Auf (der inzwischen gesperrten Website) linksunten.indymedia.org wird darüber debattiert, ob es in einer »unanständigen Gesellschaft« tatsächlich »anständig« sein kann, Steine zu werfen. Die G20-Krawalle rufen die alte Diskussion über den Unterschied von »Gewalt gegen Sachen« und »Gewalt gegen Menschen« wieder auf. In linken Kreisen wird erbittert über das Tragen der Kufiya – hierzulande meist besser bekannt unter dem irreführenden Begriff »Palästinensertuch« – gestritten, obwohl es sich in unseren Kulturkreisen fast schon zu einem modischen Accessoire entwickelt hat. Zu allem Überfluss kapern Identitäre auch noch »linke« Agitationsformen und Symbole und grillen vegan, während Jürgen Elsässer, rechter Publizist und Stichwortgeber der AfD, eine gemeinsame Front aus linken und rechten Kräften (die sogenannte »Querfront«) gegen die politischen Eliten errichten will, wie es schon in den 20er und 30er Jahren versucht wurde. Kurzum: Sich vor solch einem Hintergrund als »links« zu bezeichnen, ist nicht ganz einfach.
Fragt man also nach dem Verhältnis der jungen, außerparlamentarischen Linken zur marxistischen Theorie, müsste man zuvor eigentlich erst nach den »Verhältnissen der Verhältnisse« fragen, also danach, wie es um »die Linke« bestellt ist und wer sich dazu zählen ließe. Für ein ähnliches Dilemma im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis ist von Karl Marx der Satz überliefert: »Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein ›Marxist‹ bin!« Angemessener als von der jungen Linken im Ganzen zu sprechen, ist es also wohl, den Umgang mit marxistischer Theorie in heutigem linkem Denken – das als heterogen und pluralistisch zu sehen ist – zu untersuchen.
Die Frage ist, ob neben der Tatsache, dass marxistische Theorie dieses Denken, historisch betrachtet, natürlich geformt und durchsetzt hat, auch ein neuer Korpus an marxistischer Kritik entstanden ist. Für den marxistischen Kulturtheoretiker und Literaturwissenschaftler Terry Eagleton ist dies unter den gegebenen historischen Bedingungen kaum zu erwarten. Radikale Theoriebildung nimmt er stattdessen vor allem in den Feldern des Postkolonialismus und Feminismus wahr.
Der Historiker und Kulturwissenschaftler Philipp Felsch verortet linke Text- und Theoriebesessenheit zeitlich in seinem Buch Der lange Sommer der Theorie in den 60er bis 90er Jahren, in denen zuerst Marx, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas verschlungen und später Denker des Poststrukturalismus wie Jean-François Lyotard und Gilles Deleuze rezipiert wurden. Tom Hayden, einer der wichtigsten Vordenker der Neuen Linken in den USA, wird mit den Worten zitiert, die Neue Linke sei »more on feel than theory«. Aktion, Demonstration und Kampagnen also, statt Text und Theorie.
Sind junge Linke also theoriefaul? Oder hat Marx ihnen einfach nichts mehr zu sagen? An den großen Fragen kann es nicht liegen: Begriffliche Mittel, um die Logik der heutigen Herrschaftsverhältnisse in der Produktion, auf den Finanzmärkten und in der Ökologie zu verstehen, werden gebraucht. Wie kann es sein, dass der kapitalistische Westen Ressourcen angehäuft hat und trotzdem unfähig scheint, Armut, Ausbeutung und Ungleichheit zu überwinden? Muss privater Wohlstand wirklich Hand in Hand mit öffentlicher Armut gehen? Die – umstrittene – Occupy-Bewegung, die im New Yorker Zuccotti Park »Wir sind die 99 %!« skandierte, schien sich genau mit diesen Fragen zu beschäftigen. Allerdings hatten die Demonstranten mit den Arbeitern im engeren Sinne wohl eher wenig gemein. Stattdessen waren viele Projektangestellte, Leiharbeiterinnen oder Dienstleister unter ihnen, die der Verdruss am Kapitalismus, an den Parteien und der Politik einte. Das »working subject« kann heute ja auch einen hochqualifizierten Uni-Abschluss besitzen.
Obwohl die Welt seit Marx also auf andere Weise komplizierter geworden ist, finden sich heute insbesondere innerhalb der internationalen globalisierungskritischen Bewegung – wie bei Attac und Occupy – Bezüge auf marxistisches Denken. Karl Marx und auch Friedrich Engels werden zumeist als Kritiker des Globalisierungsprozesses in Beschlag genommen, obwohl man argumentieren könnte, dass die Globalisierung für beide eher als dialektischer Prozess zu verstehen war: Der Fortschritt arbeitet an seinem eigenen Untergang, indem er Ideen und Akteure produziert, die fortschrittlicher sind als er. Die Globalisierung wird von der Bourgeoisie angetrieben, aber die Bourgeoisie wird durch sie auch bedroht. Hier liegt die »verwundbare Achillesferse der kapitalistischen Produktion« (Friedrich Engels in einem späteren Vorwort zu seinem Frühwerk Lage der arbeitenden Klasse in England).
Neben globalisierungskritischen Bewegungen wird auch im Bereich feministischer Positionen wieder vermehrt mit marxistischen Ideen gearbeitet. So durchdenken einige der heutigen feministischen Theoretikerinnen das Verhältnis von Feminismus und Marxismus neu und arbeiten sich hierbei auch an der großen Frage ab, wie gut beide Theoriefelder überhaupt vereinbar seien. Die Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser formuliert es so: »Wie lassen sich angesichts der globalen kapitalistischen Krise der Kampf gegen die Vorherrschaft des Mannes mit den Kämpfen gegen den Neoliberalismus verbinden?«
Das Verhältnis zwischen Feminismus und Sozialismus umschrieb Heidi Hartmann, Gründerin und Präsidentin des Institute for Women’s Policy Research (IWPR) 1979 mit dem Bild einer »unglücklichen Ehe«. Die Argumentation, dass der Feminismus weniger bedeutend sei als die Klassenfrage, führe nach ihrer Wahrnehmung dazu, dass in der marxistischen Analyse feministische Fragen absorbiert würden. Für sie waren die Kategorien des Marxismus geschlechtsblind.
Eine der Thesen der Philosophin Frigga Haug lautete, dass »Geschlechterverhältnisse« auch »Produktionsverhältnisse« seien. Ausgedrückt werden sollte hierdurch, dass »Geschlechterverhältnisse konstituierender Teil aller sozialen, politischen und auch wirtschaftlichen Beziehungen sind«. Bei ihrer Analyse geht es dabei »nicht um Mann-Frau-Beziehungen oder um gleichen Lohn oder gleiche Positionen, sondern um eine umfassende Gesellschaftsanalyse«. Ihre Gedanken erleben heute ein Revival: Wenn von der Notwendigkeit einer »Care-Revolution« gesprochen wird, dann suchen Feministinnen die Grundlage für Herrschaft nicht mehr nur in den Betrieben und Fabriken, sondern auch im Bereich der unbezahlten Arbeit, wie der Hausarbeit. Grundlage hierfür ist, dass die Reproduktion der Arbeitskraft als Grundlage für die Produktion angenommen wird. Die italienische Feministin Mariarosa Dalla Costa argumentiert, dass die Frage, wer die Arbeitskraft reproduziert – wer also kocht, Kinder erzieht und die Wohnung putzt – politische und ökonomische Bedeutung haben sollte.
An diesem einstigen »blinden Fleck« setzen heutige feministische Theoretikerinnen an, wenn sie marxistische und feministische Ideen zusammenbringen und die »Frauenfrage« zur feministischen Frage machen wollen.
George Orwell schrieb in den 30er Jahren, es spreche nicht gerade für den Sozialismus, dass man sich unter einem Sozialisten oft den »intellektuellen, Traktate verfassenden Typ mit seinem Pullover, dem wirren Haar und den Marx-Zitaten« vorstelle. Hinzu komme noch der Eindruck, dass »die bloßen Worte Sozialismus und Kommunismus mit magnetischer Kraft jeden Fruchtsaftapostel, Nudisten, Sandalenträger, Sexverrückten, Quäker, Naturheil-Pfuscher (…) wie magisch anziehen«.
Zum Glück lässt sich festhalten, dass Marx heute nicht nur als Chiffre und Projektionsfläche dient, sondern auch Anknüpfungspunkte für neue Denkmodelle bietet. In der jungen Linken machen gerade feministische Positionen und Globalisierungskritiker marxistische Theorie fruchtbar für die Suche nach dem guten Leben.
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