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© flickr.com, Pascal Willuhn

Warum die Coronakrise die Systemfrage stellt Kapitalismus am Kipppunkt

In seinem jüngsten Buch Ist heute schon morgen? stellt der bekannte bulgarische Politologe Ivan Krastev die These auf, dass die Corona-Pandemie aufgrund ihrer Ereignislosigkeit kaum eine Erinnerung im kollektiven Gedächtnis hinterlassen werde. Seine Referenz dafür ist die Spanische Grippe, die bis zu fünfmal mehr Menschen das Leben gekostet hat als der Erste Weltkrieg und dennoch verhältnismäßig wenig bekannt ist. Dabei verkennt Krastev allerdings den fundamentalen Unterschied zur heutigen Lage: Die Spanische Grippe folgte direkt auf den Weltkrieg als den Inbegriff des Ausnahmezustandes und eines millionenfachen Mordens und musste deshalb fast wie ein »normales« Sterben wirken. Dagegen erleben wir – zumindest im reichen Westeuropa – die Coronakrise nach der Erfahrung von 75 Jahren Frieden und Wohlstand als eine historische Zäsur, nämlich als den ersten radikalen Einschnitt in die westliche Konsum- und Wachstumsgeschichte.

In einer ersten Zwischenbilanz kann man eines bereits feststellen: Ohne den Virus wäre eine der größten Schweinereien der industriellen Moderne immer noch ungestört im Gange, nämlich die Ausbeutung von Mensch und Tier in den gigantischen Fleischfabriken. Was »normale Zeiten« nicht geschafft haben, erledigte der Virus in wenigen Wochen: Erst als die Fleischindustrie zum Superspreader wurde, richtete sich der Fokus endlich auf die unhaltbaren Zustände bei Tönnies und Co.

Die eigentliche Chance durch Corona ist allerdings noch weit grundsätzlicherer Natur. Im Kern stellt die Seuche unser gesamtes Konsum- und Lebensmodell infrage. Oder genauer gesagt: unser ganzes Leben als Konsummodell.

Unser Leben als Konsummodell

»Ich konsumiere – und zwar möglichst viel und billig –, also bin ich«, lautet das Leitmotiv des modernen homo consumens. Doch Corona hat das Primat des Konsums faktisch ausgehebelt – mit erheblichen Folgen: Zum ersten Mal sind die deutschen Emissionen nicht mehr doppelt so hoch wie zulässig, entspricht unser ökologischer Fußabdruck den vom Pariser Klimaabkommen im Jahr 2015 festgelegten Anforderungen. Nur auf diese Weise könnte die globale Erwärmung doch noch auf unter zwei Grad stabilisiert werden. Insoweit bedeuten die zurückliegenden Monate – bei aller Tragik angesichts der vielen Toten – tatsächlich den Ausbruch aus der fatalen alten »Normalität« einer immer radikaleren Natur- und Umweltzerstörung.

Aber eine neue, nachhaltige Normalität wurde durch diesen globalen Ausnahmezustand noch lange nicht geschaffen. Die Grundfrage lautet daher: Kann ein derart kurzfristig durch Corona geändertes Konsumverhalten auf Dauer gestellt werden – und wenn ja, wie?

Spätestens an diesem Punkt werden die Dilemmata des global integrierten Kapitalismus deutlich. Denn zugleich erleben wir dank Corona in aller Dramatik, in welch fatalen Pfadabhängigkeiten sich die gesamte Weltwirtschaft bewegt. Wenn der reiche Norden nicht billige Kleidung im Überfluss konsumiert, leiden als erstes die (zumeist weiblichen) Produzenten in den südlichen Billiglohnländern, denen ihre gesamte Existenzgrundlage abhandenkommt. Und wenn die deutschen Reiseweltmeister nicht die schönsten Strände der Welt heimsuchen, erhalten die in der Tourismusindustrie beschäftigten Einheimischen nicht die erforderlichen Löhne, um anschließend auch deutsche Industrieprodukte erwerben zu können. Auch deshalb werden uns spätestens im Herbst die gewaltigen ökonomischen Folgeschäden von Corona einholen, wenn nämlich zahlreiche deutsche Betriebe Konkurs anmelden müssen.

Zugleich müssen wir jedoch zur Kenntnis nehmen, dass die globale Umwelt schon lange »Konkurs« zu machen droht. Der große Unterschied: Wenn die klimatischen Kipppunkte erreicht sind, sind die Folgen – anders als in der Ökonomie – irreversibel; dann wird die Heißzeit nicht mehr erfolgreich zu bekämpfen sein. Daran kann auch ein reichlich durchwachsener Sommer bei uns nichts ändern, wenn zugleich in Sibirien der Permafrostboden immer schneller auftaut.

Hier zeigt sich, dass die über Jahrhunderte praktizierte Logik der Externalisierung der industriellen Folgeschäden endgültig an ihre ökologischen Grenzen gekommen ist. Corona verdeutlicht damit die doppelte Krise des globalkapitalistischen Produktions- und Konsummodells.

Mund-Nasen-Maske als »Gierbremse«

Das gilt erstens für dessen Funktionskrise, dass nämlich alle Beteiligten als Konsumenten und Produzenten aufs Engste voneinander abhängen und der Ausfall eines jeden das gesamte System infrage stellt. Heute, so die perverse Logik, arbeiten wir nicht primär, um zu konsumieren, sondern wir konsumieren, um weiter arbeiten zu dürfen – um nämlich durch unseren Konsum den globalisierten Kapitalismus am Laufen zu halten und damit auch unseren eigenen Arbeitsplatz zu garantieren.

Daran hängt zweitens die Krise unseres eigenen Selbstverständnisses. Wer sind wir und wer wollen wir sein, jenseits der bloßen Konsumentenexistenz? Und was wäre vor diesem Hintergrund die richtige, nachhaltige Antwort auf die Krise?

Die Antwort der Bundesregierung ist jedenfalls klar: Sie erklärt das Shoppen faktisch zur ersten Bürgerpflicht. Indem wir mithilfe milliardenschwerer Investitionen und Steuernachlässe den nationalen und europäischen Konsummotor anwerfen, soll auch die deutsche Wirtschaft wieder in Schwung kommen. Die Botschaft ist eindeutig: Wir müssen die Wirtschaft aus der Krise herauskonsumieren. Mit dem Konsumargument wird inzwischen sogar die Maskenpflicht infrage gestellt – weil nämlich die Maske die Kauflaune der Menschen dämpfe und als »Gierbremse« wirke, so der Marktforscher Stephan Grünewald.

Auf diese Weise betreiben wir die Rückkehr zu einer Normalität, die faktisch keine ist. Stattdessen gehört das Konsumieren als Lebensform auf den Prüfstand. Durch Corona wird der homo consumens und damit unser aller Selbstverständnis radikal hinterfragt: Auf was mussten wir in den vergangenen Monaten wirklich verzichten, indem wir weniger konsumiert haben? Was hat uns tatsächlich gefehlt? Damit ist die alte, zeitweilig unter Totalitarismusverdacht stehende Frage zurück auf der Agenda: Was sind wahre menschliche Bedürfnisse – und was bloß warenförmige, falsche bzw. künstlich erzeugte? Genau diese Unterscheidung hatte Erich Fromm unter Rückgriff auf den frühen Karl Marx als die bis heute entscheidende kenntlich gemacht.

Hinter diese, durch Corona aufgeworfenen Fragen dürfen wir auf keinen Fall zurückfallen, wenn wir die Krise als Chance begreifen wollen. Der »Konsumbürger« – eigentlich ein Widerspruch in sich – ist der Inbegriff einer egoistischen Individualisierung. Dagegen gilt es unsere Sozialpflichtigkeit neu zu entdecken. Und zwar nicht, wie derzeit massiv forciert, als Konsumpatriotismus gegenüber dem eigenen Land (»Reisen Sie in Deutschland!«, »Kaufen Sie deutsch!«), sondern in erster Linie gegenüber einer globalen Umwelt, die durch das westliche Konsummodell radikal gefährdet wird.

Hier aber zeigt sich das sozial-psychologische Dilemma: In Umfragen erklären die Menschen regelmäßig ihre Bereitschaft, ökologisch zu handeln. Zugleich sind noch immer die wenigsten bereit, ihr eigenes Konsumverhalten tatsächlich nachhaltig zu ändern.

Zu Beginn der Coronakrise wurde, getreu den Anforderungen der Epidemiologen, Prävention zur ersten Bürgerpflicht erklärt – in der Klimakrise als der eigentlichen Jahrhundertfrage muss das Gleiche gelten. Im Grundgesetz heißt es bekanntlich, Eigentum verpflichtet. Das betrifft aber nicht nur unser privates, sondern auch unser kollektives »Eigentum«, die globale Umwelt. Ihr gegenüber sind wir primär verpflichtet, da wir alle auf ihren Erhalt angewiesen sind. Dafür müssen wir raus aus den alten Pfadabhängigkeiten und völlig neue Wege beschreiten. Nur dann könnte sich die Coronakrise tatsächlich als die viel beschworene Chance erweisen.

In der Aufwertung der Fürsorge und des Care-Gedankens, in stärkerer Regionalisierung und der Entdeckung des Nahbereichs liegen dafür konkrete Ansatzpunkte. Was aber folgt langfristig daraus, wenn wir angesichts der enormen Zunahme von Homeoffice nicht mehr alle gleichzeitig ins Büro müssen? Das ist derzeit noch eine offene Frage. Erkennen wir den Gewinn an Zeit und Raum in den von Autos befreiten Innenstädten, die damit wieder zu Orten des sozialen Lebens statt des reinen Arbeitens werden könnten? Für viele ist jedenfalls das Zweitauto, mit dem der eine Teil der Familie zur Arbeit fuhr, derzeit überflüssig geworden. Stellt sich gar am Ende die Frage, ob wir den Individualverkehr überhaupt noch brauchen? Oder erleben wir den gegenteiligen Effekt: Werden die Innenstädte noch voller werden, weil der Individualverkehr einen neuen Boom erfährt – aus Angst vor Corona in den öffentlichen Verkehrsmitteln?

Die Wende zum Weniger ist möglich

Corona könnte also in der Tat eine Zeitenwende bedeuten. Die Krise hat gezeigt: Die Wende zum Weniger ist möglich. Der praktizierte Konsumverzicht bleibt die bisher wichtigste Erfahrung. Und eine weitere Entmaterialisierung ist denkbar: Denn dass zugleich die Erwerbsarbeit ihre Rolle als Lebensmittelpunkt eingebüßt hat und die Trennung von Familie und Beruf aufgehoben wurde, war für viele ein enormer Gewinn an Lebenszeit und ‑qualität, trotz aller Komplikationen und Anstrengungen (insbesondere für Eltern durch die Schließung der Kitas und Schulen).

Dieser experimentell erprobte neue Lebensstil gibt jedoch allein noch keine hinreichende Antwort auf die durch Corona gestellte Systemfrage: Wie kann eine Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren? Wie kommen wir raus aus der im globalisierten Kapitalismus angelegten Ausbeutung von Mensch und Natur? Hier muss eine Antwort auf Corona wie auf die Klimakrise darin bestehen, endlich zu gerechteren Handelsbeziehungen zu kommen und für die Waren des Südens faire Preise zu zahlen, die zugleich die ökologische Wahrheit ausdrücken. Auch dafür müssen wir von unserem alten Konsummodell Abstand nehmen.

Seit der Kolonialzeit profitiert der globale Norden von den ungleichen internationalen Handelsbeziehungen, den terms of trade: Der Süden liefert billige Rohstoffe und kauft teure Industrieprodukte aus dem Norden. In neueren Zeiten hinzugekommen – so die besonders bittere Ironie der Geschichte – ist der Export von Billigfleisch aus dem Norden in den Süden, wodurch lokale Handelsmärkte weitgehend zerstört werden. Dem globalen Süden durch faire Preise und Handelsbeziehungen endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist daher das eigentliche Gebot einer überzeugenden Dekolonialisierung. Übrigens auch im ureigenen Interesse: Denn solange unser ressourcenverschlingendes Konsumverhalten das globale Maß aller Dinge bleibt, werden wir die Klimakrise nie in den Griff bekommen.

Die entscheidende Frage, um auf die Eingangsthese von Ivan Krastev zurückzukommen, lautet heute, ob und inwieweit die Coronakrise als eine Zeit des erzwungenen Stillstands Mentalitäten tatsächlich nachhaltig prägen kann. Die einschneidenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts waren solche der radikalen Beschleunigung, von den großen Kriegen bis zu den ideologischen Kulturkämpfen, von den 30er Jahren bis 1968. Im 21. Jahrhundert müsste dagegen die mentale wie ökonomische Entschleunigung das Ziel sein, eine neue Form des Wirtschaftens als nachhaltige Steady-state Economy, ohne Wachstum also über einen längeren Zeitraum. Sozialpflichtigkeit erweist sich heute im zu Hause Bleiben und nicht in der Welteroberung, ob militärisch oder massentouristisch. Anders ausgedrückt: Was wir heute brauchen, sind nicht neue Roaring Twenties, sondern Boring Twenties.

Wenn es uns tatsächlich gelänge, aus einer Ära der permanenten Mobilisierung und Beschleunigung in einen Zustand der Verlangsamung und Beständigkeit einzutreten, dann könnte die Coronakrise tatsächlich zum Anfang einer neuen, besseren Normalität werden. Dafür müssen wir allerdings dem Mechanismus der Verdrängung und dem starken Sog zurück in die alte »Normalität« eine andere, neue Leitidee von Leben und Konsumieren entgegensetzen. Nur dann könnte aus dem Kollateralnutzen der Krise – dem Tausch von materiellem Wohlstand gegen freie Zeit – tatsächlich ein nachhaltiger Wertewandel erwachsen. Und damit würde die durch die Coronakrise geschenkte Zeit nicht zur verschenkten Zeit.

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