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Kapitalismus und Ungleichheit – kein Schicksal

Die erhebliche Zunahme sozialökonomischer Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten, welche heute ein zum Teil alarmierendes Ausmaß erreicht hat, ist nahezu unumstritten – sofern man die Ungleichheit an der Verteilung von Vermögen und Einkommen misst. Die mit demokratischen Ansprüchen schwer zu vereinbarende Zunahme von Ungleichheit als Resultat des sich weltweit ausbreitenden Kapitalismus zu sehen, ist eine weitverbreitete Überzeugung. Zu den gewichtigsten Einwänden, die gegen den Kapitalismus erhoben werden, gehört, dass er die Ungleichheit verschärfe. Diese Variante der Kapitalismuskritik hat eine lange Tradition und wird durch neue Forschungen unterstützt.

Karl Marx machte die Ungleichheit zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu einem Eckstein seiner Kapitalismusanalyse, seiner leidenschaftlichen Sozialkritik und Revolutionsprognose, die von der Geschichte allerdings nicht bestätigt wurde. Nicht »Begehr«, sondern ausschließlich »kaufkräftige Begehr« wird im Kapitalismus befriedigt, wie Max Weber wusste. Darin sah er eine grundlegende Irrationalität des Kapitalismus. Joseph Schumpeter unterstrich, dass es im Kapitalismus immer Gewinner und Verlierer gebe. Deshalb könne der Kapitalismus auch seiner Ansicht nach trotz all seiner Stärken niemals populär werden. Fernand Braudel, einer der wenigen Historiker, die zur Entwicklung des Kapitalismusbegriffs originell beigetragen haben, beschränkte seine Definition des Kapitalismus auf das oberste Stockwerk der frühneuzeitlichen Marktwirtschaft: auf die Welt der reichen und einflussreichen Kaufleute und Bankiers mit enger Verbindung zur politischen Macht, in Abgrenzung von allen anderen. Ungleichheit ist damit Teil seiner Definition. Thomas Piketty hat in seinem einflussreichen Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert versucht, die innere Verbindung zwischen der Ausbreitung des Kapitalismus und der Verschärfung der Ungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert zu zeigen. Der Nobelpreisträger Angus Deaton behauptet in Der große Ausbruch von 2017, dass der Fortschritt in der Moderne mit zunehmender sozialer Ungleichheit zu bezahlen sei.

Es spricht viel für diese Sicht. Dennoch hat sie ihre Grenzen und lenkt davon ab, worauf es ankommt: weniger auf den Kapitalismus als auf die Art, wie die verschiedenen Gemeinwesen mit ihm umgehen. Den wichtigsten Beitrag zu dieser erst anlaufenden Debatte hat Hartmut Kaelble mit seiner Geschichte der sozialen Ungleichheit in Europa vom frühen 20. Jahrhundert bis heute vorgelegt.

Gemäß der Umfrageforschung ist mehr oder weniger Ungleichheit beim Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und angemessenem Wohnraum für das Wohlbefinden und die Gerechtigkeitserwartungen der Menschen oft wichtiger als die ungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen. Dabei laufen nach Kaelble die Entwicklungen in diesen unterschiedlichen Dimensionen sozialer Ungleichheit keineswegs immer parallel. So sind in den meisten europäischen Gesellschaften die Chancen des Zugangs zu Gesundheitsversorgung und Bildung in den letzten Jahrzehnten gleicher geworden, während die Vermögens- und Einkommensunterschiede wuchsen. Erst recht wird die innere Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung von Ungleichheit deutlich, wenn man weitere Dimensionen in den Blick nimmt, wie soziale Aufstiegschancen und -gefahren, politische Teilhabe oder die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Kaelble geht auf die unterschiedlichen Dimensionen im historischen Wandel auf der Basis der breit gefächerten Forschungsliteratur ein. Dadurch und weil er als Historiker genauer hinschaut als die meisten Sozialwissenschaftler, zeichnet er ein anderes, zutreffenderes Gesamtbild der langfristigen Entwicklung.

An der Chronologie zeigt sich dies besonders deutlich. Entsprechend der herkömmlichen Sicht nahm die Ungleichheit mit der Durchsetzung des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert langfristig zu. Diese beständige Verschärfung der Ungleichheit sei nur in der Periode der Weltkriege und der unmittelbaren Nachkriegszeit unterbrochen worden, nicht zuletzt »dank« der riesenhaften Vermögenszerstörungen in jenen Jahrzehnten. Seit den späten 70er Jahren sei dagegen der Langzeittrend Zunahme der Ungleichheit wieder fortgesetzt worden. Kaelble zeichnet ein anderes Bild: Die in der Tat im 19. Jahrhundert stark verschärfte Ungleichheit nahm in wichtigen Hinsichten schon in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg nicht weiter zu. Während des Ersten Weltkriegs und in der Weltwirtschaftskrise um 1930 nahm die Ungleichheit zwischen den sozialen Schichten in den meisten Hinsichten gerade nicht ab, sondern zu. Zudem weist er darauf hin, dass der Zuwachs an sozialer Gleichheit im Zweiten Weltkrieg mit riesigen Zerstörungen und viel menschlichem Leid verbunden war: Nicht jede Abnahme von Ungleichheit bedeutet also zugleich Fortschritt.

Im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts nahm die soziale Ungleichheit in Europa ab, die Wirtschaft wuchs beschleunigt und ein immenser Aufschwung des Wohlstands war zu verzeichnen. Kaelble zeigt, wie sehr dies auch aus dem gleichzeitigen Aufstieg sozialstaatlicher Politik resultierte. Denn dies waren Jahrzehnte hoher Steuern und kräftiger Transferzahlungen und der Kalte Krieg steigerte die Reformbereitschaft im Westen. Der Wiederanstieg der Ungleichheit seit den 80er Jahren hatte zweifellos mit der Deregulierung, der Globalisierung und der tiefgreifenden Finanzialisierung des Kapitalismus zu tun sowie mit seiner Wende hin zum »Neoliberalismus«, soweit diese stattfand. Das zeichnet Kaelble ebenso nach wie die damit verbundene Zunahme der (relativen) Armut in Verbindung mit der zeitweise grassierenden Arbeitslosigkeit, die als Motor zunehmender Ungleichheit kaum überschätzt werden kann. Dennoch zeigt der Autor auch, dass seit etwa 2005 die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland nicht weiter gewachsen ist, und vor allem, dass die europäischen Gesellschaften heute viel weniger ungleich sind, als sie es vor 100 Jahren waren. Während damals die USA gegenüber Europa einen deutlichen Gleichheitsvorsprung besaßen, ist es heute umgekehrt. Europa ist in der Gegenwart weniger von innergesellschaftlicher Ungleichheit durchpflügt als die Vereinigten Staaten, China oder die Türkei. Allerdings haben die Unterschiede zwischen den Regionen in Europa zugenommen, zwischen Nord und Süd sowie zwischen West und Ost – und das trotz der europäischen Integrationspolitik der zurückliegenden Jahrzehnte.

Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten ist ein weiterer Befund besonders wichtig, den zuletzt Branko Milanović überzeugend dargelegt hat: Zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 20. Jahrhunderts hat der sozialökonomische Abstand zwischen dem Westen und anderen Weltregionen dramatisch zugenommen – einerseits als Folge der zwar im Westen, aber anderswo nur zögernd oder gar nicht stattfindenden Industrialisierung und andererseits als Folge von Kolonialisierung und Imperialismus. Diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahrzehnten umgekehrt. Andere Teile der Welt holen auf, vor allem Ostasien. Der Vorsprung des Westens schmilzt. Als Folge der Globalisierung – auch des Kapitalismus – findet weltweit zum Teil eine Umverteilung statt, die keineswegs als ungerecht eingestuft werden kann und viel von dem Missmut erklärt, den wir in den westlichen Gesellschaften gegenwärtig erleben.

Insgesamt erweist sich die innere Verbindung zwischen Kapitalismus und Ungleichheit als ungemein vieldeutig und unterschiedlich gestaltbar. Wachsende Ungleichheit ist kein unvermeidliches Schicksal in Zeiten des sich weltweit ausdehnenden Kapitalismus. Es kommt vielmehr darauf an, wie Kapitalismus politisch, kulturell und sozial eingebettet wird und was wir in unseren Gemeinwesen aus ihm machen.

Hartmut Kaelble: Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Campus, Frankfurt am Main 2017, 211 S., 19,95 €.

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