle ist verschwunden.

Das Erste, was wir lernen und verstehen sollten, ist der Unterschied zwischen Zeitenwende und Zeitenwandel. Zeitenwenden sind Versuche, in die Vergangenheit zu flüchten. Das geht immer schief. Im Zeitenwandel verändern sich die Dinge, krisenhaft, aber nicht hoffnungslos. In Zeitenwenden macht uns die Tatsache, dass das »alte Normal« zusammenbricht und ein neues Normal noch nicht in Sicht ist, panisch. Wenn wir daraus einen Zeitenwandel machen, schauen wir darüber hinaus in die Zukunft. Wir ahnen, oder fühlen, dass eine neue Epoche beginnt. Und genau das ist der Moment, in dem die Zukunft beginnt.

Turbulenzen des Übergangs

Zeitenwandel-Zeiten, also chaotische Übergänge, sind eigentlich ziemlich häufig. Man kann das im eigenen, persönlichen Leben erleben. Die »Terrible-4«-Phase ist eine solche Phase. Die Kleinkind-Trotz-Aua-Ich-Will-Nein-Phase, in der sich so manch reaktionäre Idioten nach wie vor befinden. Aber, wie meine Eltern mir verlässlich mitteilen konnten, diese Phase geht (meistens) vorbei. Ähnlich ist die Pubertät, von der allerdings nicht so gewiss ist, ob sie jemals vorübergeht. Und dann kommen noch mehr Krisen im Leben hinzu: Beziehungskrisen, Familienkrisen, Firmenkrisen, Alterungskrisen, Berufskrisen, Identitätskrisen. Ohne solche Krisen bliebe alles immer gleich. Aus all diesen Übergängen formt sich das Neue. Wir müssen, und können sie »durchwachsen«. Ohne Krisen gibt es kein Leben und keinen Wandel. Auch und gerade nicht zum Besseren. Dann regiert die Dekadenz.

»Ohne Krisen gibt es kein Leben und keinen Wandel. Auch und gerade nicht zum Besseren.«

Jede Generation hatte ihre Krise. Und jede Krise war immer die größte. Die schrecklichste. Die gefährlichste. Das Ende der Welt! Mein Vater erzählt mir immer von der 80er-Jahre-Krise. Das ist schon eine Weile her, genauer gesagt eine Ewigkeit. Damals waren die rebellischen Träume von einer revolutionären Veränderung, die den Zeitgeist der 60er und 70er Jahre beherrschten, zerstört. Durch Terrorismus und Zweifel und irgendeine tiefe Verwirrung, so genau konnte er es nicht erklären. Der Kalte Krieg weitete sich zu einer monströsen Menschheitsbedrohung aus, und an jeder Ecke wurden Atomraketen aufgestellt. Alle waren irgendwie depressiv, und fluchten auf den Fortschritt. Dann explodierte in den Restbeständen der Sowjetunion ein Atomreaktor, und alle jungen Eltern sperrten ihre Kinder zu Hause ein und aßen aus Konservendosen, weil die Sandkiste und der frische Salat radioaktiv verseucht waren. Man wusste wenig, über das Ausmaß der Katastrophe, die Langfristschäden, die Folgen für die Natur. Auch meine Elterngeneration hatte schon ihr Corona. Aber ein paar Jahre später fiel der Eiserne Vorhang, die Welt öffnete sich in eine neue Ära, Europa wurde neu geboren und über eine Million Menschen tanzten auf der Love Parade.

Krisen – erste kosmologische Gesamtregel – sind immer Enttäuschungen von Erwartungen. An die man ganz fest glaubte. Man könnte auch sagen: Man klammerte sich an Illusionen, wie an die Mama, wenn man als Vierjähriger unbedingt ein Eis will (aber schon drei intus hat). Krisen sind aber auch immer Transformationsmaschinen. Im Niedergang des alten Normal bereitet sich das Neue vor. Ob wir es glauben oder nicht.

Wie geht eine Generation damit um, wenn ihre vermeintliche Zukunft verschwindet. Rund um die Jahrtausendwende gab es das Gefühl, die Zukunft sei klar. Alles wird netter, schöner, globaler. Friede, Freude, Eierkuchen. Diese Zukunft ist uns nun entglitten. Nicht nur sind die jungen Generationen unglücklich, sie sind vor allem auch einsam. Das hängt mit der Fragmentierung der Gesellschaft zusammen, und den Sozialen Medien. Wir wagen gerade ein Experiment, in dem Jugendliche von klein auf mit dem gesamten Weltschmerz konfrontiert sind. Hat man Zugang zum Netz, sieht man das Leid der ganzen Welt. Das kann nicht gesund sein. Wir wachsen also ebenso in einer kognitiven Krise auf, die uns zutiefst prägt.

»Die Zukunft von früher funktioniert nicht mehr, also können wir uns endlich eine neue schaffen.«

»Das Wichtigste für das eigene Leben ist es, zu wissen, in welche Ära man geboren wurde.« Dieses weise Zitat der britischen Schriftstellerin Naomi Alderman erklärt eigentlich die Krise der jüngeren Generationen. Statt diejenigen zu sein, die sich entspannt zurücklehnen können und den Fortschritt einfach mitgenießen dürfen, müssen wir ihn nun selbst gestalten. Zu verstehen, dass wir uns in einem Übergang von einer Epoche in die nächste befinden, gibt uns etwas zurück, das wir lange nicht mehr hatten: Wirksamkeit. Wir können nun den Wandel mitgestalten, genau weil die Zeiten so volatil sind. Die Zukunft von früher funktioniert nicht mehr, also können wir uns endlich eine neue schaffen.

Statt zu lamentieren, wie schwer und schrecklich doch alles ist, gibt es auch einen Weg vorwärts. Auch wenn wir es nicht spüren, viele der großen Protestbewegungen der jungen Generationen haben funktioniert – man mag es kaum glauben. Die Fridays-for-Future-Bewegung hat gewonnen. Auch wenn es uns sicherlich allen zu langsam läuft, die Trendkurven bewegen sich hier in die richtige Richtung. Kein Unternehmen und keine Regierung kann das Thema mehr ignorieren. Auch beim Thema Gleichberechtigung haben die Frauenmärsche Wirkung gezeigt, die #MeToo-Bewegung hat in dem, was in Machtstrukturen akzeptabel ist, maßgeblich verändert. Die Normen haben sich verschoben, auch wenn wir das oft nicht verinnerlichen können. Auch wenn wir immer noch Missstände und Greenwashing finden, sollten wir das Perfekte nicht zum Feind des Guten werden lassen. Wir haben einiges bewegt – zum Besseren.

Natürlich sind wir bei keiner dieser Fortschrittsbewegungen schon am Ziel angekommen, aber wir sollten auch ihre Erfolge feiern können. Denn es zeigt sich, wenn sich eine digitale, globale Generation zusammenschließt und gegen Missstände protestiert, bewegt sich doch etwas. Soll also heißen, in Krisenzeiten ist auch eine Menge Wandel möglich. Das sollten wir nutzen, denn Resignation ist weitaus gefährlicher als Wut. Ersteres überlässt die Zukunft den Zynikern und Rückschrittlichen. Wut hingegen ist Energie zum Wandel. Wir sollten wütende Optimisten werden, statt resignative Pessimisten. Wir als Zivilisation haben es schon so weit geschafft – und heute müssen wir gemeinsam, digital und global für die Zukunft kämpfen. Immerhin leben wir in bewegten Zeiten, sonst wäre es doch langweilig.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben